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BGH - Entscheidung vom 13.04.2021

KZR 43/19

Normen:
GWB § 1
GWB (1999) § 33 S. 1
GWB (2005) § 33 Abs. 3
EGV Art. 81
BGB § 830 Abs. 1 S. 1
BGB § 840 Abs. 1
UmwG § 133 Abs. 1 S. 1

BGH, Urteil vom 13.04.2021 - Aktenzeichen KZR 43/19

DRsp Nr. 2021/12828

Inanspruchnahme auf Ersatz kartellbedingten Schadens aufgrund fehlerhaftenr Durchführung eines Ausschreibungsverfahren

Zwar streitet zugunsten des Abnehmers eines an einer Kartellabsprache beteiligten Unternehmens eine auf der hohen Wahrscheinlichkeit eines solchen Geschehens beruhende tatsächliche Vermutung - im Sinne eines Erfahrungssatzes - grundsätzlich dafür, dass die im Rahmen des Kartells erzielten Preise im Schnitt über denjenigen liegen, die sich ohne die wettbewerbsbeschränkende Absprache gebildet hätten. Die Berücksichtigung eines solchen Erfahrungssatzes führt aber nicht zu einer Umkehr der Beweislast im Hinblick auf die Entstehung eines Schadens. Vielmehr ist der einschlägige Erfahrungssatz im Rahmen der zwingend nach § 287 Abs. 1 ZPO vorzunehmenden Gesamtwürdigung sämtlicher für und gegen die Schadensentstehung sprechenden Indiztatsachen zu berücksichtigen.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 1. Kartellsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 8. Mai 2019 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil der Beklagten zu 1 und 2 erkannt worden ist.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an einen anderen Kartellsenat des Berufungsgerichts zurückverwiesen.

Normenkette:

GWB § 1 ; GWB (1999) § 33 S. 1; GWB (2005) § 33 Abs. 3 ; EGV Art. 81 ; BGB § 830 Abs. 1 S. 1; BGB § 840 Abs. 1 ; UmwG § 133 Abs. 1 S. 1;

Tatbestand

Die Klägerin, die für den öffentlichen Nahverkehr der Stadt Köln verantwortlich ist, nimmt die Beklagten auf Ersatz kartellbedingten Schadens in Anspruch.

Zwischen den Jahren 2002 und 2011 beauftragte die Klägerin die Beklagte zu 1 in neun Fällen - zum Teil nach Durchführung eines Ausschreibungsverfahrens, zum Teil freihändig nach Einholung eines oder mehrerer Angebote - mit der Lieferung von Materialen für den Gleisoberbau.

Mit Bescheiden vom 18. Juli 2013 verhängte das Bundeskartellamt unter anderem gegen die Beklagten zu 2 ein Bußgeld wegen Beteiligung an dem Kartell der "Schienenfreunde". Gegen die Beklagte zu 1, die sich an den Absprachen im Marktsegment "Weichen" beteiligte, erging am 10. März 2016 ein Bußgeldbescheid.

Die Klägerin macht geltend, sie habe aufgrund des Kartells überhöhte Preise zahlen müssen. Sie hat beantragt, die Beklagten zu verurteilen, ihr Schadensersatz in einer in das Ermessen des Gerichts gestellten Höhe, mindestens jedoch 130.573,31 € nebst Zinsen, zu zahlen und sie von den Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung freizustellen. Das Landgericht hat durch Grundurteil die Klage gegen die Beklagten als Gesamtschuldner dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Die Berufungen der Beklagten hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgen die Beklagten zu 1 und 2 ihr auf Klageabweisung gerichtetes Begehren weiter.

Entscheidungsgründe

I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

Der Klägerin stehe gegen die Beklagten als Gesamtschuldnerinnen dem Grunde nach ein Anspruch auf Ersatz des ihr durch an die Beklagte zu 1 erteilte Beschaffungsaufträge entstandenen Kartellschadens nach § 33 Satz 1 GWB 1999 und § 33 Abs. 3 GWB 2005, jeweils in Verbindung mit § 1 GWB , Art. 81 EGV , zu. Die Beklagten hafteten nach § 830 Abs. 1 Satz 1, § 840 Abs. 1 BGB gesamtschuldnerisch. Zugunsten der Klägerin streite eine tatsächliche Vermutung dafür, dass die Klägerin von dem Kartellrechtsverstoß betroffen und dieser zumindest ein Schaden in irgendeiner Höhe entstanden sei. Auch bei einer Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls, wie sie nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vorausgesetzt werde, sei von einem auf den Kartellverstoß zurückzuführenden Kartellschaden der Klägerin auszugehen und streite eine tatsächliche und widerlegliche Vermutung für die Kartellbetroffenheit der in Rede stehenden Beschaffungsvorgänge. Die Beklagten hätten die tatsächliche Vermutung der Kartellbetroffenheit und diejenige eines kartellbedingten Schadens nicht widerlegt.

Ob der Klägerin Leistungen von Seiten der Fahrgäste oder der Zuwendungsgeber schadensmindernd anzurechnen seien, könne offenbleiben, weil das Landgericht diese Frage mit Recht dem Betragsverfahren vorbehalten habe. Der geltend gemachte Schadensersatzanspruch sei aufgrund eines etwaigen Mitverschuldens der Klägerin weder gemindert noch ausgeschlossen. Schließlich seien die Ansprüche der Klägerin nicht verjährt.

II. Die Revision hat Erfolg. Das Berufungsurteil hält der rechtlichen Überprüfung in einem entscheidenden Punkt nicht stand. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Schadensersatzanspruch dem Grunde nach nicht bejaht werden.

1. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass für die bis zum 30. Juni 2005 erteilten Aufträge aus den Beschaffungsvorgängen, auf die die Klägerin ihre Klage unter anderem stützt, als Anspruchsgrundlage § 33 Satz 1 GWB 1999 in Betracht kommt (vgl. BGH, Urteil vom 28. Januar 2020 - KZR 24/17, BGHZ 224, 281 Rn. 18 - Schienenkartell II, mwN). Ebenso zutreffend hat das Berufungsgericht § 33 Abs. 3 GWB 2005 auf die Schadensersatzansprüche angewendet, die die Klägerin auf Beschaffungsvorgänge nach dem 30. Juni 2005 stützt.

2. Mit Recht hat das Berufungsgericht einen schuldhaften Verstoß der Beklagten gegen § 1 GWB und Art. 81 Abs. 1 EGV (jetzt: Art. 101 Abs. 1 AEUV ) festgestellt und dabei angenommen, dass nach den gemäß § 33 Abs. 4 GWB 2005 für den nachfolgenden Schadensersatzprozess bindenden Feststellungen des Bundeskartellamts im Bußgeldbescheid die Beklagten über einen längeren Zeitraum an wettbewerbsbeschränkenden Absprachen beteiligt waren. Danach praktizierten Hersteller und Händler von Schienen, Weichen und Schwellen spätestens seit 2001 bis zur Aufdeckung des Kartells im Mai 2011 auf dem Privatmarkt in Deutschland Preis-, Quoten- und Kundenschutzabsprachen (näher: BGHZ 224, 281 Rn. 21 - Schienenkartell II). Soweit die Revision der Beklagten zu 2 dagegen einwendet, das Berufungsgericht habe die Feststellungen in dem gegenüber der Beklagten zu 1 ergangenen Bußgeldbescheid, welcher nicht in Bestandskraft erwachsen sei, im Verhältnis zur Beklagten zu 2 nicht als unstreitig zugrunde legen dürfen, zeigt sie kein erhebliches und entgegenstehendes Vorbringen der Beklagten zu 2 auf. Im Übrigen stehen dem die Feststellungen des gegenüber der Beklagten zu 2 ergangenen Bußgeldbescheids entgegen.

3. Das Berufungsgericht ist im Ergebnis auch mit Recht davon ausgegangen, dass die Klägerin zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen berechtigt ist.

a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist Voraussetzung des haftungsbegründenden Tatbestands eines kartellrechtlichen Schadensersatzanspruchs sowohl nach § 33 Satz 1 GWB 1999 als auch nach § 33 Abs. 3 , Abs. 1 GWB 2005 ebenso wie nach § 823 Abs. 2 BGB , dass dem Anspruchsgegner ein wettbewerbsbeschränkendes Verhalten anzulasten ist, das - vermittelt durch den Abschluss von Umsatzgeschäften oder in anderer Weise geeignet ist, einen Schaden des Anspruchstellers unmittelbar oder mittelbar zu begründen, wobei für die Feststellung dieser Voraussetzung der Maßstab des § 286 ZPO gilt. Angesichts der Besonderheiten des kartellrechtlichen Deliktstatbestands kommt es auf die Frage, ob sich die Kartellabsprache auf den in Rede stehenden Beschaffungsvorgang, auf den der Anspruchsteller sein Schadensersatzbegehren stützt, tatsächlich nachteilig ausgewirkt hat, nicht an und bedarf es auch nicht der Feststellung einer konkret-individuellen Betroffenheit (BGHZ 224, 281 Rn. 25 - Schienenkartell II; BGH, Urteil vom 19. Mai 2020 - KZR 8/18, WuW 2020, 597 Rn. 25 - Schienenkartell IV; Urteil vom 23. September 2020 - KZR 4/19, WuW 2021, 37 Rn. 16 f. - Schienenkartell V).

b) Wie das Berufungsgericht im Ergebnis mit Recht angenommen hat, sind die vorstehenden Voraussetzungen für die Annahme der Betroffenheit im Streitfall erfüllt, weil die Klägerin von einem am Kartell beteiligten Unternehmen Waren erworben hat, welche Gegenstand der Kartellabsprache waren. Die von der Revision hiergegen erhobenen Rügen bleiben ohne Erfolg. Es erscheint angesichts der Art und Weise des festgestellten Verstoßes möglich, dass der Klägerin sowohl im Hinblick auf die Beschaffung von Zubehör- und Ersatzteilen, die Beauftragung von Kleinlose sowie bei ohne Ausschreibung erteilten Aufträgen jeweils ein kartellbedingter Schaden entstanden ist (BGH, WuW 2021, 37 Rn. 19 ff. - Schienenkartell V). Gleiches gilt, soweit Beschaffungsvorgänge aus der Anfangsphase des Kartells in Rede stehen. Auch etwaige höhere Angebote von Kartellaußenseitern lassen die Betroffenheit der Klägerin nicht entfallen. Ebenso wenig ist die Möglichkeit der Entstehung eines kartellbedingten Schadens ausgeschlossen, wenn Aufträge an Kartellbeteiligte nach einem bestimmten Zeitpunkt erteilt worden sind, ab dem Absprachen in Bezug auf ein bestimmten Segment - hier: Weichen - nur noch einzelfallbezogen und nicht mehr im Rahmen von Verbandstreffen stattfanden. Nichts anderes gilt, soweit die Beklagte zu 1, von der die Revision geltend macht, dass sie zwar im Segment "Weichen", nicht aber im Segment "Schienen und Schwellen" an der Kartellabsprache beteiligt gewesen sei, bei vereinzelten Aufträgen - auch oder nur - Schienen geliefert hat. Jedenfalls kommt in Betracht, dass die vereinbarten Preise aufgrund von Preisschirmeffekten kartellbedingt überhöht waren.

4. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann jedoch nicht angenommen werden, dass der Klägerin aufgrund der Kartellabsprache zwischen den beteiligten Unternehmen - mit der für ein Zwischenurteil nach § 304 ZPO erforderlichen Wahrscheinlichkeit (BGH, Urteil vom 11. Dezember 2018 - KZR 26/17, NZKart 2019, 101 Rn. 38 - Schienenkartell I; s.a. Urteil vom 10. Februar 2021 - KZR 63/18, juris Rn. 57 - Schienenkartell VI) - überhaupt ein Schaden entstanden ist.

a) Die Annahme des Berufungsgerichts, es bestehe eine widerlegliche Vermutung dafür, dass der Klägerin ein Schaden entstanden sei, welche die Beklagten nicht widerlegt hätten, steht mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht in Einklang. Nach ihr streitet zugunsten des Abnehmers eines an einer Kartellabsprache beteiligten Unternehmens zwar eine auf der hohen Wahrscheinlichkeit eines solchen Geschehens beruhende tatsächliche Vermutung - im Sinne eines Erfahrungssatzes - grundsätzlich dafür, dass die im Rahmen des Kartells erzielten Preise im Schnitt über denjenigen liegen, die sich ohne die wettbewerbsbeschränkende Absprache gebildet hätten (BGH, Urteil vom 8. Januar 1992 - 2 StR 102/91, BGHSt 38, 186 , 194; Beschluss vom 28. Juni 2005 - KRB 2/05, WuW/E DE-R 1567, 1569 - Berliner Transportbeton I; Beschluss vom 26. Februar 2013 - KRB 20/12, BGHSt 58, 158 Rn. 76 - Grauzementkartell I; BGH, Urteil vom 12. Juni 2018 - KZR 56/16, WRP 2018, 941 Rn. 35 - Grauzementkartell II; NZKart 2019, 101 Rn. 55 - Schienenkartell I; BGHZ 224, 281 Rn. 40 - Schienenkartell II; WuW 2021, 37 Rn. 26 - Schienenkartell V). Die Berücksichtigung eines solchen Erfahrungssatzes führt aber nicht zu einer Umkehr der Beweislast. Vielmehr ist der einschlägige Erfahrungssatz im Rahmen der nach § 287 Abs. 1 ZPO vorzunehmenden Gesamtwürdigung sämtlicher für und gegen die Schadensentstehung sprechenden Indiztatsachen zu berücksichtigen (näher: BGHZ 224, 281 Rn. 36 - Schienenkartell II; BGH, WuW 2021, 37 Rn. 26 f. - Schienenkartell V).

b) Die danach erforderliche Gesamtwürdigung sämtlicher für und gegen die Entstehung eines Schadens sprechenden Indizien hat das Berufungsgericht nicht vorgenommen. Es hat zwar - hilfsweise - einzelne Gesichtspunkte im Zusammenhang gewürdigt, sich dabei aber auf die Dauer, die Intensität und die Marktabdeckung des Kartells, auf die für eine Kartelldisziplin sprechenden Marktumstände und auf den Gesichtspunkt der Auslastung von Produktionskapazitäten beschränkt. Auf Grundlage dieser unvollständigen Gesamtwürdigung ist es zu der Annahme gelangt, für die Entstehung des Schadens streite eine tatsächliche Vermutung, die nur unter besonderen Umständen widerlegt werden könne und die die Beklagten nicht zu erschüttern vermocht hätten. In diesem Zusammenhang hat es zahlreiche weitere Einwendungen der Beklagten und die in diesem Zusammenhang vorgebrachten Indiztatsachen nur unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Widerlegung der tatsächlichen Vermutung und nur je für sich gewürdigt. Es kann vor diesem Hintergrund nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht von einer unzutreffenden Verteilung der Beweislast ausgegangen ist und angenommen hat, den Beklagten obliege in Ansehung der tatsächlichen Vermutung der Beweis des Gegenteils.

III. Da sich das Urteil des Berufungsgerichts nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 561 ZPO ), ist es aufzuheben (§ 562 ZPO ). Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden, weil er der vom Tatrichter vorzunehmenden Würdigung der maßgeblichen Umstände des Einzelfalls nicht vorgreifen kann. Die Sache ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO ); dabei macht der Senat von der Möglichkeit des § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch.

IV. Bei der erneuten Prüfung, ob der Klägerin die geltend gemachten Schadensersatzansprüche zustehen, wird das Berufungsgericht die Anforderungen an die Tatsachenfeststellung, die Voraussetzungen für eine etwaige Haftung der Beklagten im Hinblick auf an Kartellaußenseiter erteilte Aufträge sowie die Maßstäbe der Vorteilsausgleichung zu beachten haben, wie sie der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu entnehmen sind (BGHZ 224, 281 Rn. 34 ff. - Schienenkartell II; BGH, WuW 2020, 597 Rn. 43 ff. - Schienenkartell IV; WuW 2021, 37 Rn. 43 ff. - Schienenkartell V).

Von Rechts wegen

Verkündet am: 13. April 2021

Vorinstanz: LG Köln, vom 15.05.2018 - Vorinstanzaktenzeichen 31 O 215/15
Vorinstanz: OLG Düsseldorf, vom 08.05.2019 - Vorinstanzaktenzeichen VI-U (Kart) 10/18