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BVerwG - Entscheidung vom 27.11.2020

8 B 18.20

Normen:
VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3
GG Art. 103 Abs. 1

BVerwG, Beschluss vom 27.11.2020 - Aktenzeichen 8 B 18.20

DRsp Nr. 2021/1022

Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitsrente eines Rechtsanwalts auf der Grundlage eines eingeholten psychiatrisch-psychosomatisches Gutachtens eines Facharztes

Nach § 130a S. 1 VwGO kann das Berufungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.

Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 6. Januar 2020 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren und für das Berufungsverfahren - insoweit in Abänderung des Streitwertbeschlusses des Oberverwaltungsgerichts vom 6. Januar 2020 - auf 29 486,88 € festgesetzt.

Normenkette:

VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3 ; GG Art. 103 Abs. 1 ;

Gründe

1. Der Kläger war selbstständiger Rechtsanwalt und begehrt die Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitsrente. Seinen Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 3. April 2013 unter Berufung auf ein von ihr eingeholtes fachärztliches Gutachten des Prof. Dr. B. ab. Das Verwaltungsgericht hat ein psychiatrisch-psychosomatisches Gutachten des Facharztes Prof. Dr. M. eingeholt, welches zum Ergebnis kommt, der Kläger sei voraussichtlich dauernd berufsunfähig. Daraufhin hat es die Beklagte verpflichtet, dem Kläger ab dem 1. Januar 2012 eine Berufsunfähigkeitsrente gemäß der Satzung der Beklagten zu gewähren. Nach Anhörung der Beteiligten hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung der Beklagten ohne mündliche Verhandlung mit Beschluss vom 6. Januar 2020 zurückgewiesen. Es hat die Revision gegen seinen Beschluss nicht zugelassen.

2. Die hiergegen eingelegte Beschwerde der Beklagten, die ausschließlich Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO rügt, hat keinen Erfolg.

a) Ihre Rüge, das Berufungsgericht habe ermessensfehlerhaft trotz außergewöhnlicher Schwierigkeiten, die gesundheitliche Situation des Klägers in tatsächlicher Hinsicht zu bewerten, ohne mündliche Verhandlung gemäß § 130a VwGO durch Beschluss entschieden, greift nicht durch.

Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das Berufungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Ist das Erfordernis der Einstimmigkeit erfüllt, so liegt die Entscheidung über das Absehen von einer mündlichen Verhandlung im Ermessen des Berufungsgerichts. Revisionsgerichtlich ist dieses Ermessen nur daraufhin überprüfbar, ob sachfremde Erwägungen oder grobe Fehleinschätzungen vorgelegen haben. Bei der Ermessensentscheidung nach § 130a Satz 1 VwGO dürfen indes die Funktionen der mündlichen Verhandlung und ihre daraus erwachsende Bedeutung für den Rechtsschutz nicht aus dem Blick geraten (Art. 6 Abs. 1 EMRK ). Jedenfalls dann, wenn - wie hier - ein Beteiligter der beabsichtigten Entscheidung nach § 130a Satz 1 VwGO widerspricht, muss sich die Ausübung des Ermessens daran orientieren, dass die mündliche Verhandlung nach § 101 Abs. 1 , § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO auch im Berufungsverfahren die Regel, eine Entscheidung im vereinfachten Verfahren nach § 130a VwGO die Ausnahme bildet. Der Anwendungsbereich des § 130a Satz 1 VwGO ist nach dem Zweck der Norm grundsätzlich auf einfach gelagerte Streitsachen beschränkt. Die Durchführung einer Verhandlung ist erforderlich, wenn sich die Streitsache nach den Gesamtumständen des Einzelfalls in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht als außergewöhnlich schwierig erweist, wenn in einer tatsächlich besonders schwierigen Streitsache ein Beteiligter neuen erheblichen Tatsachenvortrag in das Berufungsverfahren eingeführt hat oder das Berufungsgericht die Beteiligten vor der Entscheidung durch Beschluss nach § 130a Satz 1 VwGO im Rahmen der Anhörung nach § 130a Satz 2, § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO auf die tragenden Gründe für seine von derjenigen des Verwaltungsgerichts abweichende Sachverhalts- und Beweiswürdigung hinweist. Führt ein Beteiligter daraufhin neuen und aus der Sicht des Berufungsgerichts erheblichen Sachvortrag ein oder kündigt er einen erheblichen Beweisantrag an, muss das Berufungsgericht mitteilen, aus welchem Grund es an seiner Absicht festhält, auf eine mündliche Verhandlung zu verzichten. Es darf nicht ohne weitere Anhörung nach § 130a Satz 2, § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss über die Berufung entscheiden (stRspr, vgl. zuletzt BVerwG, Beschlüsse vom 29. Juni 2020 - 2 B 37.19 - juris Rn. 18 ff. m.w.N. und vom 20. Oktober 2011 - 2 B 63.11 - IÖD 2012, 20 <21> = juris Rn. 6 ff.).

Nach diesen Maßstäben war die Entscheidung des Berufungsgerichts im Beschlusswege ohne mündliche Verhandlung nicht ermessensfehlerhaft. Das Gericht hat die Beteiligten ordnungsgemäß zur beabsichtigten Entscheidungsform angehört und in seinem Anhörungsschreiben vom 22. Oktober 2019 auf die einstimmig beabsichtigte Entscheidung und die hierfür wesentlich maßgeblichen Gesichtspunkte hingewiesen. Danach beabsichtigte das Gericht, auf Grundlage des erstinstanzlich ermittelten Tatsachenmaterials ebenso zu entscheiden wie das Verwaltungsgericht. In ihrer Stellungnahme hierzu hat die Beklagte keinen neuen Tatsachenstoff eingeführt und auch keine aus der materiell-rechtlichen Sicht des Berufungsgerichts erheblichen Beweisanträge angekündigt. Ihre mit der Berufungsbegründung angekündigten hilfsweisen Beweisanträge aus dem Schriftsatz vom 23. März 2018 gingen ebenso wie die Vorgaben der Beklagten für das von ihr vorgelegte Gutachten und im Gegensatz zum Berufungsgericht davon aus, die Berufsfähigkeit setze keine Fähigkeit zu eigenverantwortlicher rechtsberatender Tätigkeit voraus.

b) Aus den Darlegungen der Beklagten folgt nicht, dass das Berufungsgericht seine Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO ) dadurch verletzt hätte, dass es weder eine schriftliche Stellungnahme des von der Beklagten vorgerichtlich beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. B. zum Gutachten des Prof. Dr. M. eingeholt noch ihn zur mündlichen Erläuterung seines eigenen Gutachtens und zur Stellungnahme zum Gutachten von Prof. Dr. M. geladen oder ein neues Sachverständigengutachten zur Frage der Berufsunfähigkeit des Klägers seit dem 1. Januar 2012 eingeholt hat. Die Rüge einer Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht stellt kein Mittel dar, um Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten in den Tatsacheninstanzen zu kompensieren. Deshalb muss dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht auf die Vornahme der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung hingewirkt worden ist, oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen aufgrund bestimmter Anhaltspunkte auch ohne ein solches Hinwirken hätten aufdrängen müssen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Oktober 2020 - 2 B 57.20 - juris Rn. 8). Das ist hier nicht geschehen. Die Beklagte hat im Berufungsverfahren auf entsprechende Aufklärungsmaßnahmen nicht mit unbedingten Beweisanträgen hingewirkt, sondern lediglich die eben erwähnten hilfsweisen Beweisanträge angekündigt. Dem Berufungsgericht musste sich eine Anhörung des Prof. Dr. B. oder die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens auf der Grundlage seiner für die Prüfung eines Verfahrensfehlers maßgeblichen materiell-rechtlichen Auffassung auch nicht ohne unbedingte Beweisanträge aufdrängen. Nach den von ihm angenommenen Maßstäben für die Berufsunfähigkeit eines Rechtsanwaltes durfte es die danach erheblichen Umstände für durch das vom Verwaltungsgericht eingeholte Gutachten von Prof. Dr. M. geklärt halten.

c) Die Beklagte legt auch eine Verletzung ihres Rechts auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG , § 108 Abs. 2 VwGO ) nicht substantiiert gemäß § 133 Abs. 3 Satz 4 VwGO dar.

Eine Gehörsverletzung ergibt sich nicht daraus, dass das Berufungsgericht die von der Beklagten im Berufungsverfahren vorgelegte Stellungnahme ihres Sachverständigen Prof. Dr. B. vom 5. Februar 2018 nicht ausdrücklich in den Entscheidungsgründen erwähnt. Daraus lässt sich noch nicht schließen, dass das Berufungsgericht den Vortrag der Beklagten in deren Schriftsatz vom 23. März 2018 übergangen hat, das Verwaltungsgericht habe dieses vorgerichtliche Gutachten falsch interpretiert. Das Berufungsgericht hat sich mit dem Gutachten von Prof. Dr. B. eingehend auseinandergesetzt und dabei berücksichtigt, dass es wegen der Vorgaben der Beklagten für dieses Gutachten die aus seiner Sicht erhebliche Frage der Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Rechtsberatung nicht beantwortete. Diese Würdigung des Gutachtens ist dem materiellen Recht zuzuordnen und begründet grundsätzlich keinen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. Oktober 2020 - 2 B 68.20 - juris Rn. 11). Dass sie gegen Denkgesetze verstieße oder willkürlich wäre, legt die Beschwerde nicht dar.

Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beklagten liegt auch nicht darin, dass das Berufungsgericht dem Beweisbeschluss des Verwaltungsrates der Beklagten vom 10. November 2011 zur Einholung eines Sachverständigengutachtens entnommen hat, der Verwaltungsrat habe die Fähigkeit zu einer eigenverantwortlichen rechtsberatenden Tätigkeit nicht als zwingende Voraussetzung einer fortbestehenden Berufsfähigkeit eines Rechtsanwaltes angesehen. Dazu musste das Gericht der Beklagten nicht erneut Gelegenheit zur Stellungnahme geben, nachdem es in seiner Hinweisverfügung vom 22. Oktober 2019 zur beabsichtigten Entscheidung im Beschlusswege ausdrücklich darauf verwiesen hatte, der Beweisbeschluss enthalte hinsichtlich des Eintritts der Berufsunfähigkeit eines Rechtsanwaltes Vorgaben, welche einer Rechtsprüfung nicht standhielten. Dieser Hinweis eröffnete der Beklagten hinreichend Gelegenheit, sich zur Auslegung des Beweisbeschlusses zu äußern.

Die Rüge der Beklagten, das Berufungsgericht habe sich mit ihren Einwänden gegen das Gutachten von Prof. Dr. M. nur unvollständig befasst, legt ebenfalls keine Gehörsverletzung dar. Das Berufungsurteil ist auf die im Berufungsverfahren geltend gemachten Einwände eingegangen. Soweit es in seinem Urteil auf die Ausführungen von Prof. Dr. M. abgestellt hat, an eine Anwaltstätigkeit des Klägers sei im Kontext seiner ab 2007 auftretenden Panikattacken nicht zu denken gewesen, weil seine psychische Störung stark ausgeprägt und von Schlafstörungen gezeichnet gewesen sei, legt die Beschwerde nicht dar, inwieweit dadurch Vortrag der Beklagten übergangen worden wäre. Soweit die Beklagte rügt, Prof. Dr. M. habe sein Gutachten im Wesentlichen nur auf Parteivortrag des Probanden, in der Vergangenheit angefallene ärztliche Stellungnahmen und Ergebnisse von Tests zur Selbstbeurteilung des Probanden gestützt, weist das Berufungsgericht auch auf die eigene psychopathologische Befunderhebung des Gutachters und auf von ihm verwendete Fremdbeurteilungsverfahren hin. Auf den Einwand der Beklagten, der Sachverständige habe sich nicht mit dem Gutachten von Prof. Dr. B. auseinandergesetzt, ist das Berufungsgericht ebenfalls ausdrücklich eingegangen. Es hat Ausführungen des Prof. Dr. M. hierzu nicht für zwingend erforderlich gehalten, weil dieser nicht als Obergutachter bestellt worden sei. Er habe sich allein auf die eigene Befunderhebung stützen dürfen. Die abweichende Einschätzung der Beklagten zu dieser materiell-rechtlichen Bewertung des gerichtlichen Sachverständigengutachtens kann einen Gehörsverstoß nicht begründen. Ebenso hat sich das Berufungsgericht mit dem Einwand der Beklagten auseinandergesetzt, Prof. Dr. M. habe keine Beschwerdevalidierungstests und keinerlei Testverfahren zur Ermittlung des Konzentrationsvermögens und des Leistungsvermögens des Klägers durchgeführt. Es hat erläutert, dass es die Auffassung des Verwaltungsgerichts teile, die Festlegung der Modalitäten der Gutachtenerstellung und der Grundlagen der Überzeugungsbildung müsse das nicht sachkundige Gericht dem bestellten Gutachter überlassen.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 , § 162 Abs. 3 VwGO . Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 und § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG i.V.m. Nr. 14.3 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (dreifacher Jahresbetrag der beantragten Rente).

Vorinstanz: OVG Saarland, vom 06.01.2020 - Vorinstanzaktenzeichen 1 A 20/18