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BFH - Entscheidung vom 17.02.2005

X B 178/03

Normen:
FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3
GG Art. 103 Abs. 1

Fundstellen:
BFH/NV 2005, 1121

BFH, Beschluss vom 17.02.2005 - Aktenzeichen X B 178/03

DRsp Nr. 2005/5757

NZB: rechtliches Gehör

1. Zum Inhalt des Anspruchs auf rechtliches Gehör.2. Geht das FG auf den wesentlichen Kern des Vorbringens eines Beteiligten, das für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht ein, lässt das auf die Nichtberücksichtigung dieses Vortrages schließen.3. Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird verletzt, wenn das FG nur allgemeine Ausführungen zur Frage des groben Verschuldens macht, jedoch nicht prüft, ob und unter welchen Voraussetzungen grobes Verschulden im konkreten Einzelfall zu verneinen ist, wenn der Stpfl. eine Steuererklärung auf Druck eines anderen wissentlich mit falschem Inhalt abgibt oder wenn er die von einem Dritten angefertigte Steuererklärung in einer psychischen Belastungssituation "blanco" unterschreibt.

Normenkette:

FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3 ; GG Art. 103 Abs. 1 ;

Gründe:

I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) reichte beim Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) im April 1998 für die Streitjahre Einkommensteuer- und Umsatzsteuererklärungen ein, in denen sie Einkünfte bzw. Einnahmen aus der Vermietung von Zimmern angab. Zuvor hatte L, der damalige Lebensgefährte der Klägerin, im Rahmen einer Betriebsprüfung, welche bei ihm in den Jahren 1997 und 1998 stattfand, angegeben, dass nicht er, sondern die Klägerin in den Streitjahren diese Einnahmen erzielt habe. Die Zimmervermietung sei später von ihm, L, übernommen worden. Die gegenüber der Klägerin für die Streitjahre ergangenen Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide wurden bestandskräftig.

Am 5. Oktober 1999 verstarb L Im Februar 2000 wandte sich die Klägerin an das FA mit dem Begehren, die genannten Bescheide aufzuheben. Hierzu trug sie vor, nicht sie, sondern L habe die Einkünfte aus der Pension erzielt. Diesen Antrag lehnte das FA ab.

Mit der hiergegen gerichteten Klage machte die Klägerin geltend, die Angaben über die gewerblichen Einkünfte aus der Zimmervermietung seien falsch. Sie habe die Erklärungen Anfang des Jahres 1998 nicht aus freiem Willen, sondern auf Druck ihres Lebensgefährten abgegeben, von dem sie abhängig gewesen sei. Für L habe sich aufgrund einer Anzeige beim FA eine hohe Steuernachzahlung ergeben. Diese hätte zu einer Überschuldung seiner Firma und zur Verpflichtung geführt, Gesamtvollstreckung zu beantragen. Um die drohende Vernichtung seiner wirtschaftlichen Existenz abzuwenden, habe er "einen Teil seiner Steuerschuld auf sie, die Klägerin, übertragen". Dem habe sie sich nicht entziehen können. Sie sei als Zimmermädchen tätig gewesen. Ihr Lebensgefährte habe sämtliche behördlichen Vorgänge für sie entschieden. Steuererklärungen habe sie von ihm vorgelegt erhalten und blind unterschrieben. Bei L habe es sich um einen 58-jährigen lebenserfahrenen Mann gehandelt, sie selbst sei hingegen damals erst 31 Jahre alt gewesen, ohne Beruf und habe für ihr von einem anderen Mann stammendes Kind sorgen müssen, das damals erst wenige Monate alt gewesen sei. Sie habe nicht grob schuldhaft i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung ( AO 1977 ) gehandelt. Insbesondere habe sie die ihr zumutbare Sorgfalt nicht dadurch verletzt, dass sie sich über den Inhalt der von ihr unterschriebenen Schriftstücke nicht informiert habe. Zwischen ihr und L habe eine eheähnliche Beziehung bestanden. Selbst dann, wenn sie die Schriftstücke gelesen hätte, hätte sie nicht den Mut aufgebracht, sich dem Ansinnen von L entgegen zu stellen, die Schriftstücke zu unterschreiben. Zum einen habe sie wegen des Kindes L gegenüber ein schlechtes Gewissen gehabt, zum anderen habe dieser sie auch gelegentlich geschlagen.

Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen mit der Begründung, die Voraussetzungen von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 lägen nicht vor, da die Klägerin im Sinne dieser Vorschrift vorsätzlich oder grob fahrlässig ihre Mitwirkungspflichten verletzt habe. Steuerpflichtige seien nicht nur zur Abgabe einer Steuererklärung gemäß § 149 Abs. 1 AO 1977 verpflichtet. Gemäß § 150 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 bestehe auch die Pflicht, die Erklärung wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen abzugeben. Folglich beziehe sich das grobe Verschulden des Steuerpflichtigen auf die Verletzung seiner Mitwirkungspflichten und die dadurch verursachte Unkenntnis der Finanzbehörde über die vom Steuerpflichtigen offen zu legenden Tatsachen. Die Klägerin habe, sofern sie ihre Erklärungs- und Mitwirkungspflicht gekannt und ihre Verletzung gewollt habe, vorsätzlich gehandelt. Habe sie hingegen die von einem Dritten vorbereiteten Steuererklärungen blind unterschrieben, dann liege bei ihr grob fahrlässiges Handeln vor.

Mit ihrer gegen die Nichtzulassung der Revision erhobenen Beschwerde macht die Klägerin u.a. geltend, das angefochtene Urteil des FG verletze den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes -- GG --). Das FG habe sich in den Entscheidungsgründen nicht mit den Besonderheiten des Streitfalls auseinander gesetzt. Es habe insbesondere die im Streitfall zentrale Rechtsfrage nicht geprüft, ob bei der Klägerin deshalb kein grobes Verschulden i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 vorgelegen habe, weil sie einer persönlichen Zwangslage ausgesetzt gewesen sei. Das FG habe sich nicht damit befasst, dass auf sie psychischer Druck ausgeübt wurde und sie auch der Gefahr körperlicher Misshandlung ausgesetzt gewesen sei.

Die Klägerin beantragt,

die Revision gegen das Urteil der Vorinstanz zuzulassen.

Das FA beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Es meint, das FG habe das Vorbringen der Klägerin außer Betracht lassen dürfen, weil es nicht entscheidungserheblich sei. Mit nicht entscheidungserheblichem Vorbringen müsse sich das FG in den Entscheidungsgründen nicht ausdrücklich befassen. Das FG habe in seinem Urteil zum Ausdruck gebracht, dass bei Steuererklärungen § 150 Abs. 2 AO 1977 zu beachten sei.

II. Die Beschwerde ist begründet. Die Klägerin hat schlüssig einen Verfahrensmangel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ( FGO ) gerügt. Die behauptete Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG ) liegt auch vor. Der Senat lässt deshalb die Revision zu. Er hält es für angezeigt, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 116 Abs. 6 FGO ).

1. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt und auch zur Rechtslage zu äußern. Dieser Anspruch verpflichtet das Gericht, diese Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Hierbei ist jedenfalls dann, wenn die Ausführungen im Tatbestand des Urteils wiedergegeben sind, in der Regel davon auszugehen, dass das Gericht den Vortrag der Beteiligten in seine rechtlichen Überlegungen einbezogen hat. Eine Verpflichtung, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen auseinander zu setzen, besteht nicht (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 5. Dezember 1995 1 BvR 1463/89, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 1996, 153 ).

Geht das Gericht jedoch auf den wesentlichen Kern des Vorbringens eines Beteiligten, das für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war (Beschlüsse des BVerfG vom 19. Mai 1992 1 BvR 986/91, BVerfGE 86, 133 , und vom 23. Juli 2003 2 BvR 624/01, juris).

Hiervon ist im Streitfall auszugehen. Das FG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils nur allgemeine Ausführungen zur Frage des groben Verschuldens i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 gemacht. Auf die Kernfrage des Anliegens der Klägerin ist das FG nicht eingegangen. Es hat nicht geprüft, ob und unter welchen Voraussetzungen das Vorliegen eines solchen groben Verschuldens im konkreten Einzelfall auch dann zu verneinen ist, wenn der Steuerpflichtige eine Steuererklärung entgegen § 150 Abs. 2 AO 1977 auf Druck eines anderen wissentlich mit falschem Inhalt abgibt oder wenn er die von einem Dritten angefertigte Steuererklärung in einer psychischen Belastungssituation "blanko" unterschreibt. Diese Prüfung wird das FG nachzuholen haben.

2. Der erkennende Senat kann die Ergebnisrichtigkeit der Entscheidung der Vorinstanz im vorliegenden Streitfall nicht in Anwendung der Grundsätze von § 126 Abs. 4 FGO selbst überprüfen. Zwar ist in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) anerkannt, dass die im Revisionsverfahren geltende Vorschrift des § 126 Abs. 4 FGO im Beschwerdeverfahren, welches die Nichtzulassung der Revision betrifft, entsprechend anwendbar ist (BFH-Beschlüsse vom 27. Juli 1999 VII B 342/98, BFH/NV 2000, 194 , und vom 11. Juni 2003 IV B 21/02, BFH/NV 2003, 1431 ). Im Streitfall besteht jedoch die Besonderheit, dass die Entscheidung, ob ein Beteiligter i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 grob fahrlässig gehandelt hat, im Wesentlichen Tatfrage ist. Die Feststellungen hierzu hat das FG als Tatsacheninstanz zu treffen. Diese Feststellungen können in der Revisionsinstanz grundsätzlich nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit richtig erkannt worden ist und ob die Würdigung der Verhältnisse hinsichtlich dieses individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteil vom 26. August 1987 I R 144/86, BFHE 151, 299, BStBl II 1988, 109 ). Der Senat hält es daher aus prozessökonomischen Gründen für geboten, im Streitfall gemäß § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren.

3. Der Senat weist jedoch für das weitere Verfahren, allerdings ohne die Vorinstanz zu binden, auf folgende Gesichtspunkte hin: Die Frage, ob jemand seinen steuerlichen Erklärungspflichten i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 in grob schuldhafter Weise unzureichend nachgekommen ist, knüpft in objektiver Hinsicht daran an, dass der Steuerpflichtige in Steuererklärungen gemäß § 150 Abs. 2 AO 1977 verpflichtet ist, vollständige und wahre Angaben zu machen. Diese Verpflichtung kann nach Ansicht des erkennenden Senats allenfalls dann eine Einschränkung erfahren, wenn sich der Steuerpflichtige in einer unauflöslichen Konfliktlage befindet. Dies zeigt die Wertung des § 393 Abs. 1 Satz 2 und 3 AO 1977 , wonach Zwangsmittel wegen der Verletzung von steuerlichen Erklärungspflichten (nur) unzulässig sind, wenn der Steuerpflichtige hinsichtlich des Besteuerungszeitraums, auf welchen sich die Erklärungspflicht bezieht, eine Steuerstraftat oder eine Steuerordnungswidrigkeit bereits begangen hat. Die steuerliche Erklärungspflicht entfällt hingegen nicht bereits dann, wenn sich der Steuerpflichtige hierdurch in die Gefahr begibt, dass eine von ihm begangene steuerliche Verfehlung, welche einen anderen Besteuerungszeitraum betrifft, aufgedeckt wird (Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 10. Januar 2002 5 StR 452/01, Neue Juristische Wochenschrift 2002, 1134 ). Diese Wertung zeigt, dass steuerliche Erklärungspflichten grundsätzlich auch dann ordnungsgemäß zu erfüllen sind, wenn sich ein Steuerpflichtiger in einer Konfliktlage befindet.

Andererseits gibt es Lebenssituationen, auf die auch das Steuerrecht mit Nachsicht reagieren muss (vgl. Senatsbeschluss vom 15. Oktober 1992 X B 152/92, BFH/NV 1993, 80).

Ob bei der Klägerin ausnahmsweise eine Sondersituation bestand, welche die Annahme rechtfertigt, dass kein grobes Verschulden vorgelegen hat, wird vom FG festzustellen sein.

Vorinstanz: FG Sachsen, vom 05.12.2002 - Vorinstanzaktenzeichen 1 K 1528/00
Fundstellen
BFH/NV 2005, 1121