Verkehrsunfall: Haftung für Betriebsgefahr nach Vorfahrtsverstoß?
Darum geht es
Ein Fahrradfahrer fuhr entlang einer Landstraße auf einem Radweg, der einen Autobahnzubringer kreuzt. Der Autoverkehr hat an dieser Stelle Vorfahrt. Dem Radfahrer kam eine Autofahrerin entgegen, die über diesen Zubringer auf die Autobahn fahren wollte.
Als sich die beiden Fahrwege kreuzten, kamt es zum Unfall. Der Fahrradfahrer wurde schwer verletzt. Er erlitt bei dem Zusammenstoß schwere Kopf- und Schulterverletzungen mit einem Schädelhirntrauma, Rippenbrüchen, einer Lungenkontusion, einer Schulterprellung und weiteren Frakturen.
Vor dem Landgericht Lübeck hat der Fahrradfahrer von der Autofahrerin Schmerzensgeld zu einer Quote von 2/3 sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren verlangt.
Der Radfahrer hat als Kläger vorgetragen, dass er zwar die Vorfahrt missachtet habe, die Autofahrerin sei aber zu schnell gefahren und habe freie Sicht gehabt – sie habe den Unfall also vermeiden können.
Die Autofahrerin hat als Beklagte entgegnet, dass sie von der Sonne geblendet worden sei. Sie habe den Radfahrer daher erst im letzten Moment gesehen und nicht mehr reagieren können.
Wesentliche Entscheidungsgründe
Das Landgericht Lübeck hat die Klage des Radfahrers als unbegründet abgewiesen und eine Haftung der Autofahrerin verneint.
Grundsätzlich haftet der Halter eines Autos immer für Schäden, die durch sein Auto entstanden sind – ganz egal, ob er einen „Fehler“ gemacht hat oder nicht (§ 7 StVG). Das ist die sog. Betriebsgefahr.
Die dahinterstehende Idee des Gesetzes ist: Ein Auto im Straßenverkehr zu bewegen ist per se gefährlich. Wer das tun will, muss für daraus entstehende Schäden haften (und sich deshalb versichern).
Anders kann es aber bei einem schwerwiegenden Fehler des Unfallgegners sein – dann kann die Betriebsgefahr zurücktreten und eine Haftung des Halters ausscheiden.
Das Gericht hat Zeugen befragt und ein Gutachten eines technischen Sachverständigen eingeholt. Daraus habe sich ergeben, dass die Autofahrerin nicht zu schnell, sondern eher langsam gefahren sei und keine Zeit mehr gehabt habe zu reagieren.
Der Sachverständige hat seine Bewertung auf einen Unfallversuch gestützt, der unter vergleichbaren Voraussetzungen umgesetzt worden war.
Der Sachverständige hat mittels eines Weg-Zeit-Diagramms nach dem Gericht plausibel und überzeugend hergeleitet, dass die beklagte Autofahrerin die Vorfahrtsverletzung des Klägers erst etwa eine Sekunde vor der Kollision erkennen konnte.
Damit sei keine ausreichende Zeitspanne verblieben, um noch auf das Geschehen reagieren und den Unfall vermeiden zu können.
Der Vorfahrtsverstoß durch den Fahrradfahrer wiege demgegenüber so schwer, dass die Betriebsgefahr auf Seiten der Autofahrerin verdrängt werde.
Das Urteil ist rechtskräftig.
Landgericht Lübeck, Urt. v. 17.01.2024 – 6 O 8/22