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BVerwG - Entscheidung vom 09.10.2020

2 B 68.20

Normen:
VwGO § 86 Abs. 1 S. 1
VwGO § 98
ZPO § 412 Abs. 1

BVerwG, Beschluss vom 09.10.2020 - Aktenzeichen 2 B 68.20

DRsp Nr. 2020/16657

Streit um die Bemessung einer Disziplinarmaßnahme gegen eine Beamtin wegen Veruntreuung von Geldern im Hinblick auf die hinreichende Aufklärung der Frage einer etwaigen verminderten Schuldfähigkeit; Anforderungen an die Darlegung einer Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht; Anforderungen an das Ermessen des Gerichts bei der Entscheidung über die Einholung eines weiteren Gutachtens

Die unterlassene Einholung eines zusätzlichen Gutachtens kann nur dann verfahrensfehlerhaft sein, wenn ein vorliegendes Gutachten seinen Zweck nicht zu erfüllen vermag, dem Gericht die zur Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts erforderliche Sachkunde zu vermitteln und ihm dadurch die Bildung der für die Entscheidung notwendigen Überzeugung zu ermöglichen.

Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 25. Juni 2020 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Normenkette:

VwGO § 86 Abs. 1 S. 1; VwGO § 98 ; ZPO § 412 Abs. 1 ;

Gründe

1. Die 1961 geborene Beklagte stand von August 1978 bis zu ihrer zum Ablauf des 31. Mai 2017 verfügten Versetzung in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit im Dienst der klagenden Stadt. Zuletzt war sie im Amt einer Stadthauptsekretärin (Besoldungsgruppe A 8 BBesO ) als Sachbearbeiterin im Bereich der Bürgerberatung tätig und u.a. für die Einnahme von Verwaltungsgebühren für erbrachte Dienstleistungen zuständig.

Auf die im Jahr 2018 erhobene Disziplinarklage hin hat das Verwaltungsgericht der Beklagten das Ruhegehalt aberkannt. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte habe ein Dienstvergehen begangen, indem sie im Zeitraum August 2010 bis August 2015 im Rahmen von insgesamt 22 Diensthandlungen von Bürgern Gebühren entweder in bar oder mittels EC-Cash-Verfahrens entgegengenommen habe, ohne diese der städtischen Einnahmekasse zuzuführen; stattdessen habe sie einen Betrag in Höhe von insgesamt 670,20 € für sich behalten. Damit habe sie gegen ihre Pflicht zur uneigennützigen Amtswahrnehmung und zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten verstoßen. Die insbesondere an der Schwere des Dienstvergehens orientierte Maßnahmebemessung führe zur Aberkennung des Ruhegehalts. Der Milderungsgrund einer verminderten Schuldfähigkeit der Beklagten liege nicht vor. Nach dem vom Berufungsgericht eingeholten psychiatrischen Sachverständigengutachten des Dr. K. vom 2. März 2020 habe bei der Beklagten zwar - auch im Tatzeitraum - eine langjährige Alkoholproblematik und eine depressive Symptomatik bestanden; gleichwohl liege kein Eingangsmerkmal i.S.d. §§ 20 , 21 StGB vor und könne eine Aufhebung oder Verminderung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit der Beklagten, auch unterhalb eines der Eingangsmerkmale, im Tatzeitraum mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.

2. Die allein auf den Verfahrensmangel einer unzureichenden Sachaufklärung (§ 67 Satz 1 LDG NRW i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

Die Beschwerde macht geltend, das Berufungsgericht habe gegen seine Aufklärungspflicht verstoßen, indem es kein weiteres Sachverständigengutachten zur Frage einer etwaigen verminderten Schuldfähigkeit der Beklagten eingeholt habe. Die Notwendigkeit einer weiteren Aufklärung dieser Frage hätte sich dem Berufungsgericht aufdrängen müssen. Diese Kritik geht fehl.

a) Die Rüge einer Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO (hier i.V.m. § 3 LDG NRW) erfordert nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die substanziierte Darlegung, welche Tatsachen auf der Grundlage der materiell-rechtlichen Auffassung des Berufungsgerichts aufklärungsbedürftig waren, welche für erforderlich und geeignet gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht kamen, welche tatsächlichen Feststellungen dabei voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern diese unter Zugrundelegung der materiell-rechtlichen Auffassung des Berufungsgerichts zu einer für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung hätten führen können; weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätten aufdrängen müssen (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Januar 1969 - 6 C 52.65 - BVerwGE 31, 212 <217 f.>; Beschlüsse vom 6. März 1995 - 6 B 81.94 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 265 S. 8, vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 S. 14 f. = NJW 1997, S. 3328 und vom 18. Juni 1998 - 8 B 56.98 - Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 154 S. 475).

Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht. Sie legt bereits nicht dar, dass und in welcher Weise die anwaltlich vertretene Beklagte bereits vor dem Berufungsgericht auf die nunmehr beanstandete unterbliebene Sachverhaltsaufklärung in Gestalt eines weiteren Sachverständigengutachtens, namentlich mit einem Beweisantrag, hingewirkt hat. Entgegen der pauschalen Einschätzung der Beschwerde (Beschwerdebegründung S. 3) musste sich eine solche weitere Sachaufklärung dem Berufungsgericht auch nicht aufdrängen.

Gemäß § 3 LDG NRW i.V.m. § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO hat das (Disziplinar-)Tatsachengericht den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln. Fehlt dem Gericht die hierfür erforderliche Sachkunde, muss es sachverständige Hilfe in Anspruch nehmen. Kommt es maßgeblich auf den Gesundheitszustand eines Menschen an, ist regelmäßig die Inanspruchnahme ärztlicher Fachkunde erforderlich. Für die im Streitfall entscheidungserheblichen medizinischen Fachfragen gibt es keine eigene, nicht durch entsprechende medizinische Sachverständigengutachten vermittelte Sachkunde des Richters (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juni 2014 - 2 C 22.13 - BVerwGE 150, 1 Rn. 18; Beschlüsse vom 24. Juli 2014 - 2 B 85.13 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 382 Rn. 5 und vom 28. Februar 2017 - 2 B 85.16 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 49 Rn. 8, jeweils m.w.N.). Demgemäß hat das Berufungsgericht im Streitfall zur Aufklärung der Frage einer etwaigen verminderten Schuldfähigkeit der Beklagten das fachpsychiatrische Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Dr. K. vom März 2020 eingeholt und sich bei seinen Feststellungen und seiner rechtlichen Bewertung auf dieses Gutachten gestützt.

Über die Einholung eines weiteren Gutachtens entscheidet das Gericht nach seinem Ermessen (§ 98 VwGO i.V.m. § 412 Abs. 1 ZPO ). Die unterlassene Einholung eines zusätzlichen Gutachtens kann deshalb nur dann verfahrensfehlerhaft sein, wenn ein vorliegendes Gutachten seinen Zweck nicht zu erfüllen vermag, dem Gericht die zur Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts erforderliche Sachkunde zu vermitteln und ihm dadurch die Bildung der für die Entscheidung notwendigen Überzeugung zu ermöglichen. Liegen dem Gericht bereits sachverständige Äußerungen zu einem Beweisthema vor, muss es ein zusätzliches Gutachten nur einholen, wenn die vorhandene Stellungnahme von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, inhaltliche Widersprüche oder fachliche Mängel aufweist oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder Unparteilichkeit des Gutachters besteht (BVerwG, Beschlüsse vom 29. Mai 2009 - 2 B 3.09 - Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 5 Rn. 7 und vom 16. Mai 2018 - 2 B 12.18 - Buchholz 239.1 § 36 BeamtVG Nr. 3 Rn. 9).

Derartige Mängel des Gutachtens des Sachverständigen Dr. K. zeigt die Beschwerde nicht auf. Sie führt lediglich aus, es sei nicht nachvollziehbar, dass das Gutachten zwar vom Vorliegen schwerer Störungen bei der Beklagten ausgegangen, aber dennoch eine verminderte Steuerungsfähigkeit ausgeschlossen habe. Sie setzt sich aber in keiner Weise damit auseinander, warum das Gutachten ein Eingangsmerkmal i.S.d. §§ 20 , 21 StGB und damit eine verminderte Steuerungsfähigkeit ausgeschlossen hat. Dementsprechend fehlt es auch an einer substanziierten Infragestellung dieser Feststellungen, deren es bedürfte, um die Erforderlichkeit eines weiteren Gutachtens zu begründen.

b) Der Sache nach greift die Beschwerde eher die Würdigung des eingeholten Sachverständigengutachtens durch das Berufungsgericht an, weil sie das Gutachten für "unschlüssig" hält (Beschwerdebegründung S. 3). Auch damit kann sie eine Zulassung der Revision nicht erreichen.

Die tatrichterliche Sachverhaltswürdigung, namentlich die vom Tatsachengericht vorzunehmende Würdigung eines eingeholten Sachverständigengutachtens, darf vom Revisionsgericht nicht daraufhin überprüft werden, ob sie überzeugend ist, ob festgestellte Einzelumstände mit dem ihnen zukommenden Gewicht in die abschließende Beweiswürdigung eingegangen sind und ob diese Einzelumstände die Würdigung tragen. Solche Fehler sind revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem materiellen Recht zuzuordnen und können einen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO grundsätzlich nicht begründen. Ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO ) hat jedoch dann den Charakter eines Verfahrensfehlers, wenn das Tatsachengericht allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze verletzt hat (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 20. Dezember 2016 - 2 B 110.15 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 48 Rn. 8 f. und vom 16. April 2020 - 2 B 5.19 - IÖD 2020, 146 <149 f.>, jeweils m.w.N.). Das Ergebnis der gerichtlichen Beweiswürdigung selbst ist vom Revisionsgericht nur daraufhin nachzuprüfen, ob es gegen Logik (Denkgesetze) und Naturgesetze verstößt oder gedankliche Brüche und Widersprüche enthält (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Mai 2007 - 2 C 30.05 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 50 Rn. 16 sowie Beschluss vom 25. Juni 2019 - 2 B 65.18 - Buchholz 237.1 Art. 87 BayLBG Nr. 1 Rn. 4).

Auch einen solchen Fehler legt die Beschwerdebegründung nicht dar.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 74 Abs. 1 LDG NRW i.V.m. § 154 Abs. 2 VwGO . Einer Festsetzung des Werts des Streitgegenstandes bedarf es nicht, weil für das Beschwerdeverfahren Festgebühren nach dem Gebührenverzeichnis der Anlage zu § 75 LDG NRW erhoben werden.

Vorinstanz: OVG Nordrhein-Westfalen, vom 25.06.2020 - Vorinstanzaktenzeichen A 1940/19