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BGH - Entscheidung vom 21.12.2005

III ZR 333/04

Normen:
BGB § 839
SGB V § 71 § 85 Abs. 3

Fundstellen:
BGHReport 2006, 421
VersR 2006, 928

BGH, Beschluß vom 21.12.2005 - Aktenzeichen III ZR 333/04

DRsp Nr. 2006/1011

Amtshaftung der Kassenärztlichen Vereinigung wegen Aushandelung ungünstiger Vergütungen

»Zu Ermittlungspflichten einer Kassenärztlichen Vereinigung im Vorfeld von Verhandlungen über die Veränderung einer Gesamtvergütung durch mit den Landesverbänden der Krankenkassen und den Verbänden der Ersatzkassen zu schließenden Vertrag.«

Normenkette:

BGB § 839 ; SGB V § 71 § 85 Abs. 3 ;

Gründe:

I. Der Kläger, ein zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassener Radiologe, nimmt die beklagte Kassenärztliche Vereinigung aus dem Gesichtspunkt der Amtshaftung auf Feststellung ihrer Ersatzpflicht in Bezug auf die Quartale III und IV/1998 in Anspruch, weil sie für das Jahr 1998 mit den Landesverbänden der Krankenkassen und den Verbänden der Ersatzkassen in Hessen Gesamtvergütungen vereinbart habe, die für die Facharztgruppe der Radiologen deren Praxiskosten, die für die vertragsärztliche Tätigkeit aufzuwendende Arbeitszeit sowie Art und Umfang der vertragsärztlichen Leistungen nicht berücksichtigten. Er wirft der Beklagten vor, sie habe es vor dem Vertragsschluss über die Gesamtvergütung versäumt, den tatsächlichen Bedarf für eine typisierte Vergütung unter Berücksichtigung der einzelnen Facharztgruppen und Praxenbesonderheiten zu ermitteln und das Ermittlungsergebnis bei den Vergütungsverhandlungen dahingehend zu berücksichtigen, dass für eine sparsam und wirtschaftlich geführte, voll ausgelastete Vertragsarztpraxis ein angemessener Arztlohn gewährleistet sei. Zum anderen habe sie, wenn und soweit ein entsprechendes Verhandlungsergebnis nicht habe erzielt werden können, vorwerfbar gegen ihre Pflicht verstoßen, das zuständige Schiedsamt anzurufen und gegen dessen etwaige Negativentscheidung gerichtlich vorzugehen.

Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Mit seiner Beschwerde erstrebt der Kläger die Zulassung der Revision.

II. Die Beschwerde ist nicht begründet.

1. Die Rechtssache wirft keine grundsätzlichen Fragen auf, die nicht bereits in der Rechtsprechung des Senats und des für die vertragsärztliche Versorgung zuständigen Bundessozialgerichts geklärt wären.

Die Kassenärztlichen Vereinigungen, die nach § 75 Abs. 2 Satz 1 SGB V die Rechte der Vertragsärzte gegenüber den Krankenkassen wahrzunehmen haben, müssen die vertragsärztliche Versorgung im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und der Richtlinien der Bundesausschüsse durch schriftliche Verträge mit den Verbänden der Krankenkassen so regeln, dass eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse gewährleistet ist und die ärztlichen Leistungen angemessen vergütet werden (vgl. § 72 Abs. 2 SGB V ). Veränderungen der Gesamtvergütung, wie sie hier in Rede stehen, vereinbaren die Vertragsparteien des Gesamtvertrages nach § 85 Abs. 3 SGB V unter Berücksichtigung der Praxiskosten, der für die vertragsärztliche Tätigkeit aufzuwendenden Arbeitszeit sowie der Art und des Umfangs der ärztlichen Leistungen, soweit sie auf einer gesetzlich oder satzungsmäßigen Leistungsausweitung beruhen. Bei der Vereinbarung der Veränderungen der Gesamtvergütungen ist der Grundsatz der Beitragssatzstabilität (§ 71 SGB V ) in Bezug auf das Ausgabenvolumen für die Gesamtheit der zu vergütenden vertragsärztlichen Leistungen zu beachten. Den Kassenärztlichen Vereinigungen obliegt bei ihrer Mitwirkung an normsetzenden Verträgen - für die dem Vertragsschluss zeitlich vorausgehende Phase der Vorbereitung der Verhandlungen kann grundsätzlich nichts anderes gelten - die Amtspflicht, sich im Rahmen ihrer Selbstverwaltungstätigkeit zu halten und nicht in unzulässiger Weise den Zulassungsstatus der Mitglieder zu schmälern (vgl. Senatsurteile BGHZ 81, 21, 27; 150, 172, 176 f.).

Mit der Regelung in § 75 Abs. 2 SGB V wird den Kassenärztlichen Vereinigungen nicht ausschließlich die Rolle zugewiesen, bei den Verhandlungen mit den Verbänden der Krankenkassen über eine Gesamtvergütung die Interessen ihrer Mitglieder, insbesondere nach einer Vergütung, die neben den Praxiskosten einen angemessenen Arztlohn für jeden Vertragsarzt sicherstellt, zu vertreten. Vielmehr dienen die von den Kassenärztlichen Vereinigungen mit den Verbänden der Krankenkassen über die Durchführung der vertragsärztlichen Versorgung zu schließenden Verträge nach § 72 Abs. 2 SGB V dem oben bereits angeführten weitergehenden Zweck (vgl. zu der Vorgängerregelung in § 368g Abs. 1 RVO Senatsurteil BGHZ 81, 21, 31 f.), der nicht dahin zu verengen ist, die Kassenärztlichen Vereinigungen hätten die Interessen einzelner Vertragsärzte zu schützen und zu fördern.

Es entspricht auch der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, dass aus dem objektiv-rechtlichen Gebot angemessener Vergütung ärztlicher Leistungen regelmäßig kein (subjektiver) Anspruch auf höhere Vergütung der Leistungen hergeleitet werden kann (vgl. BSGE 75, 187 , 189 ff. und das in dem Rechtsstreit der Parteien über die Höhe der Vergütung für die Quartale III/1997 bis II/1998 ergangene Urteil BSGE 94, 50 Rn. 117). Lediglich in Fällen, in denen das Kassenärztliche Versorgungssystem als Ganzes und als deren Folge auch die berufliche Existenz der an dem Versorgungssystem teilnehmenden ärztlichen Leistungserbringer gefährdet wäre, hat das Bundessozialgericht ein subjektives Recht des Vertragsarztes auf eine höhere Vergütung in Betracht gezogen (vgl. BSGE 75, 187 , 191; 94, 50 Rn. 117, 122, 140 f.), im Fall des Klägers sowie für die Arztgruppe der Radiologen für das dem hier zu beurteilenden Zeitraum vorangegangene Jahr aber verneint. Nur in dem Rahmen, in dem das Bundessozialgericht einen subjektiven Anspruch auf eine bestimmte Höhe der Vergütung annimmt, kann ein Vertragsarzt unter dem Gesichtspunkt, dass eine ihm gegenüber bestehende Amtspflicht betroffen ist, amtshaftungsrechtlichen Schutz in Anspruch nehmen.

2. Vor diesem Hintergrund hält die Beschwerde vor allem die Frage für grundsätzlich, welche Ermittlungen die Kassenärztlichen Vereinigungen anzustellen haben, bevor sie die Verhandlungen über den Gesamtvertrag aufnehmen. Sie steht auf dem Standpunkt, der Beklagten habe es obgelegen, sich über die Praxiskosten der hessischen Vertragsarztgruppen zu informieren, um in der Lage zu sein, unter Berücksichtigung eines angemessenen "Arztlohnes" in die Honorarverhandlungen mit den Kassen zu gehen.

a) Diese Frage kann durch die ordentlichen Gerichte nicht abstrakt in der Weise beantwortet werden, dass für den vertragsärztlichen Bereich allgemeine Leitlinien für ein amtspflichtgemäßes Verhalten der Kassenärztlichen Vereinigungen im Vorfeld ihrer Aufgaben zur Aushandlung von Gesamtvergütungen entwickelt werden. Dies ließe außer Betracht, dass das gesamte vertragsärztliche System auf Vereinbarungen beruht, mit denen - auch unter einem Ausgleich widerstreitender Interessen - Kompromisse gefunden werden müssen. Soweit die Beschwerde daher von der Beklagten eine bestimmte Ermittlungstätigkeit erwartet und von ihr als nicht erfüllt ansieht, kann es im Hinblick auf die verfolgten amtshaftungsrechtlichen Ansprüche nur darum gehen, ob die Beklagte solche Ermittlungen unterlassen hat, die geboten gewesen wären, um einen auf eine bestimmte Höhe der Vergütung bezogenen subjektiven Anspruch des Klägers im Rahmen ihrer Möglichkeiten durchzusetzen.

b) Das Bundessozialgericht hat sich im Zusammenhang mit der Frage, ob der Honorarverteilungsmaßstab der Beklagten rechtswidrig ist, auch damit befasst, wie es zu bewerten wäre, wenn die Vertreterversammlung bei seinem Erlass möglicherweise keine umfassenden Informationen über die Kosten- und Ertragslage der Radiologen gehabt hätte (BSGE 94, 50 Rn. 43 f). Es hat hierzu ausgeführt, die Ermittlung entsprechender objektiver Daten hätte eine umfassende Offenlegung der gesamten Einnahme- und Ausgabesituation aller im Bezirk der Beklagten niedergelassenen Radiologen vorausgesetzt. Eine Bereitschaft der Ärzte, entsprechende Daten offenzulegen, bestehe indessen nur in sehr eingeschränktem Umfang. Darüber hinaus sei zweifelhaft, ob überhaupt eine Offenlegungspflicht bestünde. Ungeachtet dessen sei bei Rechtsnormen grundsätzlich nur entscheidend, ob die Regelungen objektiv sachlich gerechtfertigt seien. Ihnen müssten objektiv ausreichende Erwägungen zugrunde liegen, und die zur Erreichung der verfolgten Ziele gewählten Mittel müssten angemessen sein. Auf die Überlegungen des Normgebers im Einzelnen komme es nicht an. Ihn treffe grundsätzlich keine Begründungspflicht (BVerfG [Kammer], Beschluss vom 22. Oktober 2004 - 1 BvR 528/04 u.a. - Juris [= SozR 4-2500 § 87 Nr. 6]; ebenso BSGE 89, 259, 266 f.). Der Normgeber habe - wenngleich bei Rechtsnormen, denen Prognoseerwägungen zugrunde liegen, Ermittlungen sinnvoll sein dürften - grundsätzlich auch keine Ermittlungspflicht. Für die normsetzende Tätigkeit bestehe eine Regelung wie § 20 SGB X , dessen Anwendbarkeit ein Verwaltungsverfahren im Sinne des § 8 SGB X voraussetze, nicht. Den Normgeber des Honorarverteilungsmaßstabs treffe allerdings im Falle eines Honorartopfes, dem nur wenige Leistungserbringer zugeordnet seien, unter bestimmten Voraussetzungen eine verstärkte Beobachtungs- und Reaktionspflicht (vgl. BSGE 93, 258 Rn. 25 und 31, zur Strahlentherapie in einem kleinen KÄV-Bezirk). Eine derartige Konstellation liege hier indessen nicht vor. Das Bundessozialgericht hat auch die Verletzung einer Ermittlungspflicht des Bewertungsausschusses verneint und ausgeführt, gerade bei Vergütungsregelungen sei es nicht ausgeschlossen, Entscheidungen auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnisse und somit, wo diese keinen vollständigen Überblick bieten, unter Inkaufnahme von Ungewissheiten zu treffen (BSGE 94, 50 Rn. 77).

c) Für Schwierigkeiten und den Umfang zu erhebender Ermittlungen im Vorfeld von Vertragsverhandlungen der Kassenärztlichen Vereinigungen über die Gesamtvergütung kann grundsätzlich nichts anderes gelten. Speziell zur Situation bei der hier in Rede stehenden Veränderung einer Gesamtvergütung nach § 85 Abs. 3 SGB V , bei der die Angemessenheit der Vergütung nur als ein Faktor mit zu berücksichtigen ist, hat das Bundessozialgericht ausgesprochen, die Erzielung einer angemessenen Vergütung - unter Beachtung der Finanzierungsbelastung für die Krankenkassen und dementsprechend nur nach Maßgabe des Beitragsaufkommens der Krankenkassen - sei Kern und Ziel der Regelung des § 85 Abs. 3 SGB V insgesamt. Dementsprechend gehe das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung nach Art einer Vermutung davon aus, dass die Höhe der vereinbarten Gesamtvergütungen angemessen sei. Diese Vermutung liege auch dem Konzept der gesetzlichen Regelung des § 85 Abs. 3 SGB V zugrunde, wonach von der vorjährigen Gesamtvergütung auszugehen sei und nur Veränderungen zu vereinbaren seien. Die Konzeption, die frühere Gesamtvergütungsvereinbarung als maßgeblichen Ausgangspunkt zugrunde zu legen und grundsätzlich nicht nachträglich in Frage zu stellen, sei im übrigen auch in § 85 Abs. 3c SGB V in der Fassung des Gesundheitsstrukturgesetzes vom 21. Dezember 1992 (BGBl. I Seite 2266) zum Ausdruck gekommen (vgl. BSGE 91, 153 , 159 f.).

d) Ausgehend von diesen Grundsätzen zur Ermittlungspflicht, die auch eine Beobachtungs- und Reaktionspflicht einschließt, und von dem durch § 85 Abs. 3 SGB V gesteckten rechtlichen Rahmen kann der Vorwurf des Klägers, der frühere Vorsitzende der Beklagten sei völlig ohne Kenntnis der Kosten- und Ertragssituation der radiologischen Vertragsärzte in die Verhandlungen mit den Krankenkassenverbänden eingetreten, Amtshaftungsansprüche nicht begründen. Denn es oblag der Beklagten nicht, sich angesichts der bisherigen Entwicklung der Honorare auch für die Vertragsarztgruppe der Radiologen, wie sie in dem angeführten Urteil BSGE 94, 50 eingehend dargestellt wird, in der vom Kläger geforderten Art und Weise über die Kostensituation speziell der Radiologen zu informieren, ehe sie im Frühjahr 1998 in die Vertragsverhandlungen über eine Veränderung der Gesamtvergütung 1998 eintrat. Aus diesem Grund kommt es auch nicht auf die Rügen der Beschwerde an, das Berufungsgericht sei nicht auf den Beweisantritt eingegangen, der Verhandlungsleiter der Beklagten habe über die Kostensituation keine Kenntnis gehabt, die Verträge "gewissermaßen blind" unterschrieben, und das Berufungsgericht habe bei seiner Würdigung der von der Beklagten vorgelegten Unterlagen das Ergebnis einer durchzuführenden Beweisaufnahme unzulässig vorweggenommen.

e) Dem Weg, sich auf eine von den Kassen vorgeschlagene Vertragsänderung nicht einzulassen sowie das Schiedsamt anzurufen und gegen dessen etwaige Negativentscheidung gerichtlich vorzugehen, stand grundsätzlich das Interesse der Vertragsärzteschaft insgesamt entgegen, auf einer vertraglich gesicherten Grundlage ihre Leistungen zu erbringen.

3. Auch im Übrigen lässt das Berufungsurteil keine zulassungsbegründenden Rechtsfehler erkennen.

Vorinstanz: OLG Frankfurt/Main, vom 08.07.2004 - Vorinstanzaktenzeichen 1 U 71/02
Vorinstanz: LG Frankfurt/M. - 2/4 O 126/01 - 27.3.2002,
Fundstellen
BGHReport 2006, 421
VersR 2006, 928