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BGH - Entscheidung vom 07.06.2011

5 StR 26/11

BGH, Urteil vom 07.06.2011 - Aktenzeichen 5 StR 26/11

DRsp Nr. 2011/11848

Überprüfung der Rechtsfehlerhaftigkeit eines Urteils aufgrund gesonderter Erörterung von Belastungsindizien und jeweiliger Prüfung des Beweiswertes ohne Gesamtabwägung

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Görlitz vom 16. September 2010 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

- Von Rechts wegen -

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Körperverletzung mit Todesfolge aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.

1.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

a)

Am frühen Abend des 30. August 2008 konsumierte der Angeklagte mit seinem langjährigen Freund und Nachbarn L. Alkohol in nicht feststellbaren Mengen. Am darauffolgenden Tag fand er L. in dessen Wohnung auf dem Boden des Schlafzimmers liegend auf. Dieser war nicht ansprechbar, blutete stark am Kopf und wies am Hals Würgemale auf.

Der vom Angeklagten telefonisch verständigte Rettungssanitäter versorgte den Geschädigten und überführte ihn dann in ein Krankenhaus. Es wurden ein Schädel-Hirn-Trauma dritten Grades, eine Kopfplatzwunde sowie eine Fraktur der Kieferhöhle links diagnostiziert. Ursache der Verletzungen waren stumpfe Gewalteinwirkungen. Der Geschädigte erlangte das Bewusstsein nicht wieder und verstarb am 16. Mai 2009 infolge einer durch die erlittenen Verletzungen bedingten Lungenentzündung.

Auf den Geschädigten war in seiner Wohnung unter anderem mit einem Tonbandgerät eingeschlagen worden, an dem Blut, Gewebeteile und Haare des Geschädigten sowie - auf der Rückseite des Geräts - eine Fingerabdruckspur des Zeigefingers der rechten Hand des Angeklagten festgestellt wurden. An der Wohnungseingangstür fehlte im Bereich des Schlosses und des Türknaufs ein etwa zehn mal zehn Zentimeter großes Glasfenster. Mit einem Griff durch die Öffnung konnte die Wohnungstür von außen geöffnet werden. Im Bereich des fehlenden Fensters befand sich eine Blutspur des Angeklagten. Seine Hose wies Blutanhaftungen des Geschädigten auf.

b)

Das Landgericht vermochte sich nicht von der Täterschaft des Angeklagten zu überzeugen. Es sei trotz der "festgestellten Spuren, die auf den ersten Blick ein den Angeklagten schwer belastendes Indiz" darstellten, "nicht mit der erforderlichen Gewissheit auszuschließen, dass ein unbekannter Dritter zum Tatzeitpunkt die Wohnung des Geschädigten aufsuchte" (UA S. 13). Es wäre einem solchen möglich gewesen, "in Einbruchsabsicht in die Wohnung des Geschädigten einzudringen, da das kleine Glasfenster in der Wohnungstür des Geschädigten fehlte" (UA S. 18).

Hinsichtlich der Fingerabdruckspur hat die Schwurgerichtskammer die Einlassung des Angeklagten als "lebensnah" und "nicht zu widerlegen" angesehen, er habe das Tonbandgerät bei seinen Besuchen "öfter angefasst, zum Beispiel wenn der Geschädigte seine Wohnung umgeräumt habe" (UA S. 11). Auch seine Angaben zur Blutspur an der Wohnungstür seien nicht zu widerlegen; dieser Bewertung hat die Schwurgerichtskammer die Vermutung des Angeklagten zugrunde gelegt, die Blutspur könne entstanden sein, als er dem Geschädigten an einem ihm nicht mehr erinnerlichen Tag geholfen habe, den Schließzylinder an der Wohnungstür auszutauschen (UA S. 12). Ferner hat das Landgericht die Aussage des Angeklagten zur Entstehung der Blutspuren auf seiner Kleidung - er habe den Kopf des Geschädigten "nach dessen Auffinden hochgehoben" (UA S. 14) - nicht zu widerlegen vermocht. Dass in der Wohnung und an dem Tonbandgerät nur Spuren des Geschädigten und des Angeklagten gesichert worden seien, vermittle nicht die Überzeugung von dessen Täterschaft. Gegen die Täterschaft spreche, dass ein "Motiv für ein derart brutales Vorgehen" (UA S. 16) nicht zu erkennen sei und die Vorstrafen des Angeklagten mit dem hier vorliegenden Tatbild nicht korrespondierten.

2.

Die durch die Schwurgerichtskammer vorgenommene Beweiswürdigung hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a)

Das Revisionsgericht hat es grundsätzlich hinzunehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an dessen Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht etwa der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Rechtsfehlerhaft ist es auch, wenn sich das Tatgericht bei seiner Beweiswürdigung darauf beschränkt, die einzelnen Belastungsindizien gesondert zu erörtern und auf ihren jeweiligen Beweiswert zu prüfen, ohne eine Gesamtabwägung aller für und gegen die Täterschaft sprechenden Umstände vorzunehmen. Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt ferner, ob überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt worden sind (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 27. April 2010 - 1 StR 454/09, NStZ 2011, 108 , 109, und vom 1. Februar 2011 - 1 StR 408/10 Rn. 15).

b)

Zwar hat das Landgericht vorliegend die den Angeklagten belastenden Indizien dargestellt und gewürdigt. Deren Bewertung genügt den vorstehenden Grundsätzen jedoch in mehrfacher Hinsicht nicht.

aa)

Die Schwurgerichtskammer hat ihrer Beweiswürdigung entlastende Angaben des Angeklagten zugrunde gelegt, ohne sie in ihrem Wahrheitsgehalt näher überprüft zu haben.

So spricht nach den Urteilsfeststellungen - trotz sogar denkbarer näherer Aufklärbarkeit durch als Zeugen gehörte Nachbarn - kein objektiver Umstand dafür, dass die Fingerabdruckspuren des Angeklagten an der Rückseite des als Schlagwerkzeug eingesetzten - nicht näher beschriebenen - Tonbandgeräts bei Besuchen des Angeklagten in der Wohnung des Geschädigten entstanden sind. Entsprechendes gilt für die vom Angeklagten herrührende Blutspur an der Wohnungseingangstür des Geschädigten, zumal der Angeklagte eine Verletzung bei einer Reparatur des Schließzylinders schon zeitlich nicht näher einzuordnen vermochte, ja nicht einmal mit Bestimmtheit sagen konnte, ob er sich bei der vorgeblichen Reparatur überhaupt und gegebenenfalls wie verletzt habe. Im Übrigen ist auch zu einer - gegebenenfalls hochgradig relevanten - tatnahen Handverletzung des Angeklagten im Urteil nichts festgestellt. In Bezug auf seine mit dem Blut des Geschädigten beschmierte Kleidung fehlt es an näheren Angaben zum Spurenbild, zum Verteidigungsvorbringen des Angeklagten und zur Konkordanz von beidem.

bb)

Die Beweiswürdigung ist auch darüber hinaus lückenhaft. Zwar können und müssen die Gründe auch eines freisprechenden Urteils nicht jeden irgendwie beweiserheblichen Umstand ausdrücklich würdigen. Das Maß der gebotenen Darlegung hängt von der jeweiligen Beweislage und insoweit von den Umständen des Einzelfalls ab. Sind dabei - wie hier - erhebliche Belastungsindizien gegeben, muss das Tatgericht in seine Beweiswürdigung und deren Darlegung alle wesentlichen für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände und Erwägungen einbeziehen und im Gesamten betrachten (vgl. BGH, Urteile vom 22. Mai 2007 - 1 StR 582/06 - und vom 22. August 2002 - 5 StR 240/02, NStZ-RR 2002, 338 mwN; Brause NStZ-RR 2010, 329, 330 f.). Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht:

(1)

So führt die Schwurgerichtskammer aus, dass sie einer im Ermittlungs- und Hauptverfahren "möglicherweise wahrheitswidrig" aufgestellten Behauptung des Angeklagten, sich mit einem auf dem Fußabtreter vorgefundenen Wohnungsschlüssel Zutritt zur Wohnung verschafft zu haben, "kein besonderes Verdachtsmoment" beimisst (UA S. 16). Sie unterlässt jedoch die bei der hier gegebenen Beweislage unerlässliche nähere Dokumentation früherer Einlassungen des Angeklagten zu sämtlichen belastenden Indiztatsachen (vgl. BGH, Urteile vom 16. August 1995 - 2 StR 94/95, BGHR StPO § 261 Einlassung 6, und vom 1. Februar 2011 - 1 StR 408/10 Rn. 26).

(2)

Im Übrigen hätte im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung (vgl. auch BGH, Urteile vom 10. Dezember 1986 - 3 StR 500/86, und vom 18. September 2008 - 5 StR 224/08, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2 und Beweiswürdigung, unzureichende 20) namentlich Beachtung finden sollen, dass der vom Landgericht als nicht ausräumbar angesehene Alternativsachverhalt eines nächtlichen Wohnungseinbruchs - für den es zudem jenseits der Beschaffenheit der Wohnungseingangstür des Opfers keinen Anhalt gibt - durch einen unbekannten Dritten bei dem ersichtlich mittellosen Geschädigten genauso wenig lebensnah erscheint, wie ein nach den Angaben des Angeklagten gegen 2.00 Uhr erfolgtes Klopfen des Geschädigten am Fenster des Angeklagten, verbunden mit der ansatzlosen und dann nicht weiter ausgeführten Erwähnung einer Frau und eines "starken Mannes" (UA S. 9). Sonstige Anhaltspunkte für eine Alternativtäterschaft werden im Urteil nicht erwogen.

cc)

Die Beweiswürdigung begegnet schließlich insofern durchgreifenden Bedenken, als die Schwurgerichtskammer die Persönlichkeitsfremdheit der Tat und das Fehlen eines Tatmotivs als der Täterschaft des Angeklagten widerstreitende Umstände erachtet hat.

Die Bewertung, dass die den Verurteilungen des Angeklagten zugrunde liegenden Taten mit der hier angeklagten Tat "nicht vergleichbar" seien, steht schon in Widerspruch zu den hierzu getroffenen Feststellungen. Die durch das Amtsgericht Görlitz abgeurteilte gefährliche Körperverletzung vom 20. September 2008 umfasste - wie an anderer Stelle der Urteilsgründe ausgeführt ist (UA S. 6) - Schläge "mit zwei Bierflaschen, von denen eine zerbrach", auf deren Stirn und Hinterkopf. Hinzu kommt, dass sowohl durch die Verurteilung als auch für den Abend des hier gegenständlichen Geschehens Alkoholkonsum des Angeklagten festgestellt ist. Neigt dieser aber ohnehin "zu aggressivem Verhalten, was auch durch Nichtigkeiten ausgelöst werden kann" (UA S. 4), und liegt zudem eine alkoholbedingte Enthemmung vor, kann eine vermeintlich grundlos begangene Gewalthandlung nicht als außergewöhnlich bewertet werden. Dass eine - in den Details des Ablaufs ohnehin nicht mehr aufklärbare - Tat unter solchen Vorzeichen im Nachhinein für Dritte sinnlos erscheinen mag, deutet auch nicht schon an sich auf ein fehlendes Motiv hin. Darüber hinaus würde selbst ein rational nicht nachvollziehbares Handeln kein den Angeklagten maßgeblich entlastendes Indiz darstellen.

- Von Rechts wegen -

Vorinstanz: LG Görlitz, vom 16.09.2010