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BGH - Entscheidung vom 15.04.2021

2 StR 69/21

Normen:
StPO § 261

BGH, Beschluss vom 15.04.2021 - Aktenzeichen 2 StR 69/21

DRsp Nr. 2021/9288

Revision wegen nicht ordnungsgemäß durchgeführten Beweisverfahrens durch den Tatrichter in einem Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern

Sieht das Tatgericht einen Anlass zur Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens und will es dem Gutachten folgen, hat es zunächst die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und methodischen Darlegungen, die zum Verständnis des Gutachtens erforderlich sind, darzulegen. Insoweit ist es im Allgemeinen ausreichend, wenn die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und methodischen Darlegungen in einer Weise mitgeteilt werden, die zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit und sonstigen Rechtsfehlerfreiheit erforderlich sind. Das Urteil muss aber auch erkennen lassen, ob sich das Tatgericht dem Gutachten aus eigener Überzeugung angeschlossen hat und gegebenenfalls warum es ihm gefolgt ist.

Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 8. Oktober 2020 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit er verurteilt wurde.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Normenkette:

StPO § 261 ;

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten mit einer Verfahrensrüge und der Sachbeschwerde. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der Angeklagte ist der Vater der am 23. Dezember 1991 geborenen Geschädigten. Zwischen November 2002 und Oktober 2004 kam es zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten auf diese.

Die Geschädigte kam in der Kindheit oft nachts ins Elternschlafzimmer, weil sie sich fürchtete. Im Tatzeitraum kam es bei mindestens zwei Gelegenheiten dazu, dass sie zwischen den Eltern im Bett lag und der Angeklagte ihr mit der Hand in den Schlafanzug und in die Unterhose griff und an ihrer Scheide manipulierte (Fälle 1 und 2 der Urteilsgründe).

Im Oktober 2004 lag die Geschädigte abends auf dem Sofa im Wohnzimmer. Der Angeklagte wies sie an, sich auszuziehen und in das Bett der zu diesem Zeitpunkt abwesenden älteren Schwester zu legen. Er entkleidete sich und manipulierte mit der Hand an der Scheide sowie an den Brüsten der Geschädigten. Dann drehte er die Geschädigte auf den Rücken, legte sich auf sie und machte den Geschlechtsverkehr imitierende Bewegungen. Als die Geschädigte ihn wegdrückte und äußerte, dass sie dies nicht wolle, ließ er von ihr ab (Fall 3 der Urteilsgründe).

2. Im Jahr 2004 litt die Geschädigte unter einem Scheidenpilz und einer Entzündung am After. Sie vermutete als Ursache dafür die sexuellen Übergriffe des Angeklagten und äußerte dies gegenüber der Frauenärztin. Danach wurde der Vorwurf auch ihrer Mutter bekannt, die den Angeklagten zur Rede stellte. Dieser stritt die Vorwürfe ab. Die Geschädigte vertraute sich dann einer Freundin und deren Mutter sowie einer Sozialarbeiterin an. Sie wurde vom Jugendamt in einem Kinderheim untergebracht. In diesem Zusammenhang wurde ein Gutachten durch die Sachverständige Dr. T. erstellt.

Die Geschädigte erstattete zunächst keine Strafanzeige gegen den Angeklagten. Sie kehrte in den Haushalt ihrer Eltern zurück, um sich um ihre schwer erkrankte Mutter zu kümmern. Nach deren Tod lernte sie ihren Ehemann kennen und zog aus dem Elternhaus aus. Sie litt unter Albträumen, die sich während ihrer Schwangerschaft verstärkten. Deshalb erstattete sie am 3. November 2017 Strafanzeige gegen den Angeklagten.

3. Der Angeklagte hat die Vorwürfe bestritten. Das sachverständig beratene Landgericht ist den Zeugenaussagen der Geschädigten gefolgt, die es als glaubhaft angesehen hat. Darauf beruhen die Feststellungen zu den abgeurteilten Taten; soweit dem Angeklagten in den Fällen 1 – 24 der Anklageschrift weitere Übergriffe nach Art der Fälle 1 und 2 der Urteilsgründe vorgeworfen wurden, hat das Landgericht ihn wegen Unsicherheiten bei den Angaben der Geschädigten über die Anzahl der „feststellbaren Taten“ freigesprochen.

II.

Die Revision des Angeklagten ist mit der Sachrüge begründet, sodass es auf die Verfahrensrüge nicht ankommt. Die Beweiswürdigung des Landgerichts begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

1. Die Beweiswürdigung ist vom Gesetz dem Tatgericht übertragen. Ihm allein obliegt es, nach § 261 StPO grundsätzlich „frei“, das heißt ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln, das Ergebnis der Beweisaufnahme festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstößt (vgl. nur BGH, Urteil vom 13. Oktober 2020 – 1 StR 299/20, NStZ-RR 2021, 24 ).

Auch die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen ist grundsätzlich Aufgabe des Tatgerichts. Sieht es ausnahmsweise einen Anlass zur Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens und will es dem Gutachten folgen, hat es zunächst die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und methodischen Darlegungen, die zum Verständnis des Gutachtens erforderlich sind, darzulegen. Dabei ist zwar eine ins Einzelne gehende Darstellung von Konzeption, Durchführung und Ergebnissen der erfolgten Begutachtung regelmäßig nicht erforderlich; vielmehr ist es im Allgemeinen ausreichend, wenn die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und methodischen Darlegungen in einer Weise mitgeteilt werden, die zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit und sonstigen Rechtsfehlerfreiheit erforderlich sind. Das Urteil muss aber auch erkennen lassen, ob sich das Tatgericht dem Gutachten aus eigener Überzeugung angeschlossen hat und - gegebenenfalls - warum es ihm gefolgt ist (vgl. Senat, Beschluss vom 20. November 2019 – 2 StR 467/19, BeckRS 2019, 38149). Stützt sich das Tatgericht nämlich auf das Gutachten, so hat es dessen Ausführungen zuvor eigenverantwortlich zu prüfen (vgl. BGH, Beschluss vom 29. August 2018 – 1 StR 263/18, BGHR StPO § 261 Sachverständiger 13).

2. Daran gemessen sind die Darstellung der Beweisgrundlagen des Urteils und deren Würdigung des Landgerichts rechtsfehlerhaft.

a) Frühere Aussagen der Geschädigten und deren Bewertung durch Sachverständige werden im Urteil beiläufig erwähnt, aber nicht so mitgeteilt, dass die Würdigung des Gerichts auf dieser Grundlage nachvollzogen werden könnte.

aa) Das Landgericht hat in der Hauptverhandlung ein Gutachten der aussagepsychologischen Sachverständigen L. eingeholt, was in den Urteilsgründen aber nur stichwortartig angedeutet ist. Die Urteilsgründe lassen bereits nicht erkennen, ob das Tatgericht diesem Gutachten gefolgt ist und eine eigenverantwortliche Prüfung seiner Ausführungen vorgenommen hat.

bb) Bereits rund 12 Jahre vor Beginn des Strafverfahrens hatte die Zeugin Dr. T. eine psychologische Begutachtung durchgeführt, auf die das Landgericht punktuell Bezug genommen hat, ohne aber den Gutachteninhalt und dessen Ergebnisse mitzuteilen.

cc) Dem Inhalt der Aussagen der Geschädigten bei der Polizei, bei den Explorationen durch die Sachverständigen und in der Hauptverhandlung hat das Landgericht eine für sein Entscheidungsergebnis genügende Aussagekonstanz entnommen. Es hat aber die Angaben der Zeugin bei der Polizei und bei der Sachverständigen Dr. T. , deren Dokumentation im Urteil als besonders genau bezeichnet wird, nicht mitgeteilt. Daher ist die Konstanzanalyse nicht nachvollziehbar; allein die nähere Mitteilung der viel später erfolgten Angaben der Geschädigten in der Hauptverhandlung genügt dazu nicht.

dd) Auch der Ausschluss von Gründen, die gegen die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussagen sprechen, ist lückenhaft dargestellt.

Das Landgericht hat gewisse Anhaltspunkte für die Möglichkeit autosuggestiver Prozesse und „einige Inkonstanzen in Form von Ergänzungen, Auslassungen und Widersprüchen“ erkannt. Die Geschädigte habe Träume von Vorgängen gehabt, deren Realitätsgehalt sie selbst nicht einschätzen, wovon sie aber ihre Erinnerungen an die abgeurteilten Taten unterscheiden könne. Insoweit hat das Tatgericht auch das Vorliegen von Pseudoerinnerungen mit der Bemerkung ausgeschlossen, „bei erheblicher autosuggestiver Erinnerungstätigkeit“ wäre „mit mehr aussageübergreifenden Inkonsistenzen im Sinne von Aussageerweiterungen/Dramatisierungen zu rechnen gewesen, wie sie hier nicht vorlagen.“ Das wäre aber nur nachvollziehbar, wenn das Landgericht die früheren Angaben der Geschädigten und deren Bewertung auch durch die Sachverständigen zumindest in den wesentlichen Zügen mitgeteilt hätte. Zudem ist es nicht verständlich, warum das Landgericht den Ausschluss von Pseudoerinnerungen am Fehlen gravierender Inkonstanzen in den Aussagen gemessen hat; denn Pseudoerinnerungen weisen dann, wenn sie ausnahmsweise vorliegen, ähnliche Realkennzeichen auf, wie Erinnerungen an wirkliche Erlebnisse (vgl. Senat, Urteil vom 20. Mai 2015 – 2 StR 455/14, NStZ 2015, 122 , 123).

b) Die Bewertung der Schilderungen der Geschädigten zu Fall 3 der Urteilsgründe, der sich vom gleichförmigen Tatbild der übrigen Sexualdelikte abhebt, lässt auch besorgen, dass die Beweiswürdigung auf widersprüchlichen Annahmen beruht.

Das Landgericht hat den Detaillierungsgrad der Angaben der Geschädigten als Glaubhaftigkeitskriterium hervorgehoben. Das gelte nicht für die gleichförmigen Handlungen mit Ausnahme derjenigen im Fall 3 der Urteilsgründe. Insoweit sei es der Geschädigten nicht gelungen, „konkrete in sich geschlossene und in einen spezifischen Kontext eingebettete Einzelvorgänge zu schildern.“ Dies sei schon bei den frühzeitigen Angaben gegenüber der Psychologin Dr. T. der Fall gewesen. In deren Exploration habe der Vorfall zu Fall 3 der Urteilsgründe im Vordergrund gestanden, was auch den geringeren Detaillierungsgrad der späteren Beschreibung der übrigen Taten erklären könne. Diese Urteilsausführungen sind ohne Darstellung der frühen Angaben der Geschädigten und des dazu erstellten Sachverständigengutachtens bereits nicht nachvollziehbar. Hinzu kommt aber Folgendes:

Das Landgericht hat ausgeführt, es seien „lediglich keine Feststellungen im Detail dazu zu treffen, ob und bei welcher Gelegenheit der Angeklagte eine Erektion hatte (wenn auch angesichts der immerhin grundsätzlich gleichbleibenden Angabe der Zeugin, einmal eine Erektion gespürt zu haben, viel dafür spricht, dass dies bei mindestens einer Tat der Fall war).“ Dementsprechend hat das Landgericht auch zu Fall 3 der Urteilsgründe nicht festgestellt, der Angeklagte habe bei seinen Handlungen auch eine Erektion gehabt. Gleichwohl hat es diese Tat bei der Strafbemessung als die schwerste bewertet, weil der Angeklagte sich dabei „auf die Geschädigte legte und sich mit erigiertem Glied an der Geschädigten rieb“. Das steht im Widerspruch zu der genannten Beweiswürdigung. Dadurch wird nicht nur, wie es der Generalbundesanwalt angenommen hat, die Strafzumessungsentscheidung in Frage gestellt, sondern auch die Beweiswürdigung des Landgerichts.

Vorinstanz: LG Aachen, vom 08.10.2020 - Vorinstanzaktenzeichen 65 KLs 10/20 201 Js 186/18