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BVerwG - Entscheidung vom 01.12.2020

9 BN 6.19

Normen:
VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3

BVerwG, Beschluss vom 01.12.2020 - Aktenzeichen 9 BN 6.19

DRsp Nr. 2021/1014

Prüfung des Vorliegens von Verfahrensmängeln im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO

Tenor

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. August 2019 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 10 000 € festgesetzt.

Normenkette:

VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3 ;

Gründe

Die auf das Vorliegen von Verfahrensmängeln im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gestützte Nichtzulassungsbeschwerde hat keinen Erfolg.

1. Die Rüge der Verletzung der richterlichen Aufklärungspflicht greift nicht durch.

Nach § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 VwGO erforscht das Gericht den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen, wobei die Beteiligten gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO heranzuziehen sind und an der Erforschung des Sachverhalts mitwirken müssen. Diese Mitwirkungspflichten entbinden das Gericht grundsätzlich nicht von seiner eigenen Aufklärungspflicht, ihre Verletzung kann aber die Anforderungen an die Ermittlungspflicht des Gerichts herabsetzen. Die gerichtliche Aufklärungspflicht findet dort ihre Grenze, wo das Vorbringen der Beteiligten keinen tatsächlichen Anlass zu weiterer Aufklärung bietet (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Februar 2020 - 9 BN 2.19 - juris Rn. 3 m.w.N.). Dies zugrunde gelegt, liegt ein Verstoß gegen § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht vor.

Die Beschwerde wendet sich dagegen, dass das Oberverwaltungsgericht die vorgelegten Kalkulationsunterlagen für nicht nachvollziehbar gehalten hat. Das Oberverwaltungsgericht hat die Regelungen in der streitigen Gebührensatzung über die unterschiedlichen Gebührensätze für Beitragszahler und Nichtbeitragszahler (sog. gespaltene Gebührensätze) für nichtig erklärt, weil deren konkrete Ausgestaltung anhand der vorgelegten Kalkulationsunterlagen nicht nachvollziehbar sei. In den Berechnungsunterlagen gebe es zu bestimmten Positionen unterschiedliche Angaben, die auch auf entsprechenden Hinweis des Gerichts nicht nachvollziehbar erläutert worden seien, weshalb die Kalkulation insgesamt nicht plausibel erscheine und insbesondere keine Aussage zur Einhaltung des Kostenüberschreitungsverbots ermögliche. Dies gehe zu Lasten des Antragsgegners, der im Rahmen seiner prozessualen Mitwirkungspflicht spätestens im Gerichtsverfahren eine nachvollziehbare und fehlerfreie Kalkulation vorlegen müsse. Unbeschadet dessen lasse die Kalkulation jedenfalls erkennen, dass der niedrigere Gebührensatz für die Beitragszahler nicht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats ermittelt worden sei. Der Antragsgegner habe zwar die Beiträge bei den Beitragszahlern zutreffend in Abzug gebracht, aber weder die ansatzfähigen Kosten noch die Maßstabseinheiten den Beitragszahlern verhältnismäßig zugeordnet.

Die Beschwerde führt diese Argumentation auf ein Fehlverständnis des Gerichts zurück, das durch die gebotene Aufklärung im Wege von Auflagen an den Antragsgegner, Nachrechnen oder sachverständige Überprüfung vermieden worden wäre. Ein entscheidungserheblicher Aufklärungsmangel liegt jedoch nicht vor.

Zwar mag zweifelhaft sein, ob das Oberverwaltungsgericht hier unter Hinweis auf prozessuale Mitwirkungspflichten des Antragsgegners ohne weitere Nachfrage von einer insgesamt nicht plausibel gemachten Kalkulation ausgehen durfte. Der Antragsgegner hatte auf den allgemeinen Hinweis des Gerichts auf nicht übereinstimmende Werte und Positionen in der "Kalkulation - Zuschlag Nichtbeitragszahler" einerseits und der "Gebührenkalkulation Betriebszweig Abwasserbehandlung Zeitraum 2017" andererseits mit Schriftsatz vom 9. August 2019 Ausführungen zu den Kalkulationsschritten und einzelnen Werten der Berechnung gemacht, die das Gericht für nicht hinreichend nachvollziehbar hielt. Ob deshalb Anlass für weitere konkrete Hinweise oder Nachfragen bestanden haben könnte, kann aber dahinstehen. Denn das Oberverwaltungsgericht hat seine Entscheidung selbständig tragend auf einen Kalkulationsfehler bei der Ermittlung des Gebührensatzes der Beitragszahler gestützt, der aus seiner Sicht nach den Unterlagen und Erläuterungen des Antragsgegners feststand und daher keiner weiteren Aufklärung bedurfte.

Der Hinweis des Gerichts, dass der Gebührensatz für die Beitragszahler nicht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats ermittelt worden sei, nimmt Bezug auf das bereits in der Hinweisverfügung vom 4. Juni 2019 angeführte Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 6. Juni 2007 - OVG 9 A 77.05 - (juris Rn. 40 ff.), wonach die Zahl der Maßstabseinheiten für die Ermittlung des ermäßigten Gebührensatzes auf den Kreis der beitragsbelasteten Nutzer zu beschränken sei. Demgegenüber hat der Antragsgegner, wie das Oberverwaltungsgericht darlegt, einen Divisor angesetzt, der der insgesamt prognostizierten Abwassermenge entspricht, und die Gruppe der Beitragszahler so behandelt, als ob alle Gebührenpflichtigen Beitragszahler wären. Zur Begründung der abweichenden Berechnungsmethode hat er darauf verwiesen, dass er von der Beitragszahlung als überwiegenden Regelfall ausgehe. Diesem Ansatz hat das Oberverwaltungsgericht in dem angefochtenen Beschluss eine ausdrückliche Absage erteilt. Die Beschwerde beanstandet in diesem Zusammenhang der Sache nach nicht etwaige Unklarheiten und Fehlvorstellungen des Gerichts, sondern dass das Gericht die gewählte Kalkulationsmethode inhaltlich für fehlerhaft gehalten hat. Dies betrifft die materielle Rechtsanwendung des Gerichts, die mit der Aufklärungsrüge nicht angegriffen werden kann.

2. Die Revision ist auch nicht wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG , § 108 Abs. 2 VwGO ) zuzulassen.

a) Ohne Erfolg rügt die Beschwerde, dass die angefochtene Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergangen ist.

Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör begründet keinen unmittelbaren Anspruch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Sehen die gesetzlichen Bestimmungen eine mündliche Verhandlung vor, darf das prozessuale Vertrauen der Verfahrensbeteiligten, ihr von Art. 103 Abs. 1 GG geschütztes Äußerungsrecht noch in der mündlichen Verhandlung wahrnehmen zu können, allerdings nicht enttäuscht werden (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 5. April 2012 - 2 BvR 2126/11 - BVerfGK 19, 377 <382>). Für Normenkontrollklagen eröffnet § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO die Möglichkeit, dass das Gericht durch Beschluss entscheidet, wenn es eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich hält. Die Entscheidung darüber liegt im richterlichen Ermessen; maßgebend ist, ob der Entscheidung ein unstreitiger oder umfassend aufgeklärter Sachverhalt zugrunde liegt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Juli 2011 - 8 PKH 4.11 - juris Rn. 2). Vorliegend hat das Oberverwaltungsgericht in seinen Hinweisverfügungen vom 4. Juni und 18. Juli 2019 jeweils u.a. auf die Absicht einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung hingewiesen, so dass der Antragsgegner nicht darauf vertrauen konnte, sich zusätzlich zu seiner schriftlichen Stellungnahme auch noch mündlich äußern zu dürfen. Nach Eingang der schriftlichen Stellungnahme bestand jedenfalls in Bezug auf den entscheidungstragenden Aspekt der Ermittlungsmethode für den Gebührensatz für Beitragszahler nach dem - insoweit maßgeblichen - Rechtsstandpunkt des Oberverwaltungsgerichts kein weiterer Aufklärungsbedarf, so dass in seiner Entscheidung, keine mündliche Verhandlung durchzuführen, kein entscheidungserheblicher Gehörsverstoß liegt.

b) Soweit die Beschwerde den angefochtenen Beschluss als "überraschend" bezeichnet, wird eine gehörsverletzende Überraschungsentscheidung nicht dargelegt. Eine solche liegt vor, wenn das Gericht seine Entscheidung ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte (stRspr, vgl. etwa BVerfG, Kammerbeschluss vom 5. April 202 - 2 BvR 2126/11 - BVerfGK 19, 377 <381> m.w.N.). Dies ist hier nicht der Fall. Das Oberverwaltungsgericht hat seinen Beschluss gerade auf die Aspekte gestützt, die es zuvor in den Verfügungen vom 4. Juni und 18. Juli 2019 angesprochen und zu denen sich der Antragsgegner mit Schriftsatz vom 9. August 2019 äußern konnte. Insbesondere hat das Oberverwaltungsgericht in seiner Verfügung vom 4. Juni 2019 darauf hingewiesen, dass bei der Bemessung des Gebührensatzes der Beitragszahler mehr Maßstabseinheiten angesetzt sind, als auf diese Gruppe von Gebührenpflichtigen entfallen. Unerwartet und insofern "überraschend" war für den Antragsgegner lediglich, dass das Gericht seine Ausführungen für unzureichend hielt und ihnen inhaltlich nicht gefolgt ist. Diese Kritik betrifft jedoch die materielle Rechtsanwendung des Gerichts. Darauf lässt sich eine Gehörsrüge nicht stützen.

3. Mit der Rüge eines Verfahrensfehlers wegen aktenwidriger Feststellungen zielt die Beschwerde auf eine Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes. Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen Überzeugung. Gegen diesen Grundsatz wird verstoßen, wenn zwischen den in der angegriffenen Entscheidung getroffenen tatsächlichen Annahmen und dem insoweit unumstrittenen Akteninhalt ein offensichtlicher, keiner weiteren Beweiserhebung bedürftiger, zweifelsfreier Widerspruch besteht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. November 2017 - 9 B 21.17 - juris Rn. 4 m.w.N.). Das ist hier nicht der Fall.

Die Beschwerde rügt, das Gericht habe zu Unrecht die vorgelegte Kalkulation als nicht plausibel angesehen, obwohl der Antragsgegner tatsächlich die vermissten Nachweise geführt habe. Damit nimmt sie nicht Bezug auf konkrete in den Akten vorhandene Unterlagen, die das Gericht übersehen habe, sondern beanstandet der Sache nach, dass das Gericht die vorgelegten Kalkulationsunterlagen und die dazu abgegebenen Erläuterungen nicht verstanden und deshalb fehlerhaft gewürdigt habe. Dies betrifft wiederum nicht den Verfahrensablauf und die Handhabung prozessualer Vorschriften, sondern (nur) die eigentliche Sachverhaltswürdigung und Rechtsfindung des Gerichts in Anwendung des materiellen Rechts. Die entscheidungstragende Feststellung des Oberverwaltungsgerichts, der angesetzte Divisor von 1 710 000 m3 entspreche der insgesamt für das Jahr 2017 prognostizierten Abwassermenge, stimmt im Übrigen mit der vorgelegten Gebührenkalkulation überein und ist deshalb nicht aktenwidrig.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO . Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 und 3 , § 52 Abs. 1 GKG und entspricht der Wertfestsetzung des Oberverwaltungsgerichts.

Vorinstanz: OVG Berlin-Brandenburg, vom 13.08.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 9 A 10.17