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BGH - Entscheidung vom 23.02.2021

XIII ZB 50/20

Normen:
AufenthG § 62b
AufenthG § 62b
AufenthG § 62b
FamFG § 38 Abs. 3 S. 1
FamFG § 96 Abs. 2

Fundstellen:
ZAR 2021, 433

BGH, Beschluss vom 23.02.2021 - Aktenzeichen XIII ZB 50/20

DRsp Nr. 2021/7746

Berücksichtigung der relevanten persönlichen Umstände des Betroffenen bei der Ausübung des Ermessens bei der Anordnung des Ausreisegewahrsams; Heilung von Verfahrensfehlern bei nicht erfolgter Befragung des Betroffenen zu seinen für die Ermessensausübung relevanten persönlichen Umständen

a) Die Ausübung des Ermessens bei der Anordnung des Ausreisegewahrsams nach § 62b AufenthG erfordert eine Berücksichtigung der relevanten persönlichen Umstände des Betroffenen.b) Hat das Amtsgericht nicht erkannt, dass es ein Ermessen hat, und den Betroffenen nicht zu seinen für die Ermessensausübung relevanten persönlichen Umständen - z.B. seiner Arbeitsstelle - befragt, kann der Ermessensfehler nur nach erneuter Anhörung des Betroffenen und nur für die Zukunft geheilt werden.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen werden die Beschlüsse des Landgerichts Mosbach - 3. Zivilkammer - vom 5. und 13. März sowie vom 8. Juni 2020 aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Mosbach vom 2. Oktober 2019 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Land BadenWürttemberg auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Normenkette:

AufenthG § 62b; FamFG § 38 Abs. 3 S. 1; FamFG § 96 Abs. 2 ;

Gründe

I. Der Betroffene, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste am 16. September 2015 nach Deutschland ein und stellte am 13. April 2016 einen Asylantrag, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 27. März 2017 ablehnte. Der Bescheid ist nach rechtskräftiger Abweisung der Klage des Betroffenen vor dem Verwaltungsgericht seit dem 12. Mai 2018 bestandskräftig. Der mit der Androhung der Abschiebung für den Fall der Nichtbefolgung versehenen Aufforderung in dem Bescheid, Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen, leistete der Betroffene nicht Folge. Die beteiligte Behörde bereitete daraufhin seine Abschiebung nach Afghanistan vor. Sie erwirkte zunächst die Zusage der afghanischen Behörden, dem passlosen Betroffenen Passersatzpapiere auszustellen. Aufgrund einer einstweiligen Anordnung des Amtsgerichts ließ sie ihn am 2. Oktober 2019 durch die Polizei in Gewahrsam nehmen und beantragte am gleichen Tage bei dem Amtsgericht, gegen den Betroffenen im Hauptsacheverfahren Ausreisegewahrsam nach § 62b AufenthG bis zum 8. Oktober 2019 anzuordnen.

Das Amtsgericht hat gegen den Betroffenen noch am gleichen Tag antragsgemäß Ausreisegewahrsam angeordnet. Die - nach seiner Abschiebung nach Afghanistan am 8. Oktober 2019 mit einem Antrag, die Rechtswidrigkeit des angeordneten Gewahrsams festzustellen, fortgesetzte - Beschwerde des Betroffenen hatte beim Landgericht zunächst Erfolg. Auf die Rüge der beteiligten Behörde nach § 44 Abs. 1 FamFG hat das Beschwerdegericht diese Entscheidung geändert und die Beschwerde des Betroffenen zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde, der die beteiligte Behörde entgegentritt, verfolgt der Betroffene seinen Feststellungsantrag weiter.

II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

1. Das Rechtsmittel ist statthaft und auch sonst zulässig.

a) Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen einen Beschluss, der eine Freiheitsentziehung anordnet, ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 und 2 FamFG ohne Zulassung statthaft. Das gilt auch für die Anordnung von Ausreisegewahrsam nach § 62b AufenthG im Hauptsacheverfahren. Dagegen ist die Rechtsbeschwerde nach § 70 Abs. 4 FamFG ausgeschlossen, wenn sie sich gegen einen im Wege der einstweiligen Anordnung angeordneten Ausreisegewahrsam richtet. Das gälte auch für die Bestätigung einer solchen Anordnung nach § 427 Abs. 2 Halbsatz 2 FamFG (BGH, Beschluss vom 22. August 2019 - V ZB 209/17, juris Rn. 10 f.). Hier hat das Amtsgericht zwar mit einstweiliger Anordnung vom 30. September 2019 ohne vorherige Anhörung Ausreisegewahrsam zur Ergreifung des Betroffenen angeordnet. Mit dem nachfolgenden Beschluss vom 2. Oktober 2019 hat es diese Anordnung aber nicht nach Maßgabe von § 427 Abs. 2 Halbsatz 2 FamFG bestätigt, sondern aufgrund eines neuen Antrags der beteiligten Behörde eine neue Gewahrsamsanordnung im Hauptsacheverfahren erlassen, gegen die die Rechtsbeschwerde ohne Zulassung statthaft ist.

b) Entgegen der Ansicht der beteiligten Behörde ist das Rechtsmittel nicht deshalb unzulässig, weil die aktuelle Anschrift des Betroffenen nicht angegeben worden ist.

aa) Es trifft zwar zu, dass verfahrenseinleitende Anträge im Verwaltungsprozess die ladungsfähige Anschrift des Antragstellers ausweisen müssen (BVerwG, Buchholz 310 § 82 VwGO Nr. 30 Rn. 14 f.). Schon das ist aber im Verfahren in Freiheitsentziehungssachen anders. Die auch hier erforderliche Individualisierung des Antragstellers in einem das Verfahren einleitenden Antrag kann wie im Verwaltungsprozess durch Angabe von Namen, Stand, Gewerbe oder Wohnort und Anschrift erfolgen (MüKoFamFG/Ulrici, 3. Aufl., § 23 Rn. 30). Ein verfahrenseinleitender Antrag nach § 23 FamFG ist jedoch abweichend vom Verwaltungsprozess schon dann zulässig, wenn sich ihm auf andere Weise entnehmen lässt, wer Antragsteller ist (Keidel/Sternal, FamFG , 20. Aufl., § 23 Rn. 39; MüKoFamFG/Ulrici, 3. Aufl., § 23 Rn. 30). Für einen Antrag des Betroffenen auf Haftaufhebung nach § 426 FamFG und einen nach dessen Erledigung in der Hauptsache gestellten Feststellungsantrag nach § 62 Abs. 1 FamFG gälte nichts anderes (BGH, Beschluss vom 17. März 2016 - V ZB 75/15, juris Rn. 8).

bb) Hier geht es demgegenüber um die Zulässigkeit eines Rechtsmittels, die schon von vornherein nicht von der Angabe der ladungsfähigen Anschrift des Rechtsmittelführers abhängt (vgl. BGH, Urteile vom 9. Dezember 1987 - IVb ZR 4/87, BGHZ 102, 332 , 333 f., und vom 11. Oktober 2005 - XI ZR 398/04, NJW 2005, 3773 , sowie Beschlüsse vom 28. November 2007 - III ZB 50/07, juris Rn. 8, und vom 1. April 2009 - XII ZB 46/08, NJW-RR 2009, 1009 Rn. 10). Die fehlende Angabe der ladungsfähigen Anschrift des Rechtsmittelführers kann nur dann zur Unzulässigkeit des Rechtsmittels führen, wenn ohne diese Angabe der geordnete Ablauf des Rechtsmittelverfahrens gefährdet ist oder wenn die fehlende Angabe der ladungsfähigen Anschrift den Rückschluss auf ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Betroffenen erlaubt, etwa darauf, dass er das Verfahren aus dem Verborgenen führen will, um sich Ansprüchen gegen ihn zu entziehen (BGH, Beschlüsse vom 28. November 2007 - III ZB 50/07, juris Rn. 8 f., und vom 1. April 2009 - XII ZB 46/08, NJW-RR 2009, 1009 Rn. 13, 18 f.). Das gilt auch für Rechtsmittel in Freiheitsentziehungssachen (BGH, Beschlüsse vom 20. November 2014 - V ZB 54/14, InfAuslR 2015, 104 Rn. 5, vom 18. Februar 2016 - V ZB 74/15, NVwZ-RR 2016, 635 Rn. 5, vom 21. April 2016 - V ZB 73/15, juris Rn. 5, vom 17. März 2016 - V ZB 75/15, juris Rn. 9, und vom 22. August 2019 - V ZB 179/17, juris Rn. 6).

cc) Danach führt das Fehlen einer Angabe zum derzeitigen Aufenthalt des Betroffenen hier nicht zur Unzulässigkeit der Beschwerde. Auch ohne diese Angaben bestand kein Zweifel daran, dass sowohl der Feststellungsantrag als auch die Beschwerde namens des Betroffenen eingelegt worden waren, gegen den das Amtsgericht am 2. Oktober 2019 Ausreisegewahrsam angeordnet hat und der am 8. Oktober 2019 aus dem Gewahrsam entlassen und nach Afghanistan abgeschoben worden ist. Die fehlende Angabe zum Aufenthaltsort erlaubt auch keinen Rückschluss auf ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Betroffenen.

2. Das Rechtsmittel ist auch begründet.

a) Nicht zu beanstanden ist allerdings die auch im Rechtsmittelverfahren zu überprüfende (vgl. BGH, Urteil vom 14. April 2016 - IX ZR 197/15, NJW 2016, 3035 Rn. 9 f.) Entscheidung des Beschwerdegerichts, das Verfahren auf die Rüge der beteiligten Behörde nach § 44 Abs. 1 FamFG fortzusetzen. Diese Rüge war, was der Betroffene im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht mehr in Abrede stellt, zulässig und begründet.

b) Das Beschwerdegericht hätte seine Entscheidung vom 5. März 2020 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 13. März 2020 aber nicht abändern dürfen. Es hatte darin nämlich im Ergebnis zutreffend festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts vom 2. Oktober 2019 über die Anordnung von Ausreisegewahrsam den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.

aa) Das ergibt sich allerdings nicht schon daraus, dass der angeordnete Ausreisegewahrsam in der Abschiebungshafteinrichtung Pforzheim vollzogen werden sollte und nach der Anordnung dort auch vollzogen worden ist.

(1) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss der Haftrichter die Anordnung von Sicherungshaft ablehnen, wenn absehbar ist, dass der Betroffene rechtswidrig untergebracht wird (BGH, Beschlüsse vom 11. Juli 2013 - V ZB 40/11, NVwZ 2014, 166 Rn. 20, vom 25. Juli 2014 - V ZB 137/14, FGPrax 2014, 230 Rn. 5, vom 17. September 2014 - V ZB 189/13, InfAuslR 2015, 23 Rn. 4, und vom 20. November 2014 - V ZB 54/14, InfAuslR 2015, 104 Rn. 8). Das gilt nicht nur, wenn die absehbare Rechtswidrigkeit der Unterbringung des Betroffenen - wie in den genannten Entscheidungen - aus der Verletzung unionsrechtlicher Vorgaben und die Verpflichtung, von der Haftanordnung abzusehen, aus dem unionsrechtlichen Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Rechts der Union (effet utile) folgt. Der Haftrichter hat auch dann von einer Haftanordnung abzusehen, wenn bei ihrem Erlass abzusehen ist, dass die vorgesehene Unterbringung ihrer Art nach zwingenden Vorgaben des nationalen Rechts widerspricht. Das gilt auch für die Anordnung von Ausreisegewahrsam und wäre dort der Fall, wenn dieser in einer Einrichtung vollzogen werden sollte, die den - zwingenden (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BT-Drucks. 18/4097, S. 56) - Vorgaben des § 62b Abs. 2 AufenthG widerspricht (vgl. BGH, Beschluss vom 10. November 2020 - XIII ZB 25/20, juris Rn. 17).

(2) So liegt es hier aber nicht. Die Abschiebungshafteinrichtung Pforzheim genügt den Vorgaben des § 62b Abs. 2 AufenthG .

(a) Entgegen der Auffassung des Betroffenen scheiden Abschiebungshafteinrichtungen nicht schon von vornherein als Unterkünfte aus, in denen Ausreisegewahrsam vollzogen werden könnte. Eine Abschiebungshafteinrichtung ist zwar dadurch gekennzeichnet, dass die dort untergebrachten Personen die Einrichtung nicht jederzeit von sich aus und ohne Unterstützung des Personals verlassen können. Diese Anforderung stellt § 62b Abs. 2 AufenthG aber auch nicht. Es genügt nach den Vorstellungen des Gesetzgebers, dass die Ausreise mit Unterstützung des Personals möglich ist, die das Personal der Einrichtung allerdings auch ermöglichen muss, wenn der Betroffene seine Absicht glaubhaft macht, das Bundesgebiet zu verlassen (BGH, Beschluss vom 10. November 2020 - XIII ZB 25/20, juris Rn. 21 f.).

(b) Zurückgewiesen hat der Senat auch den weiteren Einwand des Betroffenen, es reiche nicht aus, wenn sich die Unterkunft in räumlicher Nähe zu irgendeinem beliebigen Flughafen befinde. § 62b Abs. 2 AufenthG soll lediglich sicherstellen, dass der Ausländer jederzeit freiwillig ausreisen kann und die Möglichkeit hat, den Ausreisegewahrsam jederzeit dadurch vorzeitig zu beenden, dass er eine konkrete Reisemöglichkeit in einen aufnahmebereiten Staat benennt, die er wahrnehmen möchte. Dazu sind sämtliche Grenzübergangsstellen einzubeziehen, die sich in der Nähe der Unterkunft befinden. Der nächst gelegene Abreise-Flughafen für die freiwillige Ausreise ist daher nicht notwendigerweise mit dem Ort identisch, von dem aus die Abschiebung erfolgen soll. Diesen Voraussetzungen genügt die in der Nähe des Flughafens Stuttgart gelegene Abschiebungshafteinrichtung Pforzheim (BGH, Beschluss vom 10. November 2020 - XIII ZB 25/20, juris Rn. 18 f.).

(c) Anders, als der Betroffene meint, scheidet die Anordnung von Ausreisegewahrsam nach § 62b AufenthG auch nicht in Fällen aus, in denen der Betroffene den Zielstaat nicht im normalen Linienverkehr, sondern nur mit Chartersammelflügen erreichen kann. Der Gesetzgeber hat den Ausreisegewahrsam eingeführt, um eben solche Chartersammelflüge organisieren zu können (Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BT-Drucks. 18/4097, S. 55). Die Beschreibung der Einrichtungen, in denen der Ausreisegewahrsam vollzogen werden soll, in § 62b Abs. 2 AufenthG mag an den Transitaufenthalt und die Zurückweisungshaft nach § 15 AufenthG erinnern, die an dem Flughafen oder in der Nähe der Grenzübergangsstelle vollzogen werden, über den oder die der Ausländer versucht hat einzureisen. Zweck der Vorschrift ist aber ein anderer: Es soll, wie ausgeführt, das Zusammenstellen von Sammelcharterflügen ermöglicht oder erleichtert werden. Der Verzicht auf den Haftgrund der Fluchtgefahr in § 62b Abs. 1 Satz 1 AufenthG soll im Sinne einer verhältnismäßigen Regelung dadurch ausgeglichen werden, dass dem Betroffenen ermöglicht wird, eine glaubhaft gemachte Möglichkeit, freiwillig in seinen Heimatstaat oder einen anderen aufnahmebereiten Staat auszureisen, wahrzunehmen. Es kommt deshalb nicht darauf an, ob es - was der Betroffene bestreitet, die beteiligte Behörde aber behauptet unter Berücksichtigung von Umsteigemöglichkeiten Linienflüge in das Heimatland des Betroffenen - Afghanistan - gibt.

bb) Der Anordnung des Ausreisegewahrsams stand entgegen der Auffassung des Betroffenen auch nicht das Fehlen von Vorschriften über den Vollzug des Ausreisegewahrsams entgegen.

(1) Solche Vorschriften fehlen, worauf die beteiligte Behörde zu Recht hinweist, im Land Baden-Württemberg nicht. Auf den Vollzug des Ausreisegewahrsams finden seit dem 21. Juni 2018 nach § 1 Abs. 2 die Vorschriften des Landesgesetzes über den Vollzug der Abschiebungshaft in Baden-Württemberg Anwendung (vgl. Art. 15 des Gesetzes vom 12. Juni 2018, GBl. S. 173).

(2) Auch das Fehlen von Vollzugsvorschriften stünde der Anordnung von Ausreisegewahrsam im Übrigen nicht entgegen. Zwar können nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 33, 1 ) auch die Grundrechte von Strafgefangenen nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden; es bedarf deshalb eines Strafvollzugsgesetzes mit fest umrissenen Eingriffstatbeständen. Daraus folgt aber nicht, dass der Ausreisegewahrsam selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen von § 62b AufenthG nicht angeordnet werden dürfte, wenn es an einer gesetzlichen Vollzugsregelung fehlt. Aus dem Fehlen solcher Vorschriften folgt nur, dass über die Freiheitsentziehung und die mit ihr zwangsläufig verbundenen Einschränkungen in der allgemeinen Lebensführung hinausgehende Grundrechtseingriffe unzulässig sind. Das hat der Bundesgerichtshof für den Transitaufenthalt entschieden (BGH, Beschluss vom 9. Oktober 2014 - V ZB 57/14, NVwZ-RR 2015, 115 Rn. 5, 7). Für den Ausreisegewahrsam gilt nichts Anderes. 22 cc) Die Anordnung des Ausreisegewahrsams war aber deshalb rechtswidrig, weil das Amtsgericht von seinem Anordnungsermessen keinen Gebrauch gemacht hat.

(1) Der Haftrichter ist gesetzlich nicht verpflichtet, Ausreisegewahrsam anzuordnen, wenn er das Vorliegen der Voraussetzungen hierfür nach § 62b AufenthG festgestellt hat. Im Unterschied zur Sicherungshaft, die nach § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG in diesem Fall anzuordnen ist, hat der Haftrichter bei der Anordnung von Ausreisegewahrsam nach § 62b Abs. 1 Satz 1 AufenthG ein Ermessen. Er kann den Ausreisegewahrsam anordnen, aber auch davon absehen. Er kann dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit deshalb nicht nur bei der Bestimmung der Länge des anzuordnenden Ausreisegewahrsams, sondern auch dadurch Rechnung tragen, dass er von der Anordnung trotz Vorliegens der Voraussetzungen absieht. Die Anordnung von Ausreisegewahrsam ist deshalb nur rechtmäßig, wenn der Haftrichter nicht nur das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen von § 62b AufenthG festgestellt, sondern auch sein Anordnungsermessen pflichtgemäß ausgeübt und eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und dem staatlichen Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung vorgenommen hat. Die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe sind - wenn auch in knapper Form - in der Entscheidung darzulegen (§ 38 Abs. 3 Satz 1, § 96 Abs. 2 FamFG ). Das Rechtsbeschwerdegericht darf zwar nicht das Ermessen des Tatrichters durch eine eigene Entscheidung ersetzen. Es hat aber zu überprüfen, ob eine Ermessensentscheidung überhaupt stattgefunden hat und ob sie fehlerfrei - insbesondere unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - erfolgt ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Januar 2012 - V ZB 221/11, FGPrax 2012, 84 Rn. 4 [zur "kleinen Sicherungshaft"], und vom 20. April 2018 - V ZB 226/17, NVwZ-RR 2018, 746 Rn. 11 f.).

(2) Ein solcher Fehler liegt hier vor. In der Begründung seiner Gewahrsamsanordnung befasst sich das Amtsgericht allein mit dem Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für eine solche Anordnung nach § 62b AufenthG . Dagegen lassen die Entscheidungsgründe nicht erkennen, ob dem Amtsgericht überhaupt bewusst war, dass es die Anordnung von Ausreisegewahrsam trotz Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen bei einem entsprechenden Ergebnis der erforderlichen Interessenabwägung hätte ablehnen dürfen, ob es diese Abwägung vorgenommen hat und welche Gesichtspunkte in diese Abwägung eingeflossen sein könnten. Das genügte den gesetzlichen Anforderungen nicht. Die Gewahrsamsanordnung war deshalb wegen Nichtgebrauch des Entscheidungsermessens rechtswidrig.

(3) Dieser Fehler ist im Beschwerdeverfahren nicht geheilt worden.

(a) Die Ausübung des Ermessens bei der Anordnung des Ausreisegewahrsams nach § 62b AufenthG erfordert eine Berücksichtigung der relevanten persönlichen Umstände des Betroffenen. Ein wesentlicher Zweck der gesetzlichen Verpflichtung zur persönlichen Anhörung des Betroffenen ist es, ihm Gelegenheit zu geben, sich zu solchen Umständen persönlich zu äußern. Hat das Amtsgericht nicht erkannt, dass es ein Ermessen hat und den Betroffenen nicht zu seinen für die Ermessensausübung relevanten persönlichen Umständen - hier seiner Arbeitsstelle - befragt, kann der Ermessensfehler nur nach erneuter Anhörung des Betroffenen und nur für die Zukunft geheilt werden.

(b) Danach ist die Heilung hier gescheitert. Das Beschwerdegericht hat zwar die unterbliebene Ermessensausübung nachgeholt. Das Ergebnis seiner Ermessensausübung wäre auch im Rahmen des Rechtsbeschwerdeverfahrens nicht zu beanstanden. Das Beschwerdegericht konnte aber die hier erforderliche persönliche Anhörung des Betroffenen nicht mehr nachholen. Der Gewahrsam war zu diesem Zeitpunkt längst beendet, der Betroffene nach Afghanistan abgeschoben, sodass er nicht mehr persönlich angehört werden konnte und es auch nicht wurde.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2 , § 83 Abs. 2 FamFG . Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG .

Vorinstanz: AG Mosbach, vom 02.10.2019 - Vorinstanzaktenzeichen XIV 83/19
Vorinstanz: LG Mosbach, vom 08.06.2020 - Vorinstanzaktenzeichen 3 T 43/19
Fundstellen
ZAR 2021, 433