Kontakt : 0221 / 93 70 18 - 0
Wir durchsuchen unsere Datenbank

BGH - Entscheidung vom 13.04.2021

AK 29/21

Normen:
StGB § 129a Abs. 1 Nr. 1
StGB § 129b Abs. 1
StGB § 239a
StGB § 239b

Fundstellen:
StV 2021, 595

BGH, Beschluss vom 13.04.2021 - Aktenzeichen AK 29/21

DRsp Nr. 2021/6247

Aufhebung des Haftbefehls und Entlassung aus der Untersuchtungshaft wegen einer Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung (PKK)

Als notwendig zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und Sicherstellung der etwaigen späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft nicht mehr anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verfahrensverzögerungen verursacht ist. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen. Bei der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies macht eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich. Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung. Dabei vermögen allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen.

Tenor

Der Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts München vom 14. August 2020 (OGs 101/20) wird aufgehoben.

Der Beschuldigte ist in dieser Sache aus der Untersuchungshaft zu entlassen.

Normenkette:

StGB § 129a Abs. 1 Nr. 1 ; StGB § 129b Abs. 1 ; StGB § 239a; StGB § 239b;

Gründe

I.

Der Beschuldigte wurde am 10. September 2020 aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts München vom 14. August 2020 (OGs 101/20) festgenommen und befindet sich seitdem ununterbrochen in Untersuchungshaft.

Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe sich in der Zeit von August 2016 bis zum 21. März 2020 durch fünf selbständige Handlungen als Mitglied an der ausländischen terroristischen Vereinigung "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) beteiligt, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord, Totschlag, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder Straftaten gegen die persönliche Freiheit in den Fällen des § 239a oder § 239b StGB zu begehen, und in vier Fällen hiervon zugleich jeweils durch dieselbe Handlung gegen ein Bereitstellungsverbot nach § 18 Abs. 1 AWG verstoßen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1, §§ 52 , 53 StGB , § 18 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AWG, Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001. Der Beschuldigte soll als sogenannter "Frontarbeiter" den zuständigen Gebietsverantwortlichen zugearbeitet und im Rahmen einer Spendenkampagne unter anderem Druck zur Zahlung von Spenden ausgeübt haben sowie an drei Treffen im Zusammenhang mit Spendenkampagnen beteiligt gewesen sein.

II.

Die Prüfung, ob die Untersuchungshaft fortdauern darf (§§ 121 , 122 StPO ), führt zur Aufhebung des Haftbefehls; denn die Aufrechterhaltung des Haftbefehls ist wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot ungeachtet der sonstigen Haftvoraussetzungen unverhältnismäßig.

1. Es besteht nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen ein dringender Verdacht im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO , dass der Beschuldigte seit August 2016 in die Organisation der PKK eingegliedert war, eine gegenüber einfachen Mitgliedern herausgehobene Position innehatte und im Bereich S. bis in den März 2020 den jeweils zuständigen Gebietsverantwortlichen als sogenannter "Frontarbeiter" zuarbeitete.

In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass sich der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit zumindest wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland strafbar gemacht hat (§ 129a Abs. 1 Nr. 1 , § 129b Abs. 1 Satz 1, 2 StGB ). Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat unter dem 3. August 2018 die Ermächtigung im Sinne des § 129b Abs. 1 Satz 2, 3 StGB erteilt, Taten des Beschuldigten im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit für die PKK zu verfolgen.

2. Angesichts der dem Beschuldigten im Falle seiner Verurteilung bereits allein wegen des Vereinigungsdelikts, unabhängig von Verstößen gegen ein Bereitstellungsverbot, drohenden erheblichen Freiheitsstrafe bestehen der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO sowie - auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (s. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 ff.) - derjenige der Schwerkriminalität.

3. Dem weiteren Vollzug der Untersuchungshaft steht jedoch entgegen, dass dieser mit Blick auf den bisherigen Verfahrensgang unverhältnismäßig ist.

a) Das - im Freiheitsgrundrecht des Betroffenen (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ) sowie im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 ) verankerte und in § 121 StPO einfachgesetzlich ausgeprägte (s. auch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 MRK ) - Beschleunigungsgebot in Haftsachen ist eine besondere Ausformung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft bedeutsam ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. Februar 2021 - 2 BvR 2128/20, juris Rn. 34 ff. mwN). Er fordert, dass die Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe steht, und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft. Daraus folgt zum einen, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zum anderen nehmen die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu.

Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und Sicherstellung der etwaigen späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft deshalb nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verfahrensverzögerungen verursacht ist. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen. Bei der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies macht eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich. Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung (st. Rspr.; vgl. insgesamt jüngst BGH, Beschluss vom 24. September 2020 - AK 31/20, juris Rn. 7 f. mwN). Dabei vermögen allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen (BVerfG, Beschluss vom 3. Februar 2021 - 2 BvR 2128/20, juris Rn. 39 mwN).

b) Nach diesen Maßstäben sind die Ermittlungen bislang nicht mit der gebotenen Zügigkeit zu einem Abschluss gebracht worden. Vielmehr ist es während der Untersuchungshaft zu dem Beschuldigten nicht anzulastenden Verzögerungen gekommen, die nicht anderweitig kompensiert worden sind.

aa) Die Ermittlungen gegen den Beschuldigten sind im Januar 2018 eingeleitet worden. Vor seiner Festnahme, einer Wohnungsdurchsuchung und dem Beginn der Untersuchungshaft am 10. September 2020 ist bereits eine Vielzahl an verdeckten Ermittlungsmaßnahmen ergriffen worden. Die Auswertung der im Rahmen der Durchsuchung sichergestellten Gegenstände war bis zum 4. Februar 2021 abgeschlossen mit Ausnahme der Aufbereitung eines Messengerdienstes, der auf einem Mobiltelefon festgestellt worden ist. Hierzu hatte das mit der Untersuchung befasste kriminaltechnische Institut bereits in einem Gutachten vom 29. Dezember 2020 niedergelegt, dass die Anwendung "manuell direkt auf dem Gerät gesichtet und gegebenenfalls abfotografiert werden könne" sowie die auftraggebende Ermittlungseinheit entsprechend informiert worden sei. Diese hat erst vier Wochen später das Telefon an das kriminaltechnische Institut übergeben, um die Chatverläufe darzustellen. Auf ihre Nachfrage hat es am 26. März 2021 mitgeteilt, dass die Aufbereitung noch andauere.

bb) Es ist bereits zu einer Verzögerung der Ermittlungen von vier Wochen dadurch gekommen, dass das auszuwertende Gerät erst nach einem entsprechenden Zeitablauf zur Aufbereitung übergeben worden ist, obschon zuvor über die entsprechende Möglichkeit Kenntnis bestand. Dies hat zu einer Verlängerung des Ermittlungsverfahrens geführt, da seit Anfang Februar 2021 keine anderen Auswertungen mehr ausgestanden haben. Anhaltspunkte dafür, dass die Verzögerung vermeidbar gewesen ist und sich der zusätzliche Aufklärungsbedarf etwa erst später ergeben hat, liegen nicht vor (vgl. zu einer verspäteten Gutachtenbeauftragung BVerfG, Beschluss vom 6. Juni 2007 - 2 BvR 971/07, BVerfGK 11, 286, 295 f.). Sonstige Förderungen des Verfahrens seit diesem Zeitpunkt ergeben sich aus den vorgelegten Akten nicht.

Hinzu kommt, dass besondere Bemühungen, die allein noch offene Darstellung der Chatverläufe zeitnah zu Ende zu führen, nicht ersichtlich sind. Es erschließt sich auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass es sich um vorwiegend fremdsprachige Inhalte handelt, hier nicht, warum die Arbeiten nach über zwei Monaten noch nicht beendet worden sind, welcher Einsatz hierzu erbracht worden ist und inwieweit die auswertende Stelle auf die Eilbedürftigkeit hingewiesen worden ist. Zudem liegt nach der übrigen Beweislage nicht ohne weiteres auf der Hand, welche Erkenntnisse aus der noch ausstehenden Auswertung zu erwarten sind und dass eine längere Verfahrensdauer allein wegen dieses einzelnen Asservates hinzunehmen ist (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 24. September 2020 - AK 31/20, juris Rn. 16 f.; vom 9. Juni 2020 - AK 12/20, juris Rn. 41).

Schließlich wird die Verzögerung nicht erkennbar durch anderweitige intensive, auf einen schnellstmöglichen Ermittlungsabschluss gerichtete Arbeiten kompensiert. Die nach der Festnahme des Beschuldigten gewonnenen polizeilichen Ermittlungsergebnisse sind der Generalstaatsanwaltschaft erst unter dem 26. März 2021 nach Aktenanforderung durch den Senat vorgelegt worden.

Da nach dem aktuellen Stand ein Abschluss der Ermittlungen noch nicht abzusehen ist, ist die dargelegte Verfahrensverzögerung angesichts der konkreten Umstände derart erheblich, dass ein weiterer Vollzug der Untersuchungshaft über inzwischen sieben Monate hinaus nicht mehr gerechtfertigt ist.

Fundstellen
StV 2021, 595