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BFH - Entscheidung vom 25.02.2021

III R 23/20

Normen:
EStG § 62 Abs. 1, § 49, § 1 Abs. 3
AO § 8, § 9, § 12
EStG § 62 Abs. 1
AO § 12
EStG § 49
EStG § 1 Abs. 3
AO § 8
AO § 9

Fundstellen:
BFH/NV 2021, 1344

BFH, Urteil vom 25.02.2021 - Aktenzeichen III R 23/20

DRsp Nr. 2021/13860

Kindergeldberechtigung eines monatsweise nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen Elternteils

Aufgrund des im Kindergeldrecht geltenden Monatsprinzips (§ 66 Abs. 2 EStG ) löst eine nach § 1 Abs. 3 EStG erfolgte Behandlung als unbeschränkt Steuerpflichtiger nur für die Monate einen Kindergeldanspruch aus, in denen der Steuerpflichtige inländische Einkünfte i.S. des § 49 EStG erzielt hat, die nach § 1 Abs. 3 EStG der Einkommensteuer unterliegen (hier: teilweise verneint).

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 04.03.2020 – 7 K 7168/18 aufgehoben.

Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.

Normenkette:

EStG § 62 Abs. 1 , § 49 , § 1 Abs. 3 ; AO § 8 , § 9 , § 12 ;

Gründe

I.

Streitig ist die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung und Rückforderung des ausgezahlten Kindergeldes für die Monate Juli bis Dezember 2015.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Vater des im November 1998 geborenen Sohnes W, der im November 1999 geborenen Tochter K und der im Mai 2003 geborenen Tochter Z. Er ist polnischer Staatsbürger, die Ehefrau und Kinder leben gemeinsam mit ihm in Polen.

Am 24.01.2008 meldete er unter der Anschrift X–Straße in Y einen Betrieb Trockenbau sowie Bodenleger, Holz- und Bautenschutz, Fliesenleger, Einbau von genormten Fertigteilen und am 22.01.2008 einen Wohnsitz unter derselben Anschrift an. Unter dieser Anschrift bescheinigte am 10.01.2018 der Schwiegervater des Klägers, dass sein Schwiegersohn und Mitbewohner "seit 22.01.2008 bei (ihm) wohnhaft (sei) und regelmäßig seinen Mietanteil in Höhe von 200 €" an ihn entrichte und keine Rückstände bestünden. Aus einer weiteren "Vermieterbescheinigung" vom 15.01.2018 ergibt sich, dass die Wohnung 57 m² groß sei, durch zwei Personen genutzt werde und die Wohnung ausschließlich zu Wohnzwecken vermietet werde.

Am 10.09.2013 beantragte der Kläger erstmals Kindergeld, wobei er angab, verheiratet (und nicht dauernd getrennt lebend) zu sein und dass seine Ehefrau mit den Kindern in Polen lebe. Die Ehefrau war im Streitzeitraum selbst erwerbstätig. Sie stimmte der Gewährung des Kindergeldes an den Kläger zu. Der Kläger legte einen Bescheid einer polnischen Behörde (Gemeindeverwaltung) vom 13.08.2013 vor, wonach kein Antrag auf Kindergeld in Polen gestellt wurde. Mit Bescheiden jeweils vom 24.06.2015 gewährte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) dem Kläger Kindergeld für die Kinder W und K für das Jahr 2009 bis einschließlich April 2013 und für alle drei Kinder ab Mai 2013 bis November 2016.

Mit mehreren Schreiben forderte die Familienkasse den Kläger auf, die gewerbliche Tätigkeit für den Zeitraum Juli bis Dezember 2015 durch Kopien von Rechnungen (inkl. Leistungszeitraum und Leistungsort) und Kontoauszügen nachzuweisen. Der Kläger reichte die Rechnungen 03/2015 vom 01.07.2015 (Leistungszeitraum 13.05.2015 bis 30.06.2015), 05/2015 vom 03.11.2015 (Leistungszeitraum 01.10.2015 bis 27.10.2015) und 06/2015 vom 19.12.2015 (Leistungszeitraum 05.11.2015 bis 18.12.2015) ein. Aus diesen Rechnungen ergibt sich, dass der Kläger in den angegebenen Zeiträumen auf einer Baustelle in Belgien gearbeitet hat.

Der Kläger wurde laut Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2015 nach § 1 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes ( EStG ) auf Antrag als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig veranlagt. Aus dem Einkommensteuerbescheid 2015 ergibt sich, dass Einkünfte in Höhe von 3.211 €, die nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegen, in den Progressionsvorbehalt einbezogen wurden.

Mit Bescheid vom 18.06.2018 hob die Familienkasse die bisherige Kindergeldfestsetzung für die Monate Juli bis Dezember 2015 auf und forderte das bereits ausgezahlte Kindergeld in Höhe von 3.420 € zurück.

Der hiergegen eingelegte Einspruch blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 20.08.2018).

Die Klage hatte ebenfalls keinen Erfolg. Zur Begründung führte das Finanzgericht (FG) aus, ein Kindergeldanspruch für den Streitzeitraum bestehe nicht, da bei Anwendung des § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG eine Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig nur für die Kalendermonate vorliege, in denen der Kindergeldberechtigte Einkünfte i.S. des § 49 EStG erziele, die der Einkommensteuer unterliegen. Dies sei vorliegend nicht der Fall, da der Kläger im Streitzeitraum ausschließlich in Belgien tätig gewesen sei und im Inland tatsächlich keine Betriebsstätte unterhalte.

Ob der Kläger im Inland einen Wohnsitz (§ 8 der Abgabenordnung —AO—) oder einen gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO ) habe, ließ das FG dahinstehen, weil auch dann nach der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 883/2004 —Grundverordnung—) kein Kindergeldanspruch bestünde.

Das FG hat in den Entscheidungsgründen und im Tenor des Urteils die Revision zugelassen. Dem Urteil ist eine Rechtsmittelbelehrung beigefügt, die sich auf solche Fälle bezieht, in denen die Revision nicht zugelassen wurde. Das Urteil wurde dem Kläger am 17.03.2020 zugestellt. Am 16.04.2020 legte der Kläger Revision ein. Die Begründung ging am 16.06.2020 beim Bundesfinanzhof (BFH) ein.

In der Sache rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des FG Berlin-Brandenburg vom 04.03.2020 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Die Familienkasse beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, als unbegründet zurückzuweisen.

II.

Die Revision ist zulässig (Punkt 1) und begründet (Punkt 2). Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).

1. Der Zulässigkeit der Revision steht nicht entgegen, dass sie nicht innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des angefochtenen Urteils begründet wurde.

a) Nach Zustellung des vollständigen Urteils ist die Revision beim BFH innerhalb eines Monats einzulegen (§ 120 Abs. 1 Satz 1 FGO ) und —sofern sie vom FG zugelassen wurde— innerhalb von zwei Monaten zu begründen (§ 120 Abs. 2 Satz 1 FGO ).

b) Die Frist für einen Rechtsbehelf beginnt nur zu laufen, wenn der Beteiligte ordnungsgemäß über den Rechtsbehelf belehrt worden ist (§ 55 Abs. 1 FGO ). Der Begriff "Rechtsbehelf" ist weit zu verstehen. Er umfasst als Oberbegriff außergerichtliche und gerichtliche Rechtsbehelfe, darunter die prozessualen Mittel zur Rechtsverwirklichung im Wege gerichtlicher Verfahren, einschließlich Antrag, Klage und Rechtsmittel (vgl. § 136 Abs. 2 FGO ). Auch die Frist zur Begründung der Revision nach § 120 Abs. 2 Satz 1 FGO ist eine "Frist für einen Rechtsbehelf" i.S. des § 55 Abs. 1 FGO (BFH-Urteil vom 12.05.2011 – IV R 37/09, BFH/NV 2012, 41 , Rz 19, m.w.N.). Denn die Zulässigkeit des Rechtsmittels hängt (auch) von der Einhaltung dieser Frist ab.

c) Die Revisionsbegründung ist danach im Streitfall rechtzeitig beim BFH eingegangen. Der Kläger war nicht zutreffend über die Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Revision belehrt worden. Diese Fristen begannen daher nach § 55 Abs. 1 FGO nicht zu laufen. Die deshalb maßgebliche Jahresfrist für die Einlegung des Rechtsbehelfs nach § 55 Abs. 2 Satz 1 FGO war bei Eingang der Revisionsbegründung noch nicht abgelaufen.

2. Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Rechtssache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO ). Der Senat kann auf der Grundlage der Feststellungen des FG nicht beurteilen, ob dem Kläger für die Monate Juli bis Dezember 2015 ein (Differenz–)Kindergeldanspruch zusteht.

a) Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 EStG setzt der Anspruch auf Kindergeld u.a. voraus, dass der Anspruchsteller einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat (Nr. 1) oder ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist (Nr. 2 Buchst. a) oder nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird (Nr. 2 Buchst. b).

b) Zutreffend ist das FG zunächst aufgrund der den Senat bindenden Feststellungen (§ 118 Abs. 2 FGO ) davon ausgegangen, dass eine Anspruchsberechtigung des Klägers nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG nicht besteht.

aa) Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG hat Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG , wer ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird.

Nach § 1 Abs. 3 EStG werden auf Antrag auch natürliche Personen als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt, die im Inland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, soweit sie inländische Einkünfte i.S. des § 49 EStG haben. Dies gilt nur, wenn ihre Einkünfte im Kalenderjahr zu mindestens 90 % der deutschen Einkommensteuer unterliegen oder wenn die nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte den Grundfreibetrag nach § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG nicht übersteigen.

Aufgrund des im Kindergeldrecht geltenden Monatsprinzips (§ 66 Abs. 2 EStG ) löst eine nach § 1 Abs. 3 EStG erfolgte Behandlung als unbeschränkt Steuerpflichtiger nur für die Monate einen Kindergeldanspruch aus, in denen der Steuerpflichtige inländische Einkünfte i.S. des § 49 EStG erzielt hat, die nach § 1 Abs. 3 EStG der Einkommensteuer unterliegen (BFH-Urteile vom 24.10.2012 – V R 43/11, BFHE 239, 327 , BStBl II 2013, 491 ; vom 18.04.2013 – VI R 70/11, BFH/NV 2013, 1554 ; vom 16.05.2013 – III R 8/11, BFHE 241, 511 , BStBl II 2013, 1040 ; vom 24.07.2013 – XI R 8/12, BFH/NV 2014, 495 ; vom 12.03.2015 – III R 14/14, BFHE 249, 292 , BStBl II 2015, 850 ). Zur Beantwortung der Frage, in welchem Monat die Einkünfte "erzielt" wurden, ist bei Kindergeldberechtigten, die Gewinneinkünfte haben, nicht auf die Art der Gewinnermittlung und auch nicht auf den Zeitpunkt des Zuflusses abzustellen. Vielmehr kommt es darauf an, in welchem Monat die wirtschaftliche Tätigkeit im Inland entfaltet wurde, welche die inländische Steuerpflicht auslöst und damit das Wahlrecht nach § 1 Abs. 3 EStG erst eröffnet (Senatsurteil vom 14.03.2018 – III R 5/17, BFHE 261, 117 , BStBl II 2018, 482 ; Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, § 62 EStG Rz 7).

bb) Im vorliegenden Fall ist der Kläger zwar auf seinen Antrag hin nach § 1 Abs. 3 EStG für das Jahr 2015 als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt worden. Er hatte aber nach den den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO ) im Streitzeitraum Juli bis Dezember 2015 keine inländischen Einkünfte i.S. des § 49 EStG .

(1) Gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a EStG liegen inländische Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§ 15 EStG ) vor, wenn für sie im Inland eine Betriebsstätte unterhalten wird oder ein ständiger Vertreter bestellt ist. Eine Betriebsstätte ist nach § 12 Abs. 1 Satz 1 AO jede feste Geschäftseinrichtung oder Anlage, die der Tätigkeit eines Unternehmens dient. Damit normiert § 49 EStG für diese Einkunftsart weitere tatbestandliche Voraussetzungen, die einen Inlandsbezug herstellen und die jeweiligen Einkünfte damit überhaupt erst zu "inländischen" i.S. des § 49 EStG machen. Bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb knüpft der Gesetzgeber an die im Inland entfaltete wirtschaftliche Tätigkeit an (sog. Quellenprinzip, vgl. BFH-Urteil vom 10.04.2013 – I R 22/12, BFHE 241, 251 , BStBl II 2013, 728 , Rz 10).

(2) Das FG hat festgestellt, dass die inländische Wohnung weder nach dem Klägervorbringen noch nach der Vermieterbescheinigung zu gewerblichen Zwecken genutzt wurde. Eine andere inländische Betriebsstätte kam ebenfalls nicht in Betracht. Nach § 118 Abs. 2 FGO ist der BFH an die im angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, es sei denn, dass in Bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht werden. Da die bloße Überlassung von Räumen noch keine Betriebsstätte begründet, vielmehr hinzukommen muss, dass auch dort eine eigene gewerbliche Tätigkeit ausgeübt wird (Senatsbeschluss vom 11.02.1999 – III B 91/98, BFH/NV 1999, 1122 ), ist die Würdigung des FG, eine inländische Betriebsstätte habe nicht vorgelegen, nicht zu beanstanden.

(3) Der Senat ist an die Feststellungen des FG nach § 118 Abs. 2 FGO gebunden, denn der Kläger hat die Feststellungen nicht mit einer ordnungsmäßigen Verfahrensrüge angegriffen. Sein Vorbringen beschränkt sich auf die Rüge, das Urteil sei fehlerhaft, weil die Veranlagung des Finanzamtes (FA) nach § 1 Abs. 3 EStG für das Jahr 2015 bewirke, dass damit für die Familienkasse und das FG bindend eine inländische Betriebsstätte im Streitzeitraum mit der Folge inländischer Einkünfte gemäß § 49 EStG festgestellt worden sei. Dieser Rechtsauffassung ist nicht zu folgen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Einkommensteuer nach § 2 Abs. 7 Satz 1 EStG eine Jahressteuer ist und ihre Grundlagen bei der Steuerfestsetzung gemäß § 2 Abs. 7 Satz 2 EStG jeweils für das Kalenderjahr zu ermitteln sind. Aus § 2 Abs. 7 EStG folgt jedoch nicht, dass sich die Behandlung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig jeweils auf ein Kalenderjahr bezieht. Dies steht auch im Einklang mit dem Wortlaut des § 1 Abs. 3 EStG , wonach die Behandlung von Personen als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig nur erfolgt, "soweit sie inländische Einkünfte i.S. des § 49 EStG haben". Dabei handelt es sich somit nicht nur um eine gegenständliche Definition im Hinblick auf die Bestimmung des sachlichen Umfangs der Einkünfte, sondern auch um eine zeitliche Einschränkung auf den Zeitraum der Behandlung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig (BFH-Urteil in BFHE 239, 327 , BStBl II 2013, 491 , Rz 20). Die für die Familienkasse bindende Veranlagung nach § 1 Abs. 3 EStG durch das FA ist aber nur eine der Voraussetzungen für die Kindergeldberechtigung nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG . Das entscheidende, von den Familienkassen und den FG selbst zu prüfende Kriterium für die Kindergeldberechtigung gemäß § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG ist, ausgehend von der im Kindergeldrecht erforderlichen monatsbezogenen Betrachtungsweise, die inländische Tätigkeit, welche die inländische Steuerpflicht auslöst und damit das Wahlrecht nach § 1 Abs. 3 EStG erst eröffnet (zum Ganzen: BFH-Urteil in BFHE 261, 117 , BStBl II 2018, 482 , m.w.N.). Dem steht auch nicht entgegen, dass die nach § 1 Abs. 3 EStG ergehenden Einkommensteuerbescheide keine Informationen darüber enthalten, wann die Einkünfte i.S. des § 49 EStG erzielt worden sind. Die Familienkassen und FG haben den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (§ 88 AO , § 76 FGO ). Dabei sind die Beteiligten nach § 90 AO , § 76 Abs. 1 Sätze 2 bis 4 FGO zur Mitwirkung verpflichtet (Senatsurteil vom 18.07.2013 – III R 59/11, BFHE 242, 228 , BStBl II 2014, 843 , Rz 24).

(4) Entgegen der Ansicht des Klägers ergibt sich auch aus den Regelungen zum Doppelbesteuerungsabkommen ( DBA ) mit Belgien nicht, dass im Streitzeitraum inländische Einkünfte i.S. des § 49 EStG vorliegen. Die DBA -Abkommen regeln nicht, wann inländische Einkünfte vorliegen. Das wird ausschließlich durch § 49 EStG bestimmt. Insbesondere führt ein Besteuerungsrecht nach dem DBA , für Einkünfte, die keine inländischen Einkünfte sind, nicht dazu, dass inländische Einkünfte i.S. des § 49 EStG entstehen. Auch soweit das FA im Einkommensteuerbescheid 2015 ausländische Einkünfte in die Berechnung des —progressiven— Steuersatzes einbezogen hat (Progressionsvorbehalt; vgl. § 32b EStG ), werden diese Einkünfte damit nicht zu inländischen Einkünften i.S. des § 49 EStG , die nach § 1 Abs. 3 EStG der Einkommensteuer unterliegen.

c) Zu Unrecht hat das FG hingegen die Frage, ob der Kläger im Streitzeitraum einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, dahinstehen lassen. Sofern der Kläger im Streitzeitraum einen inländischen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hatte, ist entgegen der Ansicht des FG ein Kindergeldanspruch nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG nicht zwingend ausgeschlossen.

aa) Gemäß § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG hat Anspruch auf Kindergeld für Kinder i.S. des § 63 EStG , wer im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat.

bb) Zu Recht ist das FG zwar davon ausgegangen, dass bei der Anwendung der §§ 62 ff. EStG die Regeln des europäischen Sozialrechts zu beachten sind, weil der Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist. Der Fall fällt unter den persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004, da der Kläger und die Kindsmutter als polnische Staatsangehörige nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 von diesem erfasst werden. Zudem fällt das deutsche Kindergeld nach Art. 3 Buchst. j i.V.m. Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004 unter den sachlichen Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 (Senatsurteil vom 26.07.2017 – III R 18/16, BFHE 259, 98 , BStBl II 2017, 1237 , Rz 13).

Ist der persönliche und sachliche Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet und liegen konkurrierende Ansprüche im Sinne der Verordnung vor, dann sind die Ansprüche ausschließlich nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 zu koordinieren. Diese Prioritätsregelung ist gegenüber § 65 EStG grundsätzlich vorrangig (Senatsurteil vom 04.02.2016 – III R 9/15, BFHE 253, 139 , BStBl II 2017, 121 , Rz 17, m.w.N.).

(1) Das FG ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Ehefrau des Klägers aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit in Polen den polnischen Rechtsvorschriften nach Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004 unterliegt. Der Kläger unterliegt —einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland unterstellt— gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004 den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland), da er nach den Feststellungen des FG im Streitzeitraum weder im Inland eine Erwerbstätigkeit ausgeübt (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a und b der VO Nr. 883/2004) noch Leistungen bei Arbeitslosigkeit (Art. 11 Abs. 3 Buchst. c der VO Nr. 883/2004) erhalten hat. Damit wäre Polen gemäß Art. 68 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 883/2004 der vorrangige Staat.

(2) Im Falle der Nachrangigkeit des Kindergeldanspruchs in Deutschland wird dieser nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 der VO Nr. 883/2004 bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt. Der an sich nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der VO Nr. 883/2004 vorgesehene Differenzbetrag muss gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 allerdings nicht für Kinder gewährt werden, die in einem Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird (Senatsurteil vom 22.02.2018 – III R 10/17, BFHE 261, 214 , BStBl II 2018, 717 , Rz 28 f.).

Entgegen der Ansicht der Familienkasse bedeutet dies aber nicht, dass der Anspruch im nachrangigen Staat nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 auch dann ausgeschlossen ist, wenn nur ein Anspruch im nachrangigen Staat besteht, die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für einen Anspruch im vorrangigen Staat aber nicht erfüllt sind. Die Koordinierungsregel des Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ist nach der neuesten Rechtsprechung des BFH nur anwendbar, wenn konkurrierende Ansprüche im Sinne dieser Vorschrift vorliegen (Senatsurteil vom 18.02.2021 – III R 27/19, BFH/NV 2021, 886 ; Helmke/Bauer in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach D, I. Kommentierung, Art. 68 VO Nr. 883/2004 Rz 36 f.). Besteht mithin im vorrangigen Staat kein Anspruch auf Familienleistungen, weil beispielsweise die Altersgrenze oder bestimmte Einkommensgrenzen überschritten sind, ist für diese Fallgestaltung eine Anwendung der Prioritätsregelung nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 generell ausgeschlossen. Insoweit wäre aber auch zu prüfen, ob dem Kläger ein Anspruch auf Familienleistungen in Belgien zusteht.

(3) Unter Zugrundelegung dieser Rechtsgrundsätze hat das FG im Streitfall zu Unrecht einen Kindergeldanspruch auch für den Fall verneint, dass der Kläger im Inland einen Wohnsitz im Streitzeitraum hatte und Familienleistungen in Polen und/oder Belgien ausgeschlossen sind.

3. Die Sache ist nicht spruchreif und war deshalb an das FG zurückzuverweisen, damit das FG die erforderlichen Feststellungen nachholt.

4. Für den zweiten Rechtsgang weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Das FG wird zunächst festzustellen haben, ob der Kläger im Streitzeitraum in Deutschland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hatte und deshalb nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG überhaupt anspruchsberechtigt sein kann (vgl. Senatsurteil vom 08.05.2014 – III R 21/12, BFHE 246, 389 , BStBl II 2015, 135 ). Gegen einen Wohnsitz könnte sprechen, dass der Kläger selbst eine Veranlagung nach § 1 Abs. 3 EStG beantragt und damit zumindest konkludent kundgetan hat, dass er im Inland weder einen Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

b) Soweit das FG in seinen Entscheidungsgründen ausgeführt hat, dass weder dem Kläger noch seiner Ehefrau ein Anspruch auf polnische Familienleistungen zugestanden habe, fehlt es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die Annahme eines fehlenden Anspruchs (zum Fehlen einer tragfähigen Tatsachengrundlage vgl. Senatsurteil vom 02.12.2004 – III R 49/03, BFHE 208, 531 , BStBl II 2005, 483 ). Bescheinigungen ausländischer Behörden, aus denen sich lediglich ergibt, dass kein Antrag auf Kindergeld in Polen gestellt wurde, sind nicht ausreichend, um einen Anspruch auf polnische Familienleistungen zu verneinen. Insofern wäre zu berücksichtigen, dass der vom Kläger in Deutschland gestellte Antrag gemäß Art. 68 Abs. 3 Buchst. b der VO Nr. 883/2004 von den polnischen Behörden so zu behandeln ist, als ob er direkt bei ihnen gestellt worden wäre; der Tag der Einreichung des Antrags beim ersten Träger gilt als der Tag der Einreichung bei dem Träger, der vorrangig zuständig ist. Sollte es auf den Anspruch auf Familienleistungen in Polen ankommen, könnte dies mittels eines Auskunftsersuchens gegenüber der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats Polen geklärt werden, ob und in welchem Umfang dort ein Anspruch auf Familienleistungen bestand.

c) Darüber hinaus wäre auch zu prüfen, ob der Kläger aufgrund seiner Tätigkeit in Belgien im Streitzeitraum Ansprüche auf Familienleistungen in Belgien hatte, die ebenfalls nach der VO Nr. 883/2004 zu koordinieren wären.

5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO .

Vorinstanz: FG Berlin-Brandenburg, vom 04.03.2020 - Vorinstanzaktenzeichen 7 K 7168/18
Fundstellen
BFH/NV 2021, 1344