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BGH - Entscheidung vom 26.01.2021

XIII ZB 14/19

Normen:
FamFG § 417 Abs. 1
FamFG § 417 Abs. 2 S. 2 Nr. 3-5
GG Art. 2 Abs. 2 S. 2

BGH, Beschluss vom 26.01.2021 - Aktenzeichen XIII ZB 14/19

DRsp Nr. 2021/5632

Überschreiten des Zeitraums der Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung eines Betroffenen hinsichtlich Rechtsverletzung

Die Anordnung der Sicherungshaft ist auf den Zeitraum zu begrenzen, für den der festgestellte Sachverhalt eine Anordnung von Sicherungshaft trägt.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde wird unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels der Beschluss der 9. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund vom 15. Januar 2018 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als der Antrag des Betroffenen auf Feststellung, dass der Beschluss des Amtsgerichts Dortmund vom 29. Mai 2017 ihn in dem Zeitraum vom 15. Juni bis 14. Juli 2017 in seinen Rechten verletzt hat, zurückgewiesen worden ist.

Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Dortmund vom 29. Mai 2017 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat, soweit Sicherungshaft vom 15. Juni bis 14. Juli 2017 angeordnet worden ist.

Von den gerichtlichen Kosten trägt der Betroffene ein Drittel mit der Maßgabe, dass Dolmetscherkosten nicht erhoben werden. Weitere gerichtliche Kosten werden nicht erhoben. Die Stadt Dortmund trägt zwei Drittel der außergerichtlichen Kosten des Betroffenen; im Übrigen trägt sie dieser selbst.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Normenkette:

FamFG § 417 Abs. 1 ; FamFG § 417 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 -5; GG Art. 2 Abs. 2 S. 2;

Gründe

I. Der Betroffene, ein marokkanischer Staatsangehöriger, reiste unerlaubt in das Bundesgebiet ein und stellte am 8. Oktober 2013 einen Asylantrag. Diesen Antrag erachtete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (fortan: Bundesamt) mit Bescheid vom 6. Juli 2016 als zurückgenommen und stellte das Asylverfahren ein. Am 19. Januar 2017 stellte der Betroffene einen erneuten Asylantrag; er wurde der zentralen Unterbringungseinrichtung Bochum zugewiesen. Mit Bescheid vom 23. Januar 2017 lehnte das Bundesamt diesen als Fortführungsantrag behandelten Asylantrag als offensichtlich unbegründet ab, setzte dem Betroffenen eine Ausreisefrist von einer Woche und drohte ihm die Abschiebung nach Marokko an. Der Bescheid wurde dem Betroffenen am selben Tag übergeben. Nach einem Haftaufenthalt in der Justizvollzugsanstalt Mönchengladbach gelangte der Betroffene nach Dänemark. Von dort wurde er am 29. Mai 2017 per Flugzeug nach Deutschland überstellt und am Flughafen Düsseldorf von Mitarbeitern der beteiligten Behörde festgenommen. Diese stellte am selben Tag beim Amtsgericht den schriftlichen Antrag, gegen den Betroffenen Abschiebungshaft bis zum 14. Juni 2017 anzuordnen.

Auf den - im Rahmen der ebenfalls am 29. Mai 2017 erfolgten persönlichen gerichtlichen Anhörung des Betroffenen - hinsichtlich der erstrebten Haftdauer entsprechend geänderten mündlichen Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom selben Tag Sicherungshaft gegen den Betroffenen bis längstens 14. Juli 2017 angeordnet. Die nach Ablauf der Haftzeit mit einem Antrag auf Feststellung seiner Rechtsverletzung fortgesetzte Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.

II. Die Rechtsbeschwerde hat teilweise Erfolg, im Übrigen ist sie unbegründet.

1. Das Beschwerdegericht meint, die angeordnete Sicherungshaft habe den Betroffenen nicht in seinen Rechten verletzt. Der Haftantrag der beteiligten Behörde sei zulässig, da er sich zur zweifelsfreien Ausreisepflicht des Betroffenen, zur Erforderlichkeit der Haft und zur Haftdauer verhalte. Er sei auch begründet. Der Betroffene habe den Bescheid vom 23. Januar 2017 nebst Belehrung in arabischer Sprache ausgehändigt bekommen und sich dennoch unerlaubt nach Dänemark abgesetzt; von dort habe er überstellt werden müssen, was seine Absicht unterzutauchen nahelege. Die Haftanordnung sei auch verhältnismäßig gewesen. Insbesondere bestünden angesichts des auf dem Flug von Dänemark nach Deutschland verlorengegangenen Gepäcks des Betroffenen, welches gegebenenfalls eine Verschiebung des für den 13. Juni 2017 gebuchten Flugs habe erforderlich machen können, keine Bedenken gegen die Haftanordnung bis zum 14. Juli 2017. Die Haftanordnung sei trotz des Umstands, dass das Gepäck vor dem 13. Juni 2017 aufgefunden worden sei, auch noch im Zeitpunkt ihres Ablaufs am 14. Juli 2017 begründet gewesen, da der Flug am 13. Juni 2017 am Widerstand des Betroffenen gescheitert sei.

2. Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht in allen Punkten stand.

a) Allerdings fehlt es im Streitfall nicht an einem zulässigen Haftantrag.

aa) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ist der Haftantrag nicht nach § 417 Abs. 1 FamFG unzulässig, weil er von der unzuständigen Behörde gestellt worden wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 24. August 2020 - XIII ZB 83/19 , juris Rn. 20; Beschluss vom 28. April 2011 - V ZB 239/10 , FGPrax 2011, 200 Rn. 6). Der Oberbürgermeister der Stadt Dortmund war als zentrale Ausländerbehörde sachlich nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und örtlich nach § 13 Abs. 1 Nr. 8 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 der Verordnung über Zuständigkeiten im Ausländerwesen in der hier noch maßgeblichen Fassung vom 4. April 2017 (GV. NRW. S. 389 - ZustAVO NRW) für die Stellung des Haftantrags zuständig.

bb) Der Haftantrag ist auch nicht wegen einer unzulänglichen Begründung der beantragten Haftdauer unzulässig.

(1) Ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungs- oder Überstellungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung oder Überstellung und zur notwendigen Haftdauer ( § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG ). Zwar dürfen die Ausführungen zur Begründung des Haftantrags knapp gehalten sein; sie müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte ansprechen. Im Hinblick auf die beantragte Haftdauer ist eine auf den konkreten Fall bezogene Erläuterung unverzichtbar, warum eine kürzere Haftdauer nicht ausreicht ( BGH, Beschluss vom 30. August 2012 - V ZB 47/12 , juris Rn. 7). Sind diese Anforderungen nicht erfüllt, darf die beantragte Sicherungshaft nicht angeordnet werden (st. Rspr., vgl. BGH, Beschlüsse vom 15. September 2011 - V ZB 123/11 , InfAuslR 2012, 25 Rn. 8; vom 12. November 2019 - XIII ZB 5/19 , InfAuslR 2020, 165 Rn. 8; vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 74/19 , juris Rn. 7).

(2) Diesen Anforderungen genügte der Haftantrag vom 29. Mai 2017.

(a) Die beteiligte Behörde hatte in ihrem schriftlichen Haftantrag, in welchem sie für den Betroffenen Haft zur Sicherung der Abschiebung lediglich bis zum 14. Juni 2017 beantragt hatte, mitgeteilt, dass eine Abschiebung des Betroffenen für den 13. Juni 2017 möglich sein werde, da für diesen Tag bereits ein Flug gebucht sei und mit einem rechtzeitigen Eingang der von den marokkanischen Behörden zugesagten Passersatzpapiere gerechnet werde. In dem ebenfalls am 29. Mai 2017 stattfindenden Anhörungstermin beim Amtsgericht begründete die Behörde die Notwendigkeit eines um einen Monat längeren Haftzeitraums - nämlich bis zum 14. Juli 2017 - damit, dass das Gepäck des soeben aus Dänemark überstellten Betroffenen nicht auffindbar sei und daher gegebenenfalls eine Umbuchung des für den 13. Juni 2017 gebuchten Flugs vorgenommen werden müsse, wobei man in einem derartigen Fall davon ausgehe, dass die Abschiebung bis zum 14. Juli 2017 erfolgen könne.

(b) Diese Informationen haben dem Haftrichter eine hinreichende tatsächliche Grundlage dafür verschafft, selbständig zu beurteilen, welcher Haftzeitraum (zunächst) notwendig war, um die Abschiebung des Betroffenen sicherzustellen. Dabei ändert es an der Zulässigkeit des Haftantrags nichts, wenn diese Tatsachengrundlage nicht geeignet war, eine Haftanordnung bis zum 14. Juli 2017 zu rechtfertigen. Zweck des Begründungserfordernisses ist es, den Richter und den Betroffenen durch die Angaben der Behörde in die Lage zu versetzen, die Rechtmäßigkeit der beantragten Haft zu prüfen. Es reicht deshalb nachvollziehbarer Vortrag aus, der konkrete Nachfragen seitens der Haftgerichte ermöglicht ( BGH, Beschlüsse vom 6. Oktober 2020 - XIII ZB 21/19 , juris Rn. 11 a.E., und vom 19. Oktober 2020 - XIII ZB 43/19 , juris Rn. 17 a.E.). Dem genügten die Ausführungen. Inwieweit die Angaben in dem Haftantrag der beteiligten Behörde eine tragfähige Grundlage für die beantragte Haft bieten, ist dagegen keine Frage der Zulässigkeit, sondern der Begründetheit des Haftantrags (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2016 - V ZB 167/14 , juris Rn. 7 mwN).

b) Die Haftanordnung stellt sich, soweit sie den Zeitraum nach dem 14. Juni 2017 betrifft, als rechtswidrig dar, weil die vom Amtsgericht festgestellten Tatsachen eine Inhaftierung des Betroffenen im Zeitraum vom 15. Juni bis 14. Juli 2017 nicht tragen.

aa) Die Haftgerichte sind auf Grund von Art. 20 Abs. 3 und Art. 104 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtlich und auf Grund von § 26 FamFG einfachrechtlich verpflichtet, das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungshaft in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend zu prüfen. Die Freiheitsgewährleistung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt auch insoweit Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für die Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht. Der Richter hat nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG die Verantwortung für das Vorliegen der Voraussetzungen der von ihm angeordneten oder bestätigten Haft zu übernehmen. Dazu muss er die Tatsachen feststellen, die die Freiheitsentziehung rechtfertigen ( BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2016 - V ZB 167/14 , juris Rn. 9 mwN).

bb) Im Streitfall konnte der Sachverhalt, der sich aus den schriftlichen und mündlichen Angaben der beteiligten Behörde ergab und den das Amtsgericht nicht durch eigene Sachverhaltsermittlungen ergänzt hat, lediglich eine Haftanordnung bis zum 14. Juni 2017 rechtfertigen. Für den 13. Juni 2017 war die Abschiebung des Betroffenen bereits "durchorganisiert", insbesondere war ein Flug für ihn gebucht und alles Notwendige für den rechtzeitigen Erhalt der Passersatzpapiere veranlasst. Den - protokollierten - Erklärungen des Vertreters der beteiligten Behörde im Anhörungstermin am 29. Mai 2017 lässt sich nicht entnehmen, warum der Gepäckverlust einen Hinderungsgrund für die Durchführung des Abschiebungstermins darstellte, der mehr als zwei Wochen später stattfinden sollte. Weder wurde erläutert, dass und aus welchen Gründen eine Abschiebung ohne dieses Gepäck ausschied, noch dargelegt, dass es praktisch (objektiv) ausgeschlossen war, innerhalb der verbleibenden gut zwei Wochen das Gepäck aufzufinden. Dies hätte das Haftgericht jedoch klären müssen, da vor dem Hintergrund, dass für die Behörde gegebenenfalls die Möglichkeit bestanden hätte, am 14. Juni 2017 einen Haftverlängerungsantrag zu stellen, nur in diesem Fall eine Haftanordnung über den 14. Juni 2017 hinaus am 29. Mai 2017 gerechtfertigt gewesen wäre.

cc) Dass aufgrund des vom Betroffenen zu vertretenden Scheiterns der Durchführung der Abschiebung am 13. Juni 2017 (möglicherweise) eine - nahtlose - Verlängerung der Haft bis zum 14. Juli 2017 hätte angeordnet werden können, steht der Rechtswidrigkeit der Haftanordnung für den Zeitraum vom 15. Juni bis 14. Juli 2017 nicht entgegen. Denn im Zeitpunkt der Anordnung am 29. Mai 2017 war diese Entwicklung nicht abzusehen. Es lag daher kein tragfähiger Sachverhalt für eine über den 14. Juni 2017 hinausgehende Anordnung von Sicherungshaft vor. Das Amtsgericht hätte deshalb Haft nur bis zu diesem Zeitpunkt anordnen dürfen (vgl. BGH, Beschluss vom 20. September 2018 - V ZB 102/16 , juris Rn. 30 für Beschwerdeverfahren). Die einer Haftanordnung nachfolgende Entwicklung des Sachverhalts ist nur bei der Entscheidung über die Aufrechterhaltung einer Haft im Beschwerdeverfahren unter erneuter Anhörung des Betroffenen oder ohne eine solche Anhörung im Verfahren zur Aufhebung einer rechtskräftig gewordenen Haftanordnung zu berücksichtigen (vgl. zu letzterem BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2020 - XIII ZB 85/19 , juris Rn. 21). Die Haftanordnung darf den Zeitraum nicht überschreiten, für den der festgestellte Sachverhalt eine Anordnung von Sicherungshaft trägt; in einem darüber hinausgehenden Zeitraum wäre sie eine unzulässige Vorratshaft (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Januar 2017 - V ZB 144/15 , juris Rn. 8 mwN).

3. Im Übrigen wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG von einer Begründung abgesehen.

Vorinstanz: AG Dortmund, vom 29.05.2017 - Vorinstanzaktenzeichen 810 XIV (B) 43/17
Vorinstanz: LG Dortmund, vom 15.01.2018 - Vorinstanzaktenzeichen 9 T 370/17