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BGH - Entscheidung vom 19.05.2011

V ZB 250/10

Normen:
ZPO § 3
ZPO § 511 Abs. 4 S. 1
ZPO § 531 Abs. 2
ZPO § 574

BGH, Beschluss vom 19.05.2011 - Aktenzeichen V ZB 250/10

DRsp Nr. 2011/11833

Pflicht zur Nachholung einer Entscheidung über die Zulassung der Berufung durch das Berufungsgericht bei Annahme einer Beschwer von weniger als 600 EUR durch die Vorinstanz

Auf die Rechtsbeschwerde der Kläger wird der Beschluss des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Rostock vom 19. August 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens beträgt 600 €.

Normenkette:

ZPO § 3 ; ZPO § 511 Abs. 4 S. 1; ZPO § 531 Abs. 2 ; ZPO § 574 ;

Gründe

I.

Die Parteien sind Eigentümer benachbarter Grundstücke. Die Kläger verlangen die Beseitigung einer an dem Haus der Beklagten angebrachten, über die Grundstücksgrenze ragenden Wärmedämmung.

Das Landgericht hat die Klage unter Festsetzung des Streitwerts auf 24.000 € abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat angenommen, dass die Beschwer der Kläger 600 € nicht übersteigt und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen wenden sich die Kläger mit der Rechtsbeschwerde.

II.

Das Berufungsgericht meint, die Beschwer der Kläger entspreche der Wertminderung ihres Grundstücks durch den Überbau. Da dieser allenfalls zwei Quadratmeter erfasse und ein Bodenwert des Grundstücks der Kläger von über 300 €/qm nicht in Betracht komme, übersteige deren Beschwer 600 € nicht. Für eine darüber hinausgehende Wertminderung des Grundstücks fehlten jegliche Anhaltspunkte. Der Zugang zu dem rückwärtigen Grundstücksteil sei durch den Überbau nicht stärker als zuvor beeinträchtigt; die lichte Breite der Einfahrt sei unverändert geblieben. Dass die Instandhaltung und Auswechselung des Zaun- und Torpfostens durch den Überbau gegenüber dem alten Zustand signifikant erschwert sei, lasse sich weder dem Vortrag der Kläger noch den eingereichten Lichtbildern entnehmen. Zudem könne diesem Umstand deshalb kein zusätzlicher Wert beigemessen werden, weil das Vorbringen hierzu nicht Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens gewesen sei und deshalb den Beschränkungen der §§ 529 , 531 Abs. 2 ZPO unterfalle.

III.

1.

Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts im Hinblick darauf erfordert, dass dem Berufungsgericht die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu der Notwendigkeit, die Entscheidung über die Zulassung der Berufung in einem Fall wie dem vorliegenden nachzuholen, offenbar unbekannt ist (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO ). Hat das erstinstanzliche Gericht, wie hier, keine Veranlassung gesehen, die Berufung nach § 511 Abs. 4 Satz 1 ZPO zuzulassen, weil es den Streitwert auf über 600 € festgesetzt hat, und hält das Berufungsgericht diesen Wert für nicht erreicht, muss das Berufungsgericht die Entscheidung darüber nachholen, ob die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung erfüllt sind. Denn die unterschiedliche Bewertung der Beschwer darf nicht zu Lasten der Partei gehen (BGH, Urteil vom 14. November 2007 - VIII ZR 340/06, NJW 2008, 218 Rn. 12; Beschluss vom 3. Juni 2008 - VIII ZB 101/07, WuM 2008, 614 Rn. 4 f.; Beschluss vom 16. Juni 2008 - VIII ZB 87/06, WuM 2008, 615 Rn. 13; Beschluss vom 27. April 2010 - VIII ZB 91/09, WuM 2010, 437 Rn. 3; Beschluss vom 26. Oktober 2010 - VI ZB 74/08, NJW 2011, 615 ).

2.

Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Da das Berufungsgericht nicht über die Zulassung der Berufung nach § 511 Abs. 4 Satz 1 ZPO entschieden hat und sich anhand der tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Beschluss auch nicht feststellen lässt, dass eine solche Zulassung nicht in Betracht gekommen wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2010 - XII ZB 128/09, FamRZ 2010, 964), kann der angefochtene Beschluss keinen Bestand haben; er ist aufzuheben (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO ).

3.

Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

Die Beschwer der Kläger aus der Abweisung ihrer Klage bemisst sich - wovon das Berufungsgericht auch ausgeht - gemäß § 3 ZPO nach dem Wertverlust, den das Grundstück durch den Überbau erleidet; dieser ist nach dem Wert der überbauten Fläche und den dadurch bewirkten Beeinträchtigungen bei der Nutzung des nicht überbauten Grundstücksteils zu bestimmen (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Dezember 2009 - V ZB 115/09, GE 2010, 265; Beschluss vom 16. November 2006 - V ZR 97/06, [...]; Beschluss vom 23. Januar 1986 - V ZR 119/85, NJW-RR 1986, 737).

Den Vortrag der Kläger hierzu durfte das Berufungsgericht nicht unter Hinweis auf § 531 Abs. 2 ZPO für unbeachtlich erklären. Die Vorschrift gilt nicht für die Ermittlung und Festsetzung der Beschwer. Diese erfolgt vielmehr von Amts wegen nach pflichtgemäßem Ermessen, wobei das Gericht nicht nur jeden bis zur Festsetzung bei ihm eingegangenen Vortrag der Parteien zu berücksichtigen hat, sondern auch von Amts wegen die Einnahme des Augenscheins und die Begutachtung durch Sachverständige anordnen kann (§§ 2 , 3 ZPO ).

Das Berufungsgericht nimmt allerdings ohne Rechtsfehler an, dass sich aus dem bisherigen Vorbringen der Kläger konkrete, den Wert des Grundstücks mindernde Beeinträchtigungen bei der Nutzung des nicht überbauten Grundstücksteils nicht entnehmen lassen, insbesondere fehlt eine Darstellung, in welchem Maße die Zufahrt verengt worden ist und inwieweit sich daraus gegenüber dem alten Zustand eine Wertminderung des Grundstücks ergibt. Der Hinweis darauf, dass die Zufahrt selbst von erfahrenen Kraftfahrern schwer zu meistern ist, genügt hierzu nicht. Ohne nähere Erläuterung ist auch nicht nachvollziehbar, dass und ggf. in welcher Höhe bei einer Erneuerung des Torpfosten zusätzliche Kosten durch den Überbau entstehen. Die erstinstanzlich eingereichten Lichtbilder vermögen einen solchen Vortrag entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht zu ersetzen. Der Hinweis der Rechtsbeschwerde auf die Reduzierung des Bauwichs unter den gesetzlichen Mindestabstand von drei Metern ist hier schon deshalb unbehelflich, weil nicht dargelegt worden ist, dass die Zufahrt vor dem Überbau eine entsprechende Breite aufwies.

Vorinstanz: LG Neubrandenburg, vom 09.10.2009 - Vorinstanzaktenzeichen 3 O 23/09
Vorinstanz: OLG Rostock, vom 19.08.2010 - Vorinstanzaktenzeichen 3 U 152/09