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BGH - Entscheidung vom 09.03.2011

2 StR 467/10

Normen:
StPO § 261
StGB § 176

BGH, Urteil vom 09.03.2011 - Aktenzeichen 2 StR 467/10

DRsp Nr. 2011/6282

Anforderungen an die tatrichterlichen Feststellungen im Falle eines Abweichens von einem aussagepsychologischen Gutachten

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin gegen das Urteil des Landgerichts Aachen vom 12. März 2010 werden verworfen.

Die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft sowie die dem Angeklagten hierdurch und durch die Revision der Nebenklägerin entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.

Die Nebenklägerin trägt die Kosten ihres Rechtsmittels.

Die im Revisionsverfahren entstandenen gerichtlichen Auslagen tragen die Staatskasse und die Nebenklägerin je zur Hälfte.

Von Rechts wegen

Normenkette:

StPO § 261 ; StGB § 176 ;

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Vergewaltigung in zwei Fällen und der versuchten Vergewaltigung in drei Fällen aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Gegen diesen Freispruch wenden sich die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts.

Die Revisionen bleiben ohne Erfolg.

I.

Dem Angeklagten wird vorgeworfen, in der Zeit von 1987/88 bis 1991, teilweise als Heranwachsender handelnd, die am 25. Juni 1974 geborene Nebenklägerin zweimal vergewaltigt und dies drei weitere Male versucht zu haben.

1.

Die Strafkammer hat dazu Folgendes festgestellt:

Der Angeklagte, ein Turnierreiter, war im Zeitraum 1987 bis 1991 auf verschiedenen Reiterhöfen als sog. "Bereiter" tätig. Auf einem dieser Reithöfe verrichtete die Nebenklägerin Stallarbeiten und durfte im Gegenzug gelegentlich reiten. Für die Nebenklägerin, die zu Hause von ihrer Mutter häufig geschlagen wurde und die sich emotional vernachlässigt und nicht angenommen fühlte, war die Tätigkeit auf dem Reiterhof von großer Bedeutung. Der Angeklagte, ein sportlicher und ambitionierter Reiter, wurde von den auf den Reiterhöfen tätigen "Pferdemädchen" bewundert; auch die Nebenklägerin schwärmte für den ca. 7 Jahre älteren Angeklagten. Dieser - obwohl fest liiert - holte sie immer wieder von zu Hause ab und nahm sie an Wochenenden zu Turnieren mit; dabei kam es bei verschiedenen Gelegenheiten auch zum Austausch von Zärtlichkeiten und zu sexuellen Handlungen, jedoch nicht gegen einen erkennbaren Widerstand der Nebenklägerin. Gegenüber anderen "Pferdemädchen" brüstete sich die Nebenklägerin mit ihrem Verhältnis zum Angeklagten. Im Mai 1991 gab sie das Reiten auf, nachdem ihr ein Stallverbot erteilt worden war. Danach kam es, z.B. anlässlich von Diskothekenbesuche, nur noch zu gelegentlichen Kontakten zu dem Angeklagten, der sich zwischenzeitlich einem anderen "Pferdemädchen" zugewandt hatte.

In der Folgezeit lernte die Nebenklägerin im Alter von 19 Jahren den psychisch kranken D. kennen, mit dem sie drei Jahre zusammen lebte; während dieser Beziehung traten bei der Nebenklägerin Anpassungsstörungen und depressive Verstimmungen auf. Das Ende einer sich anschließenden Partnerschaft führte zu einer stationären Behandlung wegen ausgeprägter familiärer/partnerschaftlicher Belastungssituation bei gleichzeitigem Haschischabusus. Seit dem Scheitern einer weiteren Beziehung im Jahre 2001 befindet sich die Nebenklägerin nahezu durchgehend in ambulanter und stationärer psychologisch/psychiatrischer Behandlung wegen Angststörungen, depressiven Störungen und Cannabismissbrauch. Dabei berichtete sie wiederholt, von dem Angeklagten in ihrer Jugend missbraucht aber auch von ihren jeweiligen Lebenspartnern geschlagen und in einem Fall sexuell missbraucht worden zu sein. Während eines dieser stationären Aufenthalte erstattete sie am 13. Oktober 2004 Strafanzeige gegen den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs und wegen Vergewaltigung. Gleichzeitig beantragte sie im Hinblick auf die behaupteten Taten die Gewährung einer Rente nach dem Opferentschädigungsgesetz.

2.

Die Strafkammer vermochte sich nach der Vernehmung zahlreicher sachverständiger Zeugen und der Einholung von Sachverständigengutachten zur Aussagetüchtigkeit der Nebenklägerin und zur Glaubhaftigkeit ihrer Beschuldigungen nicht davon zu überzeugen, dass der Angeklagte die ihm vorgeworfenen Vergewaltigungen bzw. versuchten Vergewaltigungen im Zeitraum 1987/88 bis 1991 verübt hat. Zwar geht die Strafkammer davon aus, dass - was der Angeklagte bestreitet - tatsächlich sexuelle Handlungen stattgefunden haben; davon, dass diese gegen einen erkennbaren Willen der Nebenklägerin erfolgt sind, konnte sich das Landgericht jedoch nicht überzeugen; eine Strafbarkeit des Angeklagten nach § 176 StGB aF wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern hat sie ausgeschlossen, da die Nebenklägerin bei der ersten angeklagten Handlung im Jahr 1988 möglicherweise bereits 14 Jahre alt war.

II.

Die Überprüfung des Urteils aufgrund der von der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin erhobenen Sachrüge deckt keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten auf.

Die Beweiswürdigung ist rechtsfehlerfrei.

1.

Gemäß § 261 StPO entscheidet über das Ergebnis der Beweisaufnahme das Gericht. Spricht es einen Angeklagten frei, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht festgestellte Tatsachen anders würdigt oder Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten überwunden hätte. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung von einem rechtlich unzutreffenden Ansatz ausgeht, etwa hinsichtlich des Umfangs und der Bedeutung des Zweifelssatzes, wenn sie lückenhaft ist, wenn sie widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt werden (st. Rspr., vgl. BGH NStZ 2010, 102 , 103 mwN).

2.

Das Landgericht hat hier alle relevanten Umstände in seine Würdigung einbezogen. Die jeweils im Einzelnen wie auch in der Gesamtbetrachtung gezogenen Schlussfolgerungen sind möglich. Das gilt insbesondere auch, soweit das Landgericht der Sachverständigen Dr. U. hinsichtlich der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin zur angeblichen Unfreiwilligkeit des stattgefundenen Geschlechtsverkehrs nicht gefolgt ist. So hat es die Ausführungen der Sachverständigen in nachprüfbarer Weise wiedergegeben, sich mit ihnen auseinandergesetzt und seine abweichende Auffassung nachvollziehbar begründet (zu diesen Anforderungen vgl. BGH NStZ 2009, 571 mwN). Dabei ist die Strafkammer der Methodik der Sachverständigen gefolgt, hat jedoch deren gutachterliche Bewertung, dass die Angaben der Nebenklägerin mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert seien, nur eingeschränkt geteilt.

a)

Anders als die Sachverständige konnte die Strafkammer ohne Rechtsfehler zum einen eine mögliche autosuggestive Beeinflussung der Nebenklägerin angesichts der sich über viele Jahre erstreckenden verschiedenen therapeutischen Maßnahmen nicht ausschließen. So hält sie es zumindest für möglich, dass die Nebenklägerin aufgrund ihres schlechten psychischen Befindens und ihrer Partnerschaftsprobleme zur Abwehr eigener Schuldgefühle den Angeklagten, für den sie in ihrer Jugend schwärmte, von dem sie sich aber wegen dessen "Frauenverschleißes" im Nachhinein auch in sexueller Hinsicht ausgenutzt fühlt, für ihr eigenes Scheitern verantwortlich mache und deshalb tatsächlich einverständlich erfolgte sexuelle Begegnungen unbewusst um eine Gewaltkomponente angereichert habe. Darauf deutet auch hin, dass die Nebenklägerin gegenüber einem ihrer Therapeuten im Jahre 2004 von genau solchen sexuellen Übergriffen durch ihre damaligen Lebensgefährten berichtet hat, wie sie jetzt dem Angeklagten zur Last gelegt werden (UA 68 f.).

b)

Zum anderen hat das Landgericht auch die Aussagekonstanz im Gegensatz zu der Sachverständigen als nicht ausreichend angesehen, um im Ergebnis von einer glaubhaften Aussage ausgehen zu können. So hat die Nebenklägerin zum Beispiel ständig variierende Angaben zu ihrem über Jahre währenden Betäubungsmittelmissbrauch gemacht und einen solchen gegenüber der Sachverständigen nahezu völlig geleugnet (UA 70 f.). Eine gegenüber einer Zeugin bei früherer Gelegenheit behauptete vierstündige Vergewaltigung durch den Angeklagten auf einer Wiese hat erwiesenermaßen nicht stattgefunden (UA 39, 72). Bezüglich einer als vollendete Vergewaltigung angeklagten Tat hat sie - anders als bei der Polizei und später in der Hauptverhandlung - gegenüber der Sachverständigen angegeben, Geschlechtsverkehr habe nicht stattgefunden (UA 76). Hinsichtlich einer als versuchte Vergewaltigung im Jahre 1991 angeklagten Tat hat sie - anders als bei der Sachverständigen und in der Hauptverhandlung - bei ihrer polizeilichen Vernehmung eine vollendete Vergewaltigung behauptet und diese in die Jahre 1993/1994 datiert (UA 78). Darüber hinaus hat sie bei mehreren Vernehmungen unterschiedliche Angaben dazu gemacht, ob sie vom Angeklagten auch zum Oralverkehr gezwungen worden sei (UA 78 f.). Schließlich hat die Nebenklägerin in der Hauptverhandlung lediglich zwei Fälle mit vollendetem Geschlechtsverkehr geschildert, während sie gegenüber der Sachverständigen von 20 bis 50 Fällen (UA 81) und gegenüber einem Therapeuten von mehrfachem Missbrauch pro Woche (UA 28, 37, 83) berichtet hat. Diese und zahlreiche weitere von der Kammer aufgezeigte eklatante Widersprüche betreffen entgegen der Einschätzung der Sachverständigen (UA 85) das zentrale Geschehen und stellen nicht bloß unerhebliche Änderungen aufgrund eines natürlichen Vergessensprozesses dar. Zwar mag es - worauf die Revisionen unter Berufung auf die Sachverständige abstellen - zutreffen, dass abweichende Angaben im Einzelfall eine differenzierte (In)Konstanz aufweisen können, die von besonders hoher Belegkraft für einen Erlebnisbezug ist. Dies gilt jedoch nur im Fall erwartbarer Inkonstanzen betreffend das Randgeschehen, nicht jedoch - wie hier - für Angaben zum unmittelbar handlungsrelevanten Geschehen. Soweit die Revisionen die vom Landgericht aufgezeigten Widersprüche im Aussageverhalten der Nebenklägerin auf ein falsches Verständnis bzw. unzutreffende Erinnerungen oder unglückliche Formulierungen der jeweiligen Gesprächspartner bzw. Vernehmer zurückführen, unternehmen sie den unzulässigen Versuch, die dem Tatgericht vorbehaltene Würdigung durch eine eigene zu ersetzen.

c)

Dass sich die Strafkammer in einer Gesamtschau aufgrund nicht ausschließbarer autosuggestiver Einflüsse und aufgrund der nicht ausreichenden Aussagekonstanz unter Berücksichtigung der histrionischen Persönlichkeitsakzentuierung der Nebenklägerin nicht von der Wahrheit der behaupteten Gewalt- und Widerstandshandlungen überzeugen konnte, hält sich im Rahmen tatrichterlicher Beweiswürdigung und ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

III.

Da sowohl die Revision der Staatsanwaltschaft als auch die der Nebenklägerin erfolglos geblieben sind, hat die Nebenklägerin außer der Revisionsgebühr auch die Hälfte der gerichtlichen Auslagen zu tragen. Die durch die Rechtsmittel verursachten notwendigen Auslagen des Angeklagten hat allein die Staatskasse zu tragen (§ 473 Abs. 1 und 2 StPO ; BGH, Urteil vom 15. Dezember 2010 - 1 StR 254/10, Rn. 37 mwN).

Von Rechts wegen

Vorinstanz: LG Aachen, vom 12.03.2010