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BVerwG - Entscheidung vom 12.11.2020

2 B 1.20

Normen:
SG a.F. § 56 Abs. 4
VwVfG § 48 Abs. 1 S. 1

BVerwG, Beschluss vom 12.11.2020 - Aktenzeichen 2 B 1.20

DRsp Nr. 2021/2375

Darstellen der Änderung höchstrichterlicher Rechtsprechung zur Erhebung von Stundungszinsen als Änderung der Rechtslage

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 18. Oktober 2019 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 20 016,96 € festgesetzt.

Normenkette:

SG a.F. § 56 Abs. 4 ; VwVfG § 48 Abs. 1 S. 1;

Gründe

Die allein auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ) gestützte Beschwerde ist unbegründet.

1. Die Klägerin absolvierte während ihres Dienstverhältnisses als Soldatin auf Zeit von 2001 bis 2007 das Studium der Humanmedizin. Anschließend war sie als Stabsärztin tätig. Am 13. Januar 2009 berief die Universität K. die Klägerin als Akademische Rätin in das Beamtenverhältnis. Mit Ablauf des 12. Januar 2009 war sie deshalb kraft Gesetzes aus dem Dienstverhältnis einer Soldatin auf Zeit entlassen.

Mit Leistungsbescheid von September 2011 zog die Beklagte die Klägerin zur ratenweisen monatlichen Rückzahlung von Ausbildungsentgelt von ca. 135 000 € heran. Dafür erhob die Beklagte ab Oktober 2011 Stundungszinsen in Höhe von 4 v.H., die nach Erledigung der Hauptforderung zu berechnen und einzuziehen waren. Der gegen die Forderungen erhobene Widerspruch blieb erfolglos. Das Oberverwaltungsgericht hat die dagegen erhobene Klage mit rechtskräftig gewordenem Urteil 2016 in vollem Umfang abgewiesen.

Nach Erfüllung der Hauptforderung teilte die Beklagte der Klägerin am 24. Februar 2017 mit, dass Stundungszinsen in Höhe von ca. 22 400 € angefallen seien, die nunmehr in monatlichen Raten von 700 € rückzahlbar seien. Unter dem 24. April 2017 bat die Klägerin u.a. unter Hinweis auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. April 2017 - 2 C 16.16 - (BVerwGE 158, 364 ) von der Zinsforderung abzusehen. Im Juli 2017 beantragte der Bevollmächtigte der Klägerin u.a., das Verfahren zur Festsetzung der Ausbildungskosten wiederaufzugreifen und den im September 2011 ergangenen Leistungsbescheid bezüglich der Festsetzung von Stundungszinsen zurückzunehmen. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid von Februar 2018 mit der Begründung ab, eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung bedeute weder eine Änderung der Rechtslage noch sei daraus eine allgemeine Rechtsauffassung abzuleiten. Bei der Ermessensausübung sei berücksichtigt worden, dass keine Umstände vorgetragen worden seien, die eine Aufrechterhaltung des Bescheids als außergewöhnliche Härte erscheinen ließen. Das dagegen gerichtete Vorverfahren blieb für die Klägerin erfolglos.

Auf ihre Klage hat das Verwaltungsgericht unter Abweisung der Klage im Übrigen den Leistungsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids dahingehend abgeändert, dass ab dem 1. Mai 2017 von der Klägerin keine Stundungszinsen mehr zu zahlen sind. Auf die vom Verwaltungsgericht zugelassene und von der Beklagten eingelegte Berufung hat das Oberverwaltungsgericht die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Der Klägerin stehe hinsichtlich der Erhebung von Stundungszinsen für die Zeit ab dem 1. Mai 2017 weder ein Anspruch auf Wiederaufnahme des Verfahrens und teilweise Rücknahme des Leistungsbescheids von 2011 noch ein Anspruch auf erneute Entscheidung über ihren Wiederaufnahmeantrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu.

2. Die Revision ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache danach dann, wenn die Beschwerde eine konkrete Frage des revisiblen Rechts bezeichnet und aufzeigt, dass die Frage sowohl im konkreten Fall entscheidungserheblich als auch allgemein klärungsbedürftig ist. Klärungsbedarf besteht, wenn eine von der Beschwerde aufgeworfene Frage vom Bundesverfassungs- oder Bundesverwaltungsgericht weder beantwortet worden ist noch auf der Grundlage ihrer Rechtsprechung eindeutig beantwortet werden kann (stRspr; vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. Januar 2011 - 2 B 2.11 - NVwZ-RR 2011, 329 Rn. 4).

Die von der Beschwerde als grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO aufgeworfenen Rechtsfragen,

a) Stellt die in den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. April 2017 - 2 C 16.16 u.a. - liegende Änderung der Rechtsprechung hinsichtlich der Feststellung, dass § 56 Abs. 4 SG a.F. keine Rechtsgrundlage für die Festsetzung von Zinsen enthält, eine Änderung der Rechtslage dar?

b) Ist hinsichtlich des Wiederaufnahmeanspruchs eines Betroffenen in Fällen von ohne Rechtsgrundlage festgesetzten Stundungszinsen das Ermessen der Verwaltung auf Null reduziert?

c) Ist es ermessensfehlerfrei, bei der Frage des Wiederaufgreifens in dem Fall einer Festsetzung von Stundungszinsen der Rechtssicherheit grundsätzlich den Vorrang einzuräumen, auch wenn für die Festsetzung keine Rechtsgrundlage bestand?

sind durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beantwortet (a und b) oder nicht entscheidungserheblich (c).

a) Die Frage, ob eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine Änderung der Rechtslage ist, ist bereits durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Sinne der Rechtsansicht des Berufungsurteils geklärt. Danach stellt eine Änderung auch höchstrichterlicher Rechtsprechung - hier durch das Urteil des Senats vom 12. April 2017 - 2 C 16.16 - (BVerwGE 158, 364 Rn. 64 ff.) zur Erhebung von Stundungszinsen nach § 56 Abs. 4 SG a.F. - grundsätzlich keine Änderung der Rechtslage dar. Gerichtliche Entscheidungsfindung bleibt rechtliche Würdigung des Sachverhalts am Maßstab der vorgegebenen Rechtsordnung. Sie ist nicht geeignet oder darauf angelegt, die Rechtsordnung konstitutiv zu verändern (BVerwG, Urteile vom 27. Januar 1994 - 2 C 12.92 - BVerwGE 95, 86 <89>, vom 22. Oktober 2009 - 1 C 26.08 - BVerwGE 135, 137 Rn. 16 und vom 11. September 2013 - 8 C 4.12 - Buchholz 428 § 1 Abs. 8 VermG Nr. 48 Rn. 21 m.w.N.).

Der von der Beschwerde geltend gemachte Rechtsgedanke eines Wertungswiderspruchs zwischen § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG und den hier im Hinblick auf den behaupteten Rücknahmeanspruch für die Erhebung von Stundungszinsen nach § 56 SG a.F. einschlägigen § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG trägt nicht. Denn im Fall des § 79 Abs. 2 BVerfGG gibt es eine verfassungswidrige gesetzliche Vorschrift, die für nichtig erklärt worden ist, während es im Fall der Klägerin allein und nur um die gewandelte Auslegung einer verfassungsgemäßen Norm - hier § 56 Abs. 4 SG a.F. - geht.

b) Auch die weitere Frage, ob hinsichtlich des Wiederaufnahmeanspruchs eines Betroffenen in Fällen von ohne Rechtsgrundlage festgesetzten Stundungszinsen das Ermessen der Verwaltung auf Null reduziert ist, ist durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt. Hinsichtlich der in § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 VwVfG normierten Rechtsgrundlage für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens zur Korrektur bestandskräftig gewordener inhaltlich unrichtiger Entscheidungen besteht für den Betroffenen nur ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung (BVerwG, Urteile vom 21. Juni 2017 - 6 C 43.16 - Buchholz 421.2 Hochschulrecht Nr. 196 Rn. 9 m.w.N. und vom 20. November 2018 - 1 C 23.17 - BVerwGE 163, 370 Rn. 25). Der Gesetzgeber räumt bei der Aufhebung bestandskräftiger belastender Verwaltungsakte weder dem Vorrang des Gesetzes noch der Rechtssicherheit als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips einen generellen Vorrang ein. Die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Bestandskraft von Verwaltungsakten stehen vielmehr gleichberechtigt nebeneinander. Mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit besteht nur ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts, wenn dessen Aufrechterhaltung "schlechthin unerträglich" ist, was von den Umständen des Einzelfalls und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhängt (BVerwG, Urteile vom 17. Januar 2007 - 6 C 32.06 - NVwZ 2007, 709 Rn. 13, vom 24. Februar 2011 - 2 C 50.09 - Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 58 Rn. 11 und vom 20. November 2018 - 1 C 23.17 - BVerwGE 163, 370 Rn. 26).

Ein Festhalten an dem Verwaltungsakt ist danach insbesondere dann "schlechthin unerträglich", wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Die offensichtliche Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, dessen Rücknahme beansprucht wird, kann ebenfalls die Annahme rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei "schlechthin unerträglich" (BVerwG, Urteile vom 17. Januar 2007 - 6 C 32.06 - NVwZ 2007, 709 Rn. 13 und vom 20. November 2018 - 1 C 23.17 - BVerwGE 163, 370 Rn. 26).

Solche oder vergleichbare Umstände sind entgegen der Auffassung der Klägerin weder in einer generellen finanziellen Belastung mit den Stundungszinsen noch in dem Umstand zu sehen, dass die Zinsforderung mit § 56 Abs. 4 SG a.F. auf einer nach der Auslegung des Senats im Urteil vom 12. April 2017 - 2 C 16.16 - (BVerwGE 158, 364 Rn. 64 ff.) im Hinblick auf den damit verbundenen Eingriff in das Eigentumsrecht unzureichenden Rechtsgrundlage beruht hat. Denn bis zu der vorgenannten Entscheidung des Senats im April 2017 ist die Härtefallregelung in § 56 Abs. 4 Satz 3 SG a.F. von der gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung als hinreichende Rechtsgrundlage für die Frage der Erhebung von Stundungszinsen für rückzahlbare Ausbildungsentgelte anerkannt gewesen (vgl. etwa OVG Hamburg, Urteil vom 18. Juli 1997 - Bf I 23/95 - juris Rn. 38; VGH München, Beschluss vom 19. Mai 2015 - 6 ZB 14.1841 - juris Rn. 21; OVG Münster, Urteile vom 24. Februar 2016 - 1 A 335/14 - juris Rn. 73 und - 1 A 1991/14 - juris Rn. 84; OVG Koblenz, Urteil vom 10. Juni 2016 - 10 A 11136/15 - NVwZ-RR 2017, 243 Rn. 44 und VGH Mannheim, Urteil vom 6. Juli 2016 - 4 S 2237/15 - juris Rn. 46). Schon im Hinblick darauf lässt sich die Rechtswidrigkeit der Erhebung von Stundungszinsen durch einen bestandskräftig gewordenen Verwaltungsakt nicht als offensichtlich und damit "schlechthin unerträglich" beurteilen.

Aus dem Vorstehenden ergibt sich zugleich, dass der Streitfall mit dem hier inmitten stehenden einmaligen Rückforderungsbescheid gemäß § 56 Abs. 4 SG a.F. nicht zu vergleichen ist mit einem Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens betreffend einen bestandskräftigen Ruhensbescheid; denn dessen beamtenversorgungsrechtliche Besonderheit besteht darin, dass es sich bei einem Ruhensbescheid um einen feststellenden Verwaltungsakt mit sich monatlich neu aktualisierender Wirkung handelt (vgl. BVerwG, Urteile vom 7. Oktober 2020 - 2 C 1.19 - LS 1 und Rn. 16 sowie - 2 C 18.19 - Rn. 17 und 51 <beide zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwG bestimmt>).

c) Die schließlich von der Beschwerde der Sache nach aufgeworfene Frage, ob es ermessensfehlerfrei ist, bei der Frage des Wiederaufgreifens im Fall der Festsetzung von Stundungszinsen der Rechtssicherheit grundsätzlich den Vorrang vor der materiellen Gerechtigkeit einzuräumen, wenn für die Festsetzung keine Rechtsgrundlage bestand, ist vorliegend nicht entscheidungserheblich. Denn die Beklagte hat - auch jenseits einer möglichen Ermessensreduzierung auf Null - das ihr eingeräumte Rechtsfolgeermessen erkannt und ausgeübt. Dabei hat sie rechtsfehlerfrei berücksichtigt, dass die Klägerin besondere individuelle Belange - etwa besondere Lebensumstände, Notlagen - gegen die Zinsforderung nicht eingewandt hat. Ist die Aufrechterhaltung eines bestandskräftigen Verwaltungsakts nicht "schlechthin unerträglich" und das Wiederaufgreifensermessen deshalb nicht auf Null reduziert (dazu unter 2. b), bedarf es keiner weitergehenden Ermessenserwägungen (BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 - 1 C 23.17 - BVerwGE 163, 370 Rn. 30).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO . Die Streitwertentscheidung für das Beschwerdeverfahren folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1 und Abs. 3 GKG .

Vorinstanz: OVG Rheinland-Pfalz, vom 18.10.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 10 A 10818/19