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BVerfG - Entscheidung vom 29.01.2007

2 BvR 2203/06

Normen:
GG Art. 2 Abs. 2 S. 2
StPO § 244 § 261

BVerfG, Beschluss vom 29.01.2007 - Aktenzeichen 2 BvR 2203/06

DRsp Nr. 2007/19743

Verfassungsrechtliche Anforderungen an die strafrichterliche Beweiswürdigung

Nicht jeder Verstoß gegen §§ 244 , 261 StPO und die hierzu von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze erfordert das Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts. Voraussetzung ist vielmehr, dass sich das Fachgericht so weit von der Verpflichtung entfernt hat, in Wahrung der Unschuldsvermutung bei jeder als Täter in Betracht kommenden Person auch die Gründe, die gegen die mögliche Täterschaft sprechen wahrzunehmen, aufzuklären und zu erwägen, dass der rationale Charakter der Entscheidung verloren gegangen scheint und sie keine tragfähige Grundlage mehr für die mit einem Schuldspruch einhergehende Freiheitsentziehung sein kann.

Normenkette:

GG Art. 2 Abs. 2 S. 2 ; StPO § 244 § 261 ;

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG liegt nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde ist teilweise unzulässig und ansonsten unbegründet.

I. Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör geltend macht, hat er versäumt, das Nachverfahren gemäß § 55 Abs. 4 JGG in Verbindung mit § 356 a StPO durchzuführen. Insoweit ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig.

II. Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt nicht vor.

1. Prüfungsmaßstab für die hier zu entscheidenden Fragen der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die strafrichterliche Beweiswürdigung ist Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG . Danach darf die Freiheit der Person nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden (BVerfGK 1, 145 [149 f.]). Solche Gewährleistungen sehen die Strafprozessordnung und die auf ihrer Grundlage entwickelte Rechtsprechung unter anderem in Form der bei der Wahrheitsfindung des Gerichts zu beachtenden Beweisregeln vor. Verstößt das Tatgericht in willkürlicher Weise gegen solche Regeln, kann dies die Revision gegen das Urteil begründen und einen Verfassungsverstoß darstellen.

Allerdings rechtfertigt nicht jeder Verstoß gegen § 244 oder § 261 StPO und die hierzu von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze das Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts. Voraussetzung ist vielmehr, dass sich das Fachgericht so weit von der Verpflichtung entfernt hat, in Wahrung der Unschuldsvermutung bei jeder als Täter in Betracht kommenden Person auch die Gründe, die gegen die mögliche Täterschaft sprechen, wahrzunehmen, aufzuklären und zu erwägen, dass der rationale Charakter der Entscheidung verloren gegangen scheint und sie keine tragfähige Grundlage mehr für die mit einem Schuldspruch einhergehende Freiheitsentziehung sein kann (BVerfGK 1, 145 [152]).

2. Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers beruht auf einer tragfähigen Grundlage.

Das Tatgericht setzt sich mit der Glaubwürdigkeit der Belastungszeugin eingehend auseinander. Es würdigt umfassend das Auftreten der Zeugin, ihr Aussageverhalten, die Aussageentstehung und die inhaltliche Belastbarkeit der Aussage und bezieht auch Gesichtspunkte, die gegen die Richtigkeit der Aussage sprechen könnten, in seine Überlegungen ein. Die Frage, ob die Zeugin aufgrund einer seelischen Erkrankung möglicherweise in ihrer Zeugeneignung und Wahrnehmungsfähigkeit eingeschränkt gewesen sei, verneint das Gericht, wobei es sich auf die Angaben der Hausärztin und des Psychologen der Zeugin über die Art und Symptomatik ihrer Erkrankung sowie die Verschlechterung ihres psychischen Befindens nach der Tat stützt. An außerhalb der Aussage der Zeugin liegenden gewichtigen Anhaltspunkten für deren Glaubwürdigkeit berücksichtigt das Gericht die Angaben mehrerer Zeugen, denen sich die Zeugin unmittelbar nach der Tat offenbart hatte.

Diese Beweislage ist mit Konstellationen, in denen Aussage gegen Aussage steht und Besonderheiten gegeben sind, die eine spezifische, durch das Gericht nicht zu leistende Sachkunde bei der Würdigung von Zeugenaussagen erfordern (vgl. etwa BGH, StV 2005, S. 419 ; StV 2002, S. 637 ; NStZ 2001, S. 105 ; jeweils m.w.N.), nicht vergleichbar. Gegen den Verzicht des Tatgerichts auf die Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens unter Berufung auf seine eigene Sachkunde ist daher von Verfassungs wegen nichts zu erinnern.

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG ).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Vorinstanz: LG Wiesbaden - 2261 Js 14422/04 - 1 Ns - 21.9.2006,