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BVerfG - Entscheidung vom 21.10.2011

1 BvQ 33/11

Normen:
GG Art. 6 Abs. 1
GG Art. 6 Abs. 2 Abs. 1
BVerfGG § 32 Abs. 1
KiEntfÜbk Haag Art. 12
KiEntfÜbk Haag Art. 3 Abs. 1 Buchst. b
GG Art. 6 Abs. 1
GG Art. 6 Abs. 2 Abs. 1
BVerfGG § 32 Abs. 1
HKÜ Art. 12
HKÜ Art. 3 Abs. 1 Buchst. b)
BVerfGG § 32 Abs. 1
HKÜ Art. 3 Abs. 1 Buchst. b)
GG Art. 6

BVerfG, Beschluss vom 21.10.2011 - Aktenzeichen 1 BvQ 33/11

DRsp Nr. 2022/8214

Beeinträchtigung des Kindeswohls durch den mehrfachen Wechsel der unmittelbaren Bezugspersonen und des Wohnumfeldes in wesentlichem Maße; Anordnung der Rückführung eines Kindes nach Norwegen

Ein mehrfacher Wechsel der unmittelbaren Bezugspersonen und des Wohnumfeldes beeinträchtigt das Kindeswohl in wesentlichem Maße.

Tenor

1.

Die Vollziehung des Beschlusses des Oberlandesgerichts Celle vom 30. September 2011 - 18 UF 107/10 - wird bis zur abschließenden Entscheidung über die noch nachzureichende Verfassungsbeschwerde durch das Bundesverfassungsgericht, längstens bis zum 30. November 2011, ausgesetzt.

2.

Der Antrag der Antragsteller auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts wird abgelehnt.

3.

...

Normenkette:

BVerfGG § 32 Abs. 1 ; HKÜ Art. 3 Abs. 1 Buchst. b); GG Art. 6 ;

[Gründe]

I.

Die Antragsteller wenden sich im Wege eines isolierten Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung unter Ankündigungder Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gegen die Anordnung einer Kindesrückführung nach Art. 3 in Verbindung mit Art. 12HKÜ.

1. Die Antragsteller sind Eltern einer 1999 geborenen Tochter. Die Familie besitzt die norwegische Staatsangehörigkeit, Mutterund Tochter haben daneben noch die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Familie lebte ursprünglich in Norwegen. Am 9. Februar2010 entzog der Bezirksausschuss für Kinder-, Jugend- und Sozialhilfe in Oslo den Antragstellern die Personensorge für ihreTochter und übertrug sie auf das Jugendamt. Weiter ordnete er die Unterbringung des Kindes in einer besonders qualifiziertenPflegefamilie an. Noch bevor der Beschluss vollzogen werden konnte, reisten die Antragsteller am 12. Februar 2010 aus Norwegenaus und übersiedelten nach Deutschland, wo sie seitdem leben.

2. Das Oberlandesgericht verpflichtete die Antragsteller mit Beschluss vom 30. September 2011 zur Rückführung des Kindes nachNorwegen bis zum 21. Oktober 2011. Dabei ging das Oberlandesgericht davon aus, dass die Voraussetzungen für eine Rückführungnach Art. 12 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchstabe b HKÜ vorlägen und gegen die Rückführung sprechende, schwerwiegendeGründe im Sinne des Art. 13 HKÜ nicht ersichtlich seien. Es verwies darauf, dass es nach der Rückführung Sache der zuständigennorwegischen Behörden sei, aufgrund der aktuellen Entwicklung des Kindes bei seinen Eltern über die von den Antragstellernbei ihnen beantragte Rückübertragung des Sorgerechts zu entscheiden.

3. Die Antragsteller beantragen den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit der Begründung, die angeordnete Rückführung ihresKindes nach Norwegen und die bei einer Rückführung des Kindes zu erwartende Trennung des Kindes von ihnen verletze ihre Elternrechteaus Art. 6 GG . Sie beantragen ferner Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten; eine Erklärung überihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse haben sie nicht vorgelegt.

II.

1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

a) Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufigregeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grundzum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktesvorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, das in der Hauptsache zu verfolgende Begehren erweistsich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 88, 185 <186>; 103, 41 <42>; stRspr).

Bei offenem Ausgang des in Aussicht genommenen Verfassungsbeschwerdeverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenndie einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen,die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg versagtbliebe (vgl. BVerfGE 88, 185 <186>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einemverfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstabanzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 <111>; stRspr). Im Zuge der nach § 32 Abs. 1 BVerfGG gebotenen Folgenabwägung legt das Bundesverfassungsgerichtseiner Entscheidung in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungenzugrunde (vgl. BVerfGE 34, 211 <216>).

b) Nach diesen Maßstäben ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung angezeigt.

aa) Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die von den Antragstellern in Aussicht genommene und über die Begründungdes Antrags auf Erlass der einstweiligen Anordnung gegebenenfalls hinausreichend begründete Verfassungsbeschwerde sich vonvornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweisen wird. Der Ausgang des in Aussicht genommenen Verfassungsbeschwerdeverfahrensist vielmehr offen.

bb) Die Folgenabwägung nach § 32 BVerfGG führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung.

Erginge die einstweilige Anordnung, so verbliebe das Kind vorläufig bei seinen Eltern, bei denen es sein bisheriges Lebenverbracht hat und bei denen es gegenwärtig nach den bisherigen Feststellungen des Oberlandesgerichts nicht gefährdet ist.Die bisherige Betreuung des Kindes durch seine Eltern bliebe damit aufrechterhalten, ebenso sein bereits im Februar 2010 inDeutschland begründeter Aufenthalt. Erwiese sich die Verfassungsbeschwerde nachfolgend als unbegründet, verzögerte sich allerdingsdie vom Oberlandesgericht angeordnete Rückführung des Kindes nach Norwegen um einen gewissen Zeitraum.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht, so würde das Kind nach Norwegen zurückgeführt, dort gegebenenfalls von seinen Elterngetrennt und in einer Pflegefamilie untergebracht werden. Erwiese sich die Verfassungsbeschwerde nachfolgend als begründetund führte dies zu einem erneuten Aufenthaltswechsel des Kindes zurück zu seinen Eltern, so wäre das Kindeswohl durch denmehrfachen Wechsel der unmittelbaren Bezugspersonen und des Wohnumfeldes in wesentlichem Maße beeinträchtigt.

Wägt man die Folgen gegeneinander ab, so wiegen die Nachteile, die im Falle des Erlasses einer einstweiligen Anordnung drohen,weniger schwer als die Nachteile, die dem Kind und den Antragstellern im Falle der Versagung einer einstweiligen Anordnungentstehen könnten.

2. Dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts kann - unabhängig von der fehlendenVorlage einer Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse - nicht stattgegeben werden. Das Land Niedersachsenist den Antragstellern zur Kostenerstattung verpflichtet, so dass es keiner Gewährung von Prozesskostenhilfe mehr bedarf.

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG .

Vorinstanz: OLG Celle, vom 30.09.2011 - Vorinstanzaktenzeichen 18 UF 107/10