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BVerwG - Entscheidung vom 18.06.2020

3 C 14.19

Normen:
StVG § 4 Abs. 2 S. 3
StVG § 4 Abs. 5 S. 5 bis 7
StVG § 29 Abs. 7 S. 1
StVG § 65 Abs. 3
StVG § 4 Abs. 2 S. 3
StVG § 4 Abs. 5 S. 5-7
StVG § 29 Abs. 7 S. 1
StVG § 65 Abs. 3
StVG § 4 Abs. 2 S. 3
StVG § 4 Abs. 5 S. 5-7
StVG § 29 Abs. 7 S. 1
StVG § 65 Abs. 3

Fundstellen:
BVerwGE 168, 316
DAR 2020, 586
DÖV 2020, 996
NJW 2020, 2974
NZV 2021, 165

BVerwG, Urteil vom 18.06.2020 - Aktenzeichen 3 C 14.19

DRsp Nr. 2020/12114

Streit um die Entziehung einer Fahrerlaubnis auf der Grundlage des Fahreignungs-Bewertungssystems; Begrenzung des Tattagprinzips durch das Verwertungsverbot des § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG ; Tilgung und Löschung von im Verkehrszentralregister gespeicherten Verkehrsverstößen; Fahreignungsregister

Das absolute Verwertungsverbot des § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG überlagert und begrenzt das Tattagprinzip nach § 4 Abs. 5 Satz 5 bis 7 StVG

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 18. Juni 2019 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Normenkette:

StVG § 4 Abs. 2 S. 3; StVG § 4 Abs. 5 S. 5-7; StVG § 29 Abs. 7 S. 1; StVG § 65 Abs. 3 ;

Gründe

I

Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis auf der Grundlage des Fahreignungs-Bewertungssystems.

Mit Schreiben vom 7. November 2013 wurde der Kläger wegen des Erreichens von neun Punkten im Verkehrszentralregister gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG in der vor dem 1. Mai 2014 geltenden Fassung (a.F.) verwarnt. Aufgrund der Einführung des Fahreignungs-Bewertungssystems zum 1. Mai 2014 wurden die neun Punkte des Klägers im Verkehrszentralregister auf vier Punkte im Fahreignungsregister umgestellt. Nach der Eintragung einer weiteren mit zwei Punkten bewerteten Ordnungswidrigkeit des Klägers im Fahreignungsregister verwarnte ihn die Beklagte mit Schreiben vom 30. Juli 2015 gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG n.F. wegen des Erreichens von sechs Punkten. Der Kläger beging in der Folge zwei weitere mit jeweils einem Punkt bewertete Verkehrsordnungswidrigkeiten, die rechtskräftig geahndet und in das Fahreignungsregister eingetragen wurden; der letzte Tattag war der 19. Juli 2015.

Nach einer Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes über den aktuellen Punktestand entzog die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 24. November 2016 gestützt auf § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG seine Fahrerlaubnis und verpflichtete ihn unter Androhung eines Zwangsgeldes zur Abgabe des Führerscheins bei der Fahrerlaubnisbehörde innerhalb einer Woche nach Zugang des Bescheids. Der Kläger sei wegen der von ihm begangenen Verkehrsverstöße, für die im Fahreignungsregister acht Punkte eingetragen seien, nicht zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet. Eine Tilgung nach dem Erreichen dieses Punktestandes sei für die Rechtmäßigkeit einer auf § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützten Fahrerlaubnisentziehung ohne Bedeutung. Der Führerschein des Klägers ging am 2. Dezember 2016 bei der Beklagten ein.

Seine Klage hat das Verwaltungsgericht München abgewiesen. Zur Begründung heißt es: Die Entziehung der Fahrerlaubnis sei nicht deshalb rechtswidrig, weil die Beklagte Ordnungswidrigkeiten berücksichtigt habe, die dem Kläger gemäß § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG zum Entscheidungszeitpunkt nicht mehr hätten vorgehalten werden dürfen. Nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG sei auf den Tattag abzustellen; gemäß § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG blieben spätere Verringerungen des Punktestandes aufgrund von Tilgungen unberücksichtigt.

Auf die Berufung des Klägers hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das erstinstanzliche Urteil teilweise geändert und den Bescheid der Beklagten mit Ausnahme der Zwangsgeldandrohung aufgehoben. Zur Begründung wird ausgeführt: Für eine Klage gegen die Zwangsgeldandrohung, die sich durch die Vorlage des Führerscheins erledigt habe, fehle dem Kläger das Rechtsschutzbedürfnis. Ansonsten sei der Bescheid rechtswidrig und verletze ihn in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO ). Die Voraussetzungen für eine Fahrerlaubnisentziehung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG hätten nicht vorgelegen. Zwar habe die Fahrerlaubnisbehörde zuvor die im Stufensystem des § 4 Abs. 5 StVG vorgesehenen Maßnahmen ergriffen, doch habe der Kläger zu dem für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt, der Entziehung der Fahrerlaubnis, keine acht Punkte mehr im Fahreignungs-Bewertungssystem gehabt. Die Beklagte habe Ordnungswidrigkeiten berücksichtigt, die ihm gemäß § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zur Beurteilung seiner Fahreignung hätten vorgehalten und zu seinem Nachteil verwertet werden dürfen. Die Regelungen zur Berechnung des Punktestandes (§ 4 Abs. 5 Satz 5 bis 7 StVG ) seien im Rahmen der Rechtsfolgenregelung einer Löschung im Fahreignungsregister (§ 29 Abs. 7 Satz 1 StVG ) nicht anzuwenden. Es sei kein durch Gesetzesauslegung auszuräumender Wertungswiderspruch, sondern eine vom Gesetzgeber beabsichtigte Begrenzung des für die Berechnung des Punktestandes maßgeblichen Tattagprinzips, wenn § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG tatbestandlich an die Tilgung bzw. Tilgungsreife anknüpfe und § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG an die Löschung einer Eintragung nach Tilgungsreife und Ablauf einer einjährigen Überliegefrist. § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG sei keine das Verwertungsverbot durchbrechende Spezialvorschrift; die Bestimmung sei auch nicht analog anzuwenden. Weder den Gesetzgebungsmaterialien noch dem Regelungszusammenhang oder den der Regelung zugrundeliegenden Wertungen ließen sich Anhaltspunkte für eine beabsichtigte Durchbrechung des Verwertungsverbots entnehmen. Die Gesetzesbegründung zeige, dass der Gesetzgeber die einjährige Überliegefrist als ausreichend angesehen habe, um das Risiko taktisch motivierter Rechtsmittel zu begrenzen. Nach seiner Auffassung sollte die Löschung einer Eintragung nach Ablauf der Überliegefrist ein absolutes Verwertungsverbot nach sich ziehen und das für die Berechnung des Punktestandes maßgebliche Tattagprinzip hierdurch begrenzen.

Mit ihrer - vom Berufungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassenen - Revision macht die Beklagte geltend: Die Annahmen des Berufungsgerichts zur Reichweite von § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG verletzten das Tattagprinzip nach § 4 Abs. 5 Satz 5 bis 7 StVG . Sie habe auch die seit dem 25. September 2015 tilgungsreifen und seit dem 25. September 2016 im Fahreignungsregister gelöschten Eintragungen berücksichtigen dürfen; diese Eintragungen seien am 19. Juli 2015, dem hier maßgeblichen Tattag, weder tilgungsreif noch gelöscht gewesen. Für die Punkteberechnung sei gemäß § 4 Abs. 5 Satz 5 bis 7 StVG ausschließlich auf den Tattag der letzten relevanten Zuwiderhandlung abzustellen. Daran habe auch die Änderung von § 29 StVG zum 1. Mai 2014 nichts geändert.

Der Kläger tritt der Revision entgegen.

Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht ist in Übereinstimmung mit dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur der Auffassung, dass § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG das Tattagprinzip einschränke und das Berufungsurteil daher zutreffend sei.

II

Die Revision der Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO ), ist unbegründet. Das Berufungsurteil steht im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO ). Die Fahrerlaubnisentziehung war rechtswidrig, weil die Beklagte bei ihrer Entscheidung Ordnungswidrigkeiten berücksichtigt hat, die dem Kläger gemäß § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG nicht mehr zum Zwecke der Beurteilung seiner Fahreignung vorgehalten und zu seinem Nachteil verwertet werden durften. Das absolute Verwertungsverbot des § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG überlagert und begrenzt das in § 4 Abs. 5 Satz 5 bis 7 StVG geregelte Tattagprinzip des Fahreignungs-Bewertungssystems.

1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung einer Fahrerlaubnisentziehung auf der Grundlage des Fahreignungs-Bewertungssystems ist nicht anders als bei sonstigen Fahrerlaubnisentziehungen die Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung (stRspr, vgl. u.a. BVerwG, Urteile vom 23. Oktober 2014 - 3 C 3.13 [ECLI: DE: BVerwG: 2014: 231014U3C3.13.0] - Buchholz 442.10 § 3 StVG Nr. 16 Rn. 13 und vom 28. April 2010 - 3 C 2.10 - BVerwGE 137, 10 Rn. 11, jeweils m.w.N.); danach ist hier auf den Erlass des Bescheides vom 24. November 2016 abzustellen.

Zugrunde zu legen ist daher das Straßenverkehrsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. März 2003 (BGBl. I S. 310 , ber. S. 919), zum maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Gesetz zur Anpassung der Zuständigkeiten von Bundesbehörden an die Neuordnung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV-Zuständigkeitsanpassungsgesetz - WSVZuAnpG) vom 24. Mai 2016 (BGBl. I S. 1217 ). Anzuwenden sind die Regelungen zum Fahreignungs-Bewertungssystems, die durch das Fünfte Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3313 ) eingeführt wurden, einschließlich der dort in § 65 StVG getroffenen Übergangsbestimmungen zu "Alttaten" (Speicherung der Eintragung im Verkehrszentralregister vor Ablauf des 30. April 2014).

2. Die Fahrerlaubnisentziehung ist - wie das Berufungsgericht ohne Bundesrechtsverstoß annimmt - nicht deshalb rechtswidrig, weil die ihr gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG vorgelagerten Stufen der Ermahnung (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG ) und Verwarnung (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG ) beim Kläger nicht ordnungsgemäß durchlaufen worden wären. Er war mit Schreiben vom 7. November 2013 beim Erreichen von neun Punkten (alt) gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG a.F. verwarnt worden. Die fehlerhafte Ersatzzustellung wurde nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts gemäß Art. 9 BayVwZG durch Kenntnisnahme geheilt. Die Verwarnung nach altem Recht entspricht der Ermahnung nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem; eine (erneute) Ermahnung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG n.F. war nicht erforderlich (vgl. § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG ). Mit Schreiben der Beklagten vom 30. Juli 2015 war der Kläger beim Erreichen von sechs Punkten (neu) gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG auch ordnungsgemäß verwarnt worden.

3. Auch hinsichtlich der Anwendung von § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG verstößt das Berufungsurteil nicht gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO ). Die rechtlichen Voraussetzungen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG für die mit Bescheid vom 24. November 2016 verfügte Fahrerlaubnisentziehung waren zwar zu dem nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG maßgeblichen Tattag, hier dem 19. Juli 2015, erfüllt (a). Dem Kläger durften jedoch gemäß § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG die zum Zeitpunkt der Fahrerlaubnisentziehung bereits gelöschten Eintragungen nicht mehr vorgehalten und zu seinem Nachteil verwertet werden; dementsprechend ergaben sich nicht mehr, wie § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG voraussetzt, acht oder mehr, sondern nur noch vier Punkte (b).

a) Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist ihm zu entziehen, sobald sich in der Summe acht oder mehr Punkte ergeben. Punkte ergeben sich mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird (§ 4 Abs. 2 Satz 3 StVG ).

Gemäß § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG hat die nach Landesrecht zuständige Behörde für das Ergreifen der Maßnahmen nach Satz 1 auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Bei der Berechnung des Punktestandes werden nach Satz 6 Zuwiderhandlungen (1.) unabhängig davon berücksichtigt, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen ergriffen worden sind, (2.) nur dann berücksichtigt, wenn deren Tilgungsfrist zu dem in Satz 5 genannten Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war. Nach § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG bleiben spätere Verringerungen des Punktestandes auf Grund von Tilgungen unberücksichtigt.

Maßgeblicher Tattag im Sinne von § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG ist hier der 19. Juli 2015. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kläger acht Punkte im Fahreignungsregister erreicht, da bis dahin auch seine in den Jahren von 2010 bis 2013 begangenen Verkehrsverstöße und die dazu bis zum Ablauf des 30. April 2014 im Verkehrszentralregister gespeicherten Entscheidungen weder getilgt noch gelöscht waren; diese "Alttaten" waren zum maßgeblichen Tattag mit vier Punkten zu berücksichtigen.

Die Tilgung und Löschung von bis zum Ablauf des 30. April 2014 im Verkehrszentralregister gespeicherten Verkehrsverstößen und der dazu ergangenen Entscheidungen richten sich nach der Übergangsbestimmung des § 65 Abs. 3 Nr. 2 StVG . Danach werden Entscheidungen, die nach § 28 Absatz 3 in der bis zum Ablauf des 30. April 2014 anwendbaren Fassung im Verkehrszentralregister gespeichert worden und - wie hier - nicht von Nummer 1 erfasst sind, bis zum Ablauf des 30. April 2019 nach den Bestimmungen des § 29 in der bis zum Ablauf des 30. April 2014 anwendbaren Fassung (im Folgenden: a.F.) getilgt und gelöscht.

Die Tilgungsfrist beträgt bei den von der Übergangsregelung erfassten Ordnungswidrigkeiten des Klägers gemäß § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVG a.F. zwei Jahre. Sie beginnt gemäß § 29 Abs. 4 Nr. 3 StVG a.F. bei gerichtlichen und verwaltungsbehördlichen Bußgeldentscheidungen mit dem Tag der Rechtskraft oder Unanfechtbarkeit der beschwerenden Entscheidung. Sind - wie hier - mehrere Entscheidungen nach § 28 Abs. 3 Nr. 1 bis 9 StVG im Verkehrszentralregister eingetragen, greift die Tilgungshemmung nach § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG a.F.; danach ist die Tilgung einer Eintragung vorbehaltlich der Regelungen in den Sätzen 2 bis 6 erst zulässig, wenn für alle betreffenden Eintragungen die Voraussetzungen der Tilgung vorliegen. Die Ahndung des vom Kläger am 15. Mai 2013 begangenen Verkehrsverstoßes wurde am 25. September 2013 rechtskräftig. Die Tilgungsreife dieser Eintragung- und aufgrund der Tilgungshemmung nach § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG a.F. auch jene der weiteren im Verkehrszentralregister gespeicherten Eintragungen - ist erst zwei Jahre später, hier also zum 25. September 2015, eingetreten. Durch Entscheidungen, die erst ab dem 1. Mai 2014 im Fahreignungsregister gespeichert wurden, wird gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 StVG eine weitere Ablaufhemmung nicht ausgelöst.

Damit waren die Eintragungen zu diesen Verkehrsverstößen und den dazu ergangenen Entscheidungen zu dem hier nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG maßgeblichen Tattag, dem 19. Juli 2015, noch nicht tilgungsreif. Sie waren deshalb gemäß § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 2 StVG anrechenbar. Erst recht waren diese Eintragungen zum maßgeblichen Tattag noch nicht gelöscht. Deren Löschung hatte gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 2 StVG i.V.m. § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG a.F. erst ein Jahr nach Eintritt der Tilgungsreife zu erfolgen, hier also am 25. September 2016.

b) Doch wird das Tattagprinzip nach § 4 Abs. 5 Satz 5 bis 7 StVG durch das absolute Verwertungsverbot des § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG überlagert und begrenzt; nach dieser Bestimmung dürfen die Tat und die Entscheidung dem Betroffenen für die Zwecke des § 28 Absatz 2 nicht mehr vorgehalten und nicht zu seinem Nachteil verwendet werden, wenn eine Eintragung im Fahreignungsregister gelöscht ist. Zu den Zwecken des § 28 Abs. 2 StVG gehört nach dessen Nummer 1 die Beurteilung der Eignung und der Befähigung von Personen zum Führen von Kraftfahrzeugen. § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG ist auch auf Eintragungen anzuwenden, die gemäß § 28 StVG a.F. im Verkehrszentralregister erfolgt sind, da § 65 StVG hierzu keine Übergangsbestimmung enthält (so auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 22. Februar 2017 - 12 ME 240/16 [ECLI: DE: OVGNI: 2017: 0222.12ME240.16.0A] - juris Rn. 6).

aa) Dem Wortlaut von § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG ist in Verbindung mit der vom Gesetzgeber vorgenommenen Neuregelung der Rechtsfolgen der Tilgung und der Löschung von Eintragungen in § 29 Abs. 6 und 7 StVG zu entnehmen, dass das nach § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG nun bei der Löschung einer Eintragung eintretende absolute Verwertungsverbot das Tattagprinzip nach § 4 Abs. 5 Satz 5 bis 7 StVG modifiziert (wie das Berufungsgericht auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 22. Februar 2017 - 12 ME 240/16 - juris Rn. 6 ff.; zustimmend: Hillebrand, ZfS 2019, 550 <552 f.>) und nicht umgekehrt durch § 4 Abs. 5 Satz 5 bis 7 StVG kraft Spezialität verdrängt wird (so OVG Bautzen, Beschluss vom 29. November 2017 - 3 B 274/17 [ECLI: DE: OVGSN: 2017: 1129.3B274.17.00] - juris).

Mit der Einführung des Fahreignungs-Bewertungssystems und des Fahreignungsregisters, das an die Stelle des bisherigen Verkehrszentralregisters getreten ist, durch das Fünfte Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3313 ) hat der Gesetzgeber unter anderem auch die Rechtsfolgen einer Tilgung und Löschung von Eintragungen im Register neu geregelt.

Vor der Neuregelung nach § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG a.F. führte die Tilgung und nicht die Löschung einer Eintragung, die auch nach dem alten Recht erst nach einer Überliegefrist von einem Jahr erfolgte (vgl. § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG a.F.), zu einem strikten Verwertungsverbot. § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG a.F. sah vor, dass, wenn eine Eintragung im Verkehrszentralregister getilgt ist, die Tat und die Entscheidung dem Betroffenen für die Zwecke des § 28 Abs. 2 - und damit gemäß Nummer 3 für die Ahndung von Verstößen, von Personen, die wiederholt im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr stehende Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten begangen haben - nicht mehr vorgehalten und nicht zu seinem Nachteil verwertet werden dürfen.

In dem neuen § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG sieht der Gesetzgeber ein solches absolutes Verwertungsverbot nun ab der Löschung einer Eintragung vor, also nach Ablauf der einjährigen Überliegefrist. Bis zur Löschung einer Eintragung lässt der Gesetzgeber deren Verwertung noch zu. Gemäß § 29 Abs. 6 Satz 3 StVG darf der Inhalt der Eintragung während der Überliegefrist zu bestimmten Zwecken übermittelt, genutzt oder über ihn eine Auskunft erteilt werden; dazu gehört nach der Nummer 2 dieser Regelung die Übermittlung an die nach Landesrecht zuständige Behörde zur Ergreifung von Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem nach § 4 Absatz 5. In der Gesetzesbegründung heißt es zu dieser Änderung von § 29 StVG , dass im Gegensatz zum bisherigen Wortlaut nun während der Überliegefrist die für die Praxis sinnvolle Übermittlung und Verwertung u.a. für die Zwecke des Fahreignungs-Bewertungssystems zugelassen werde (BT-Drs. 17/12636 S. 47).

Unterscheidet der Gesetzgeber aber bei der Neufassung von § 29 Abs. 6 und 7 StVG zwischen der Tilgungsreife und Tilgung einer Eintragung auf der einen und der Löschung einer Eintragung auf der anderen Seite und ordnet er Tilgung und Löschung unterschiedliche Rechtsfolgen zu, muss aus dem Umstand, dass er in § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG bei der im selben Änderungsgesetz erfolgten Regelung des Tattagprinzips lediglich vorsieht, dass spätere Verringerungen des Punktestandes aufgrund von Tilgungen unberücksichtigt bleiben, geschlossen werden, dass bei der Löschung einer Eintragung anderes gilt; dass also jedenfalls mit der Löschung einer Eintragung nach Ablauf eines weiteren Jahres dann das in § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG einer Löschung beigelegte absolute Verwertungsverbot durchgreift.

bb) Dem entspricht, dass der Gesetzgeber das Risiko taktisch motivierter Rechtsmittel, das mit einem an den Ablauf von Tilgungs- und Überliegefristen anknüpfenden Verwertungsverbot einhergeht, durchaus gesehen hat. Er hält es jedoch für hinnehmbar, da rein taktisch motivierte Rechtsmittel die einjährige Überliegefrist überwinden müssten (BT-Drs. 17/12636 S. 20). Auch hier stellt der Gesetzgeber also, was die Nichtberücksichtigung älterer Eintragungen für das Ergreifen einer Maßnahme nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem angeht, auf die Löschung einer Eintragung ab.

cc) Dafür, dass § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG den Regelungen zum Tattagprinzip in § 4 Abs. 5 Satz 5 bis 7 StVG vorgeht, streitet schließlich der Umstand, dass es sich bei der Regelung des § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG und der damit verbundenen "Festschreibung" des Punktestandes gegenüber einer nachträglich erfolgenden Tilgung um eine den Betroffenen belastende Regelung handelt. Hätte nach dem Konzept des Gesetzgebers entgegen dem Verwertungsverbot des § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG nicht nur die spätere Tilgung, sondern auch die spätere Löschung einer Eintragung für das Ergreifen der im Fahreignungs-Bewertungssystem vorgesehenen Maßnahme irrelevant sein sollen, hätte es das rechtsstaatliche Gebot der Normenklarheit verlangt, dass er dies in § 4 Abs. 5 Satz 5 bis 7 StVG eindeutig zum Ausdruck bringt (vgl. Dauer, in: Hentschel/König/Dauer <Hrsg.>, Straßenverkehrsrecht, 49. Aufl. 2019, § 4 StVG Rn. 83a).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO .

Beschluss:

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 10 000 € festgesetzt.

Vorinstanz: VG München, vom 28.02.2018 - Vorinstanzaktenzeichen M 6 K 16.5922
Vorinstanz: VGH Bayern, vom 18.06.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 11 BV 18.778
Fundstellen
BVerwGE 168, 316
DAR 2020, 586
DÖV 2020, 996
NJW 2020, 2974
NZV 2021, 165