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BVerfG - Entscheidung vom 01.07.2021

1 BvR 145/20

Normen:
GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 12 Abs. 1
GG Art. 103 Abs. 1
BVerfGG § 93c Abs. 1 S. 1
JAGV ND § 5
GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 12 Abs. 1
GG Art. 103 Abs. 1
BVerfGG § 93c Abs. 1 S. 1
NJAVO § 5
BVerfGG § 93c Abs. 1 S. 1

Fundstellen:
NJW 2021, 2957
NVwZ-RR 2021, 921

BVerfG, Beschluss vom 01.07.2021 - Aktenzeichen 1 BvR 145/20

DRsp Nr. 2021/11897

Übergehen erheblichen Parteivortrags in einer prüfungsrechtlichen Sache

Wird die Offenlegung der einem Prüfling zum Nachteilsausgleich gewährten Schreibzeitverlängerung gegenüber den Prüfern gerügt, muss ein solches Vorbringen im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG vom Gericht in Erwägung gezogen werden, weil ein solches Vorgehen Bedenken im Hinblick auf den prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit begegnet.

Tenor

1.

Der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 17. September 2019 - 2 LA 313/19 - verletzt den Beschwerdeführer in Artikel 103 Absatz 1 GG . Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen. Der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 29. Oktober 2019 - 2 LA 313/19 - wird damit gegenstandslos.

2.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

3.

Das Land Niedersachen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

4.

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 25.000 Euro (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

Normenkette:

BVerfGG § 93c Abs. 1 S. 1;

[Gründe]

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein verwaltungsgerichtliches Verfahren aus dem Bereich des Prüfungsrechts.

1. Der Beschwerdeführer nahm an der Zweiten juristischen Staatsprüfung teil. Wegen einer Beeinträchtigung seiner Sehfähigkeit wurde ihm auf Antrag gemäß § 3 der Verordnung zum Niedersächsischen Gesetz zur Ausbildung der Juristinnen und Juristen (NJAVO) für die Anfertigung der schriftlichen Prüfungsarbeiten eine Schreibzeitverlängerung von jeweils 105 Minuten gewährt und die Verwendung einer Lupenbrille gestattet. Die ihm zur Verfügung gestandene, verlängerte Bearbeitungszeit wurde auf den Mantelbögen seiner schriftlichen Prüfungsarbeiten vermerkt und seinen Prüfern dadurch kenntlich gemacht. Die Prüfung bestand er im Ergebnis mit der Gesamtnote befriedigend.

2. Nach erfolgloser Durchführung eines Widerspruchsverfahrens erhob der Beschwerdeführer Klage gegen den Prüfungsbescheid und berief sich auf Verfahrensfehler und Bewertungsmängel. Das Verwaltungsgericht gab seiner Klage mit Urteil vom 22. November 2018 hinsichtlich der in Bezug auf eine Klausur geltend gemachten Bewertungsmängel statt und wies die Klage im Übrigen ab. Zur Begründung der Klageabweisung führte das Verwaltungsgericht unter anderem aus, es erweise sich nicht als verfahrensfehlerhaft, dass die dem Beschwerdeführer zum Nachteilsausgleich gewährte Schreibzeitverlängerung auf den Mantelbögen seiner Klausuren vermerkt und seinen Prüfern dadurch kenntlich gemacht worden sei. Entgegen dem Einwand des Beschwerdeführers liege hierin kein Verstoß gegen das in § 5 Satz 1 NJAVO angeordnete prüfungsrechtliche Prinzip der anonymen Beurteilung der Prüfungsleistung. Auch führe dies nicht zur Besorgnis der Befangenheit der Prüfer. Dass die Prüfer an den Beschwerdeführer andere - höhere - Anforderungen gestellt hätten, sei weder konkret dargelegt noch ersichtlich.

3. Daraufhin beantragte der Beschwerdeführer die Zulassung der Berufung. Zur Darlegung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils machte er unter anderem geltend, dass die Kenntlichmachung der ihm gewährten Schreibzeitverlängerung mit § 5 Abs. 1 NJAVO unvereinbar sei. Einschränkungen des prüfungsrechtlichen Prinzips anonymer Beurteilungen seien nur zulässig, wenn sie sachlich geboten seien und der Grundsatz der Chancengleichheit gewahrt sei. Chancengleiche Prüfungsbedingungen seien durch die Kenntlichmachung der ihm zum Nachteilsausgleich gestatteten Schreibzeitverlängerung allerdings nicht gewahrt.

Das Oberverwaltungsgericht lehnte seinen Antrag auf Zulassung der Berufung mit Beschluss vom 17. September 2019 ab. Die Berufung sei nicht wegen der Kenntlichmachung der dem Beschwerdeführer gewährten Schreibzeitverlängerung zuzulassen. Diese Verfahrensweise verstoße nicht gegen § 5 Satz 1 NJAVO. Denn es sei nicht ersichtlich, dass die Offenlegung einer gewährten Schreibzeitverlängerung einen Rückschluss auf die Person des Prüflings zulasse. Ein Nachteilsausgleich in Form einer Schreibzeitverlängerung werde vielfach und aufgrund vielfältiger Ursachen gewährt. Schon begrifflich handele es sich bei der Bearbeitungszeit zudem nicht um eine Mitteilung über die Person des Prüflings, sondern eine Information zum Ablauf des Prüfungsverfahrens. Auch aus Verfassungs- und Konventionsrecht - namentlich dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 GG und Art. 14 EMRK - folge kein anderes Ergebnis. Insoweit habe das Bundesverwaltungsgericht wiederholt entschieden, dass Bundesrecht - auch in Gestalt des Bundesverfassungsrechts - für landesrechtlich geregelte Prüfungen keine Vorgaben dazu enthalte, ob, inwieweit und in welcher Weise bei schriftlichen Prüfungen die Anonymität des Prüflings zu gewährleisten sei.

4. Dagegen erhob der Beschwerdeführer eine Anhörungsrüge (§ 152a VwGO ) und beanstandete unter anderem, dass das Oberverwaltungsgericht nicht darauf eingegangen sei, dass in der Kenntlichmachung der ihm gewährten Schreibzeitverlängerung eine Mitteilung über die Person des Prüflings liege und sich die Offenlegung der ihm zur Wahrung der prüfungsrechtlichen Chancengleichheit gewährten Schreibzeitverlängerung nachteilig für ihn auswirke.

Das Oberverwaltungsgericht wies die Anhörungsrüge mit Beschluss vom 29. Oktober 2019 zurück und führte aus, dass sich das Gericht mit einem möglichen Verstoß gegen § 5 Satz 1 NJAVO befasst und diesen verneint habe.

II.

1. Der Beschwerdeführer sieht sich durch den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 17. September 2019 in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Das Oberverwaltungsgericht habe seinen Antrag auf Berufungszulassung abgelehnt und die Offenlegung der ihm gewährten Schreibzeitverlängerung nicht als verfahrensfehlerhaft beanstandet, ohne sich mit seinem Vorbringen befasst zu haben, dass diese Verfahrensweise mit dem prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit unvereinbar sei.

2. Außerdem macht er geltend, durch die angegriffenen Entscheidungen, soweit das Prüfungsverfahren trotz der Offenlegung der Schreibzeitverlängerung nicht als verfahrensfehlerhaft angesehen worden sei, in seinen Rechten aus Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 , Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 GG , durch den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 17. September 2019 zudem in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 und Art. 101 Abs. 1 GG verletzt zu sein. Diese Verfahrensweise sei mit dem prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit nicht vereinbar (Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG ) und stelle eine diskriminierende Behandlung dar (Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 GG ). Das Oberverwaltungsgericht hätte daher die Berufung zulassen (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ), sich zudem mit europarechtlicher Rechtsprechung befassen müssen (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ) und über die Anhörungsrüge nicht in einer anderen Besetzung als in dem damit angegriffenen Beschluss entscheiden dürfen (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ). Die Gerichte hätten sich zudem auch mit seinem darüber hinaus geltend gemachten Vorbringen nicht befasst (Art. 103 Abs. 1 GG ). Die Entscheidungen verletzten ihn ferner in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sowie Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 GG .

III.

Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen. Das Niedersächsische Justizministerium hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.

IV.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Die Annahme ist nach § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Durchsetzung von in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechten des Beschwerdeführers angezeigt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet, soweit das Oberverwaltungsgericht im Beschluss vom 17. September 2019 das Vorliegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils verneint und den Berufungszulassungsantrag abgelehnt hat, ohne sich mit den vom Beschwerdeführer geltend gemachten Bedenken an der Vereinbarkeit der Kenntlichmachung der ihm zum Nachteilsausgleich gewährten Schreibzeitverlängerung mit dem prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit befasst zu haben. Insoweit ist der Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist im dargelegten Umfang zulässig. Der Beschwerdeführer zeigt die gerügte Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG durch den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 17. September 2019 hinreichend nachvollziehbar auf (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG ), indem er ausführt, dass sich das Oberverwaltungsgericht mit seinem entscheidungserheblichen Vorbringen zur Unvereinbarkeit der Offenlegung der ihm gewährten Schreibzeitverlängerung mit dem prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit nicht befasst habe. Auch wenn seine Verfassungsbeschwerdeschrift teilweise erst nach Ablauf der einmonatigen Frist zur Erhebung und Begründung der Verfassungsbeschwerde (§ 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ) eingegangen ist, hat er fristgerecht das für eine verfassungsrechtliche Prüfung dieses Einwands unverzichtbare fachgerichtliche Vorbringen und die entsprechenden Ausführungen in den angegriffenen Entscheidungen wiedergegeben. Auf den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Verfassungsbeschwerdefrist kommt es daher nicht an. Der Beschwerdeführer hat mit der erfolglosen Durchführung des Anhörungsrügeverfahrens zudem den Grundsatz der Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ) gewahrt.

2. Die Verfassungsbeschwerde ist im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet. Der Beschwerdeführer ist durch den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 17. September 2019 in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, da das Oberverwaltungsgericht seine im Berufungszulassungsantrag dargelegten Bedenken an der im Urteil des Verwaltungsgerichts nicht beanstandeten Vereinbarkeit der Offenlegung der Schreibzeitverlängerung mit dem prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit nicht berücksichtigt hat.

a) In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist geklärt, dass der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör das entscheidende Gericht verpflichtet, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 11, 218 <220>; 72, 119 <121>; 86, 133 <145>, stRspr). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen der Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Die Gerichte brauchen nicht jedes Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden. Das Bundesverfassungsgericht kann nur dann feststellen, dass ein Gericht seine Pflicht, den Vortrag der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, verletzt hat, wenn sich dies aus den besonderen Umständen des Falles ergibt (vgl. BVerfGE 22, 267 <274>; 96, 205 <216 f.>, stRspr).

b) Gemessen daran beruht der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts auf einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG .

aa) Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, es erweise sich nicht als verfahrensfehlerhaft, dass die dem Beschwerdeführer gewährte Schreibzeitverlängerung auf den Mantelbögen seiner Klausuren vermerkt und seinen Prüfern dadurch kenntlich gemacht worden sei. Zur Darlegung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit dieser Rechtsauffassung (§ 124a Abs. 4 , § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ) hat der Beschwerdeführer in seinem Berufungszulassungsantrag nicht nur geltend gemacht, dass diese Verfahrensweise mit der nach § 5 Satz 1 NJAVO zu wahrenden Anonymität unvereinbar sei, sondern auch beanstandet, dass er dies für unvereinbar mit dem Grundsatz der Chancengleichheit halte und kein sachlicher Grund ersichtlich sei, der diese Kenntlichmachung rechtfertige. Das Oberverwaltungsgericht hat festgestellt, dass die Berufung nicht wegen der Kenntlichmachung der dem Beschwerdeführer gewährten Schreibzeitverlängerung zuzulassen sei, allerdings nur dargelegt, weshalb es diese Verfahrensweise für vereinbar mit § 5 Satz 1 NJAVO erachte, und ausgeführt, dass auch aus dem Verfassungs- und Konventionsrecht - namentlich Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 GG sowie Art. 14 EMRK - kein anderes Ergebnis folge. Mit der Frage, ob die Offenlegung der Schreibzeitverlängerung mit dem im Prüfungsverfahren zu gewährleistenden Grundsatz der Chancengleichheit vereinbar ist, hat sich das Oberverwaltungsgericht im Beschluss vom 17. September 2019 nicht im Ansatz auseinandergesetzt.

bb) Die Nichtberücksichtigung des Vorbringens des Beschwerdeführers im angegriffenen Beschluss offenbart eine Gehörsverletzung. Denn es ist nicht ersichtlich, dass der Einwand des Beschwerdeführers aus Gründen des formellen oder des materiellen Rechts unberücksichtigt bleiben konnte.

(1) Der Beschwerdeführer hat noch hinreichend substantiiert und damit die Begründungsanforderungen von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO wahrend dargelegt, die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Kenntlichmachung der ihm gewährten Schreibzeitverlängerung nicht verfahrensfehlerhaft sei, aus Rechtsgründen für unrichtig zu erachten, weil er hierin einen Verstoß gegen den Grundsatz der prüfungsrechtlichen Chancengleichheit sehe. Sein Vorbringen war daher - was auch das Oberverwaltungsgericht nicht in Frage gestellt hat - nicht offensichtlich unzulässig.

(2) Es kann zudem nicht ausgeschlossen werden, dass das Oberverwaltungsgericht unter Berücksichtigung dieses Vorbringens zu einer für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gekommen wäre und die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zugelassen hätte. Denn die Offenlegung der zum Nachteilsausgleich gewährten Schreibzeitverlängerung gegenüber den Prüfern begegnet Bedenken im Hinblick auf den prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit, sodass eine Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils bei der gebotenen Würdigung der Zulassungsrüge des Beschwerdeführers durchaus in Betracht gekommen wäre.

In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist anerkannt, dass Prüflinge aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG einen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf gleiche Prüfungschancen haben (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 21. Dezember 1992 - 1 BvR 1295/90 -, juris, Rn. 19). Nach dem Grundsatz der Chancengleichheit, der das Prüfungsrecht beherrscht (vgl. BVerfGE 37, 342 <352 f.>; 79, 212 <218>), müssen für vergleichbare Prüflinge so weit wie möglich vergleichbare Prüfungsbedingungen und Bewertungskriterien gelten (BVerfGE 84, 34 <52>). Das Gebot der Chancengleichheit soll sicherstellen, dass alle Prüflinge möglichst gleiche Chancen haben, die Leistungsanforderungen zu erfüllen.

Ausgehend davon haben einzelne Prüflinge, deren Fähigkeit zur Darstellung ihres vorhandenen Leistungsvermögens beeinträchtigt ist, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Anspruch auf Änderung der einheitlichen äußeren Prüfungsbedingungen, um ihnen die gleichen Chancen zur Erfüllung der abgeprüften Leistungsanforderungen zu eröffnen (vgl. hierzu und zum Folgenden BVerwG, Urteil vom 29. Juli 2015 - 6 C 35.14 - BVerwGE 152, 330 ). Zu den typischen Maßnahmen eines solchen Nachteilsausgleichs zählt neben der Benutzung technischer Hilfsmittel die Verlängerung der Bearbeitungszeit in Fällen, in denen es einem Prüfling - etwa wie hier dem Beschwerdeführer wegen seiner Sehbeeinträchtigung - nicht möglich ist, seine Kenntnisse und Fähigkeiten im selben Zeitraum darzustellen wie die übrigen Prüflinge. Wenn die dem Beschwerdeführer gewährte Schreibzeitverlängerung somit lediglich dazu diente, ihm chancengleiche äußere Bedingungen für die Erfüllung der abgeprüften Leistungsanforderungen zu verschaffen, ist kein sachlicher Grund erkennbar, weshalb die verlängerte Bearbeitungszeit auf den Mantelbögen seiner Klausuren vermerkt wurde. Im Gegenteil könnte eine solche Offenbarung des gewährten Nachteilsausgleichs gegenüber den Prüfern geeignet sein, die mit dem Ausgleich hergestellte Chancengleichheit zu konterkarieren. Jedenfalls hätte das Oberverwaltungsgericht aufgrund der Rügen des Beschwerdeführers Anlass gehabt, näher zu prüfen, ob die Berufung zur Klärung dieser Problematik zuzulassen ist.

cc) Eine Heilung des Gehörsverstoßes im Anhörungsrügeverfahren (vgl. hierzu auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. Februar 2009 - 1 BvR 188/09 -, Rn. 13 ff.) ist nicht erfolgt. Das Oberverwaltungsgericht hat sich auch im Anhörungsrügeverfahren nicht mit den vom Beschwerdeführer aufgezeigten Bedenken an der Vereinbarkeit der Offenlegung der Schreibzeitverlängerung mit dem Grundsatz der Chancengleichheit befasst.

dd) Der angegriffene Beschluss beruht auf dem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG . Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Oberverwaltungsgericht bei Berücksichtigung der - im Hinblick auf die Vereinbarkeit der offengelegten Schreibzeitverlängerung mit dem prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit aufgezeigten - Bedenken des Beschwerdeführers die Berufung zugelassen hätte.

3. Die festzustellende Verletzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör führt zur Aufhebung des den Berufungszulassungsantrag zurückweisenden Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 17. September 2019. Ob der Beschwerdeführer durch die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts, dass die Berufung nicht wegen der Kenntlichmachung der Schreibzeitverlängerung zuzulassen sei, in weiteren Grundrechten verletzt ist, kann daher dahinstehen.

V.

Im Übrigen liegen die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung nicht vor. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

VI.

Es ist festzustellen, dass der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 17. September 2019 - 2 LA 313/19 - den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Die Sache ist an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BVerfGG ). Der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 29. Oktober 2019 - 2 LA 313/19 - wird damit gegenstandslos.

Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 , Abs. 3 BVerfGG .

Die Festsetzung des Gegenstandswertes für die anwaltliche Tätigkeit stützt sich auf § 37 Abs. 2 Satz 2, § 14 Abs. 1 RVG in Verbindung mit den Grundsätzen über die Festsetzung des Gegenstandswertes im verfassungsgerichtlichen Verfahren (vgl. BVerfGE 79, 365 <368 ff.>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Vorinstanz: VG Lüneburg, vom 22.11.2018 - Vorinstanzaktenzeichen 6 A 536/16
Vorinstanz: OVG Niedersachsen, vom 29.10.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 2 LA 313/19
Vorinstanz: OVG Niedersachsen, vom 17.09.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 2 LA 313/19
Fundstellen
NJW 2021, 2957
NVwZ-RR 2021, 921