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BFH - Entscheidung vom 23.08.2016

V R 26/14

Normen:
§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009
§ 64 Abs 2 S 1 EStG 2009
Art 67 S 1 EGV 883/2004
Art 60 Abs 1 S 2 EGV 987/2009
EStG VZ 2011
EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1
EStG § 63 Abs. 1
EStG § 64 Abs. 2 S. 1
VO Nr. 883/2004 Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i
VO Nr. 883/2004 Art. 1 Buchst. i Nr. 1
VO Nr. 883/2004 Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j
VO Nr. 883/2004 Art. 11 Abs. 3
VO Nr. 987/2009 Art. 60 Abs. 1

BFH, Urteil vom 23.08.2016 - Aktenzeichen V R 26/14

DRsp Nr. 2017/2315

Kindergeldberechtigung dauernd getrennt lebender Eltern bei ständigem Aufenthalt eines Elternteils im EU-Ausland

NV: Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an BFH Urteil vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134 , BStBl II 2016, 612 ).

1. Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009, wonach bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004 die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als würden alle Beteiligten —insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt— unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats (hier: Deutschland) fallen und dort wohnen, kann dazu führen, dass der Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht (EuGH–Urteil vom 22. Oktober 2015 C–378/14, EU:C:2015:720, DStRE 2015, 1501 ). Kann wegen der —nicht nur räumlichen— Trennung der Eltern nicht fingiert werden, dass diese in Deutschland in einem gemeinsamen Haushalt leben, ist nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG der Elternteil kindergeldberechtigt, der das Kind in seinem Haushalt aufgenommen hat. 2. In einem derartigen Fall steht der Kindergeldanspruch auch dann nicht dem in Deutschland lebenden Elternteil zu, wenn der im EU-Ausland lebende Elternteil keinen Antrag auf Kindergeld gestellt hat.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 4. April 2014 14 K 3663/11 Kg aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Normenkette:

EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1 ; EStG § 63 Abs. 1 ; EStG § 64 Abs. 2 S. 1; VO Nr. 883/2004 Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i; VO Nr. 883/2004 Art. 1 Buchst. i Nr. 1; VO Nr. 883/2004 Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j; VO Nr. 883/2004 Art. 11 Abs. 3; VO Nr. 987/2009 Art. 60 Abs. 1;

Gründe

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist polnische Staatsbürgerin, die in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) lebt und zunächst nichtselbständig tätig, später arbeitslos war. Ihr 1993 geborener Sohn J lebte im Streitzeitraum von Januar bis September 2011 im Haushalt des von der Klägerin geschiedenen Kindsvaters in Polen und besuchte dort eine Schule. Der Kindsvater ist nichtselbständig tätig. Polnische Familienleistungen bezog er nicht.

Nachdem die Rechtsvorgängerin der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) zunächst Kindergeld für J festgesetzt hatte, hob sie die Festsetzung mit Bescheid vom 21. Dezember 2010 mit Wirkung ab Januar 2011 auf, da der Kindsvater einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld habe. Den dagegen eingelegten Einspruch der Klägerin wies sie mit Einspruchsentscheidung vom 15. September 2011 zurück. Der daraufhin erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit Urteil vom 4. April 2014 14 K 3663/11 Kg statt. Dagegen wendet sich die Familienkasse mit der Revision.

Der Senat hat das Verfahren mit Beschluss vom 18. November 2014 bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache Trapkowski, C-378/14, ausgesetzt. Nach Veröffentlichung des EuGH-Urteils Trapkowski vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst —DStRE— 2015, 1501) hat der Senat das Verfahren wieder aufgenommen und den Beteiligten Gelegenheit gegeben, sich zu dem EuGH-Urteil zu äußern. Die Familienkasse ist der Auffassung, der EuGH habe ihren Rechtsstandpunkt bestätigt.

Die Familienkasse beantragt,

das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Revision zurückzuweisen.

Auch die Klägerin sieht sich durch die Entscheidung des EuGH in ihrer Rechtsauffassung bestätigt. Der EuGH habe festgestellt, dass das Unionsrecht nur eingreife, wenn ein Anspruch sowohl auf deutsche als auch auf polnische Familienleistungen bestehe. Im Streitfall bestehe aber kein Anspruch auf polnische Familienleistungen.

II. Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des FG-Urteils und Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Das FG-Urteil verletzt § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung ( EStG ). Danach hat die Klägerin keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes.

1. Die Klägerin ist zwar kindergeldberechtigt, weil sie in Deutschland lebt und Mutter eines Sohnes ist, der seinen Wohnsitz in Polen hatte (§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 , Satz 3 EStG ) und für den auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres (vgl. § 32 Abs. 3 EStG ) ein Anspruch auf Kindergeld besteht, da er eine Schule besuchte (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG ). Dem Anspruch steht nicht entgegen, dass die Klägerin Leistungen nach dem zweiten Buch Sozialgesetzbuch bezieht (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs —BFH— vom 28. April 2016 III R 40/12, III R 50/12 und III R 3/15, juris).

Die Klägerin hat aber keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes; denn mit Blick auf das Unionsrecht ist nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG der Kindsvater vorrangig anspruchsberechtigt.

a) Nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG wird bei mehreren Berechtigten das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.

b) Eine Person hat nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 883/2004) —wie hier die Klägerin nach Art. 2 Abs. 1 VO Nr. 883/2004— Anspruch auf Familienleistungen (wie hier Kindergeld nach Art. 1 Buchst. z, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004) nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats (hier: Deutschland gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. c und e VO Nr. 883/2004), auch für Familienangehörige, die zwar in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, die aber so behandelt werden, als wohnten sie im zuständigen Mitgliedstaat. Denn bei der Anwendung von Art. 67 und 68 VO Nr. 883/2004 ist nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle Beteiligten —insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt— unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats (hier: Deutschland) fallen und dort wohnen (dazu eingehend EuGH-Urteil Trapkowski, EU:C:2015:720, DStRE 2015, 1501 ).

Diese Fiktion führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (vgl. dazu im Einzelnen BFH-Urteil vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134 , BStBl II 2016, 612 ).

c) So verhält es sich im Streitfall: J lebte im Haushalt des ebenfalls kindergeldberechtigten Kindsvaters, so dass die Klägerin keinen Anspruch auf Auszahlung des Kindergeldes hat. Anhaltspunkte, dass der Kindsvater ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer ist (vgl. § 62 Abs. 2 EStG ), bestehen nicht.

Entgegen der Auffassung der Klägerin ist Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 bereits über Art. 67 VO Nr. 883/2004 anwendbar und setzt keine Konkurrenzsituation nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 voraus (EuGH-Urteil Trapkowski, EU:C:2015:720, DStRE 2015, 1501 , Rz 35 ff.; BFH-Urteil vom 10. März 2016 III R 62/12, BFHE 253, 236 , BStBl II 2016, 616 , Rz 21).

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO .

Vorinstanz: Finanzgericht Münster, vom 04.04.2014 - Vorinstanzaktenzeichen 14 K 3663/11