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BGH - Entscheidung vom 23.02.2021

XIII ZB 113/19

Normen:
StGB § 265a
AufenthG § 62 Abs. 3 S. 3
AufenthG § 72 Abs. 4

BGH, Beschluss vom 23.02.2021 - Aktenzeichen XIII ZB 113/19

DRsp Nr. 2021/6770

Voraussetzungen für die Darlegungspflicht zur Erteilung eines Haftbefehls gegen einen gambischen Flüchtling wegen Leistungserschleichung

1. Ergibt sich aus dem Haftantrag oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne Weiteres ein laufendes und nicht offensichtlich zustimmungsfreies Ermittlungsverfahren, ist der Haftantrag im Hinblick auf die von § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG geforderten Darlegungen zu den Voraussetzungen und zur Durchführbarkeit der Abschiebung oder Überstellung nur zulässig, wenn die Behörde dieses mögliche Abschiebungs- oder Überstellungshindernis ausräumt. Dafür genügt es in der Regel jedoch, wenn die Behörde darlegt, das Einvernehmen liege vor, sei entbehrlich oder werde bis zum vorgesehenen Abschiebungs- oder Überstellungstermin voraussichtlich vorliegen oder entbehrlich geworden sein.2. Zwar muss das Haftgericht, wenn der Betroffene im Laufe des Verfahrens auf ein weiteres Ermittlungsverfahren hinweist, das sich weder aus dem Haftantrag noch aus den ihm beigefügten Unterlagen ergibt, im Rahmen der Amtsermittlungspflicht nach § 26 FamFG der Frage nachgehen, ob die Staatsanwaltschaft ihr Einvernehmen erteilt hat oder voraussichtlich bis zur Abschiebung erteilen wird. Erfolgt der Hinweis auf ein (weiteres) Ermittlungsverfahren - wie hier - allerdings erst im Beschwerdeverfahren und zudem erst nachdem der Betroffene abgeschoben worden ist, braucht das Beschwerdegericht diesem Hinweis nicht weiter nachzugehen, weil zum einen bei der Überprüfung der vom Amtsgericht angestellten Prognose dessen Kenntnisstand im Zeitpunkt seiner Entscheidung zugrunde zu legen ist und zum anderen das Beschwerdegericht nach erfolgter Abschiebung des Betroffenen selbst keine Prognoseentscheidung über das Gelingen der Abschiebung mehr zu treffen hat.

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der Zivilkammer 5 des Landgerichts Stendal vom 15. Juli 2019 wird auf Kosten des Betroffenen mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass Dolmetscherkosten nicht erhoben werden.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Normenkette:

StGB § 265a; AufenthG § 62 Abs. 3 S. 3; AufenthG § 72 Abs. 4 ;

Gründe

I. Der Betroffene ist gambischer Staatsangehöriger. Er reiste am 13. September 2017 aus Italien kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein. Einen von ihm gestellten Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit bestandskräftigem Bescheid vom 16. Oktober 2017 ab. Dem Betroffenen wurde zugleich die Überstellung nach Italien im Rahmen des Dublin-Regimes angedroht.

Nachdem die beteiligte Behörde mehrfach vergeblich versucht hatte, den Betroffenen nach Italien zurückzuführen, er zu den festgesetzten Terminen nicht anzutreffen war, anschließend untertauchte, sodann am 8. März 2019 festgenommen und zur Vollstreckung einer bis zum 6. April 2019 dauernden Ersatzfreiheitsstrafe in die Justizvollzugsanstalt Burg verbracht worden war, hat die beteiligte Behörde am 5. April 2019 die Anordnung von Überstellungshaft beantragt. Mit Beschluss vom selben Tag hat das Amtsgericht Haft antragsgemäß bis zum 30. April 2019 angeordnet. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat das Landgericht mit Beschluss vom 15. Juli 2019 zurückgewiesen, nachdem der Betroffene am 30. April 2019 nach Italien überstellt worden war. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene die Feststellung, durch die Anordnung der Haft in seinen Rechten verletzt worden zu sein.

II. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet.

1. Das Beschwerdegericht hat gemeint, der Haftantrag der beteiligten Behörde genüge den Anforderungen des § 417 Abs. 2 FamFG . Es habe der Haftgrund der Fluchtgefahr vorgelegen. Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft sei, soweit erforderlich, gegeben gewesen. Im Hinblick auf das Verfahren zum Gz. 353 Js 28276/18 der Staatsanwaltschaft Magdeburg hätten die Ermittlungen ergeben, dass dieses Verfahren den Vorwurf der Leistungserschleichung nach § 265a StGB betroffen habe und bereits am 12. Oktober 2018 eingestellt worden sei. Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot habe nicht vorgelegen. Die beteiligte Behörde habe zeitnah, jedoch vergeblich versucht, den Betroffenen aus der Strafhaft abzuschieben.

2. Diese Ausführungen lassen keine Rechtsfehler erkennen.

a) Der Haftantrag war zulässig.

aa) Ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungs- oder Überstellungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung oder Überstellung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG ). Zwar dürfen die Ausführungen zur Begründung des Haftantrags knapp gehalten sein; sie müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte ansprechen. Sind diese Anforderungen nicht erfüllt, darf die beantragte Sicherungshaft nicht angeordnet werden (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 15. September 2011 - V ZB 123/11, InfAuslR 2012, 25 Rn. 8; vom 12. November 2019 - XIII ZB 5/19, InfAuslR 2020, 165 Rn. 8, und vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 74/19, juris Rn. 7).

bb) Diese Anforderungen erfüllt der Haftantrag der beteiligten Behörde.

(1) Die beteiligte Behörde hat im Hinblick auf die erforderliche Dauer der Haft nachvollziehbar unter Bezugnahme auf Auskünfte des Landesverwaltungsamts/Referat Zentrales Rückkehrmanagement dargelegt, dass aufgrund der "derzeitig extrem eingeschränkten Kapazitäten" eine Rückführung nicht vor dem 30. April 2019 möglich sei, die Behörde aber bereits die Zusicherung erhalten habe, die Rückführung nach Italien bis zu diesem Datum durchzuführen. Der beteiligten Behörde lag zu diesem Zeitpunkt schon die Ankündigung der Überstellung am 30. April 2019 unter Angabe von Flugnummer und Abflugzeit vor.

(2) Der Haftantrag war auch nicht deshalb unzulässig, weil er keine Angaben dazu enthielt, ob das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft Magdeburg zur Überstellung nach § 72 Abs. 4 AufenthG im Hinblick auf ein bei ihr unter dem Gz. 353 Js 28276/18 geführtes Ermittlungsverfahren vorlag.

(a) Ergibt sich aus dem Haftantrag oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne Weiteres ein laufendes und nicht offensichtlich zustimmungsfreies Ermittlungsverfahren, ist der Haftantrag im Hinblick auf die von § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG geforderten Darlegungen zu den Voraussetzungen und zur Durchführbarkeit der Abschiebung oder Überstellung nur zulässig, wenn die Behörde dieses mögliche Abschiebungs- oder Überstellungshindernis ausräumt. Dafür genügt es in der Regel, wenn die Behörde darlegt, das Einvernehmen liege vor, sei entbehrlich oder werde bis zum vorgesehenen Abschiebungs- oder Überstellungstermin voraussichtlich vorliegen oder entbehrlich geworden sein (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. Februar 2020 - XIII ZB 15/19, BGHZ 224, 344 = InfAuslR 2020, 242 Rn. 19, und vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 48/19, juris Rn. 7).

(b) Diesen Anforderungen genügt der Haftantrag der beteiligten Behörde. Dort wird dargelegt, dass ihr außer den dort aufgeführten Verfahren keine weiteren staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren bekannt seien; sollten weitere Verfahren vorliegen, könne erfahrungsgemäß das Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaft kurzfristig eingeholt werden. Der Antrag musste entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde keine Ausführungen zum Vorliegen oder zur Entbehrlichkeit eines etwa erforderlichen staatsanwaltschaftlichen Einvernehmens im Hinblick auf das Ermittlungsverfahren zum Gz. 353 Js 28276/18 der Staatsanwaltschaft Magdeburg enthalten. Weder aus dem Haftantrag noch aus den ihm beigefügten Unterlagen ließen sich Hinweise auf dieses Verfahren entnehmen. Sie ergaben sich nur aus der Ausländerakte, die weder Bestandteil noch Anlage des Antrags ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Mai 2019 - V ZB 188/17, juris Rn. 11; vom 22. August 2019 - V ZB 179/17, juris Rn. 20; BGHZ 224, 344 Rn. 9).

b) Weder das Amtsgericht noch das Beschwerdegericht haben in der Sache etwaige Abschiebungshindernisse rechtsfehlerhaft übergangen.

aa) Ergibt sich - wie hier - ein (weiteres) laufendes Ermittlungsverfahren weder aus dem Haftantrag noch aus den ihm beigefügten Unterlagen, führt allein das Fehlen eines nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG etwaig erforderlichen Einvernehmens der Staatsanwaltschaft nicht zur Rechtswidrigkeit einer Haftanordnung (BGHZ 224, 344 Rn. 12 ff.). Ein solches Ermittlungsverfahren stellt jedoch ein im Rahmen der Prognose nach § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG zu berücksichtigendes mögliches Hindernis für die Abschiebung dar, wenn zu erwarten ist, dass die Abschiebung an dem fehlenden Einvernehmen der Staatsanwaltschaft scheitern wird. Dies wird regelmäßig nur bei Straftaten von gewissem Gewicht in Betracht kommen. Ergibt sich - wie hier - weder aus dem Antrag noch aus den ihm beigefügten Unterlagen ein (weiteres) laufendes und nicht offensichtlich zustimmungsfreies Ermittlungsverfahren, so braucht das Gericht diesen Umstand bei der von ihm durchzuführenden Prognose auch nicht in Rechnung zu stellen (BGHZ 224, 344 Rn. 19 f.).

bb) Das Beschwerdegericht war - anders als die Rechtsbeschwerde meint - im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht nach § 26 FamFG nicht gehalten, der Frage weiter nachzugehen, auf welcher rechtlichen Grundlage das genannte Ermittlungsverfahren eingestellt worden war und ob sich daraus eine etwaige Pflicht zur Einholung des staatsanwaltlichen Einvernehmens ergab.

Zwar muss das Haftgericht, wenn der Betroffene im Laufe des Verfahrens auf ein solches Ermittlungsverfahren hinweist, im Rahmen der Amtsermittlungspflicht nach § 26 FamFG der Frage nachgehen, ob die Staatsanwaltschaft ihr Einvernehmen erteilt hat oder voraussichtlich bis zur Abschiebung erteilen wird (BGHZ 224, 344 Rn. 20; BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2020 - XIII ZB 70/19, juris Rn. 17). Erfolgt der Hinweis auf ein (weiteres) Ermittlungsverfahren - wie hier - allerdings erst im Beschwerdeverfahren und zudem erst nachdem der Betroffene abgeschoben worden ist, braucht das Beschwerdegericht diesem Hinweis nicht weiter nachzugehen, weil zum einen bei der Überprüfung der vom Amtsgericht angestellten Prognose dessen Kenntnisstand im Zeitpunkt seiner Entscheidung zugrunde zu legen ist und zum anderen das Beschwerdegericht nach erfolgter Abschiebung des Betroffenen selbst keine Prognoseentscheidung über das Gelingen der Abschiebung mehr zu treffen hat.

c) Das Beschwerdegericht hat schließlich rechtsfehlerfrei einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot verneint.

aa) Das Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen schließt zwar einen organisatorischen Spielraum der Behörde bei der Umsetzung der Abschiebung nicht aus (BGH, Beschlüsse vom 21. Oktober 2010 - V ZB 56/10, juris Rn. 13; vom 19. Mai 2011 - V ZB 247/10, juris Rn. 7). Es verlangt aber, dass die Abschiebungs- oder Überstellungshaft auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt wird und die Ausländerbehörde die Abschiebung oder Überstellung ohne unnötige Verzögerung betreibt. Ein Verstoß hiergegen führt dazu, dass die Haft aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht mehr aufrechterhalten werden darf (BGH, Beschlüsse vom 10. Juni 2010 - V ZB 205/09, juris Rn. 16; vom 10. Oktober 2013 - V ZB 25/13, juris Rn. 6, und vom 24. Juni 2020 - XIII ZB 9/19, juris Rn. 12).

bb) Diesen rechtlichen Maßstab hat das Beschwerdegericht zutreffend zugrunde gelegt. Seine Würdigung, dass die beteiligte Behörde bei der Planung und Durchführung der Überstellung den sich aus dem Beschleunigungsgebot ergebenden Anforderungen gerecht geworden ist, unterliegt im Rechtsbeschwerdeverfahren nur eingeschränkter Überprüfung (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 11/19, juris Rn. 13). Sie lässt keinen Rechtsfehler erkennen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2 , § 83 Abs. 2 FamFG . Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG .

Vorinstanz: AG Burg, vom 05.04.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 63 XIV 10/19
Vorinstanz: LG Stendal, vom 15.07.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 25 T 49/19