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BVerfG - Entscheidung vom 13.05.2020

1 BvR 1521/17

Normen:
GG Art. 19 Abs. 4
BVerfGG § 93c Abs. 1 S. 1
§ 111 BauO BW 1965
RVG § 14 Abs. 1
RVG § 37 Abs. 2 Nr. 2
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
GG Art. 19 Abs. 4
BVerfGG § 93c Abs. 1 S. 1
LBO § 111
RVG § 14 Abs. 1
RVG § 37 Abs. 2 Nr. 2
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
GG Art. 19 Abs. 4
BVerfGG § 93c Abs. 1 S. 1
BauO BW (1965) § 111
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
RVG § 14 Abs. 1
RVG § 37 Abs. 2 Nr. 2

BVerfG, Beschluss vom 13.05.2020 - Aktenzeichen 1 BvR 1521/17

DRsp Nr. 2020/9514

Verfassungsbeschwerde gegen eine baurechtliche Abbruchsanordnung; Verletzung der Rechtsschutzgarantie durch Ablehnung der Berufungszulassung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ohne hinreichende Begründung; Anforderungen an die Handhabung des Zulassungsgrundes ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils; Nichtigkeit einer bauordnungsrechtlichen Festsetzung wegen fehlender Rechtsgrundlage

Tenor

1.

Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 7. Juni 2017 - 3 S. 816/17 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz . Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zurückverwiesen.

2.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

3.

Das Land Baden-Württemberg hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.

4.

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 25.000 Euro (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

Normenkette:

GG Art. 19 Abs. 4 ; BVerfGG § 93c Abs. 1 S. 1; BauO BW (1965) § 111; VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1 ; RVG § 14 Abs. 1 ; RVG § 37 Abs. 2 Nr. 2 ;

[Gründe]

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine baurechtliche Abbruchsanordnung.

1. Die Beschwerdeführerin, eine Bauträgergesellschaft, erhielt von der Beklagten des Ausgangsverfahrens, der Stadt L., eine Baugenehmigung zur Errichtung von vier Mehrfamilienhäusern. Das Grundstück liegt im Geltungsbereich eines aus dem Jahre 1968 stammenden Bebauungsplans. Der Bebauungsplan enthält neben planungsrechtlichen Festsetzungen (Abschnitt A des Textteils) auch örtliche Bauvorschriften (Abschnitt B des Textteils). Diese lauten - soweit vorliegend von Interesse - wie folgt:

[...]

A.6: Nebenanlagen unzulässig

[...]

[...]

B.7: Einfriedung

An den Straßen und öffentlichen Wegen, Holzzaun oder Lebendhecke bis 1,0 m Höhe.

Andere nicht an den Straßen und öffentlichen Wegen liegende Einfriedungen höchstens 1,0 m hoch.

[...]

Die Beschwerdeführerin errichtete die Häuser sowie - entlang der Grenze zu einer Straße - eine circa 46 Meter lange und 1,8 Meter hohe Mauer aus Sichtbeton. Nach Fertigstellung des Bauvorhabens veräußerte sie das Grundstück in Form von Wohnungseigentum.

2. Im Nachgang einer Baukontrolle erließ die beklagte Stadt eine Abbruchsanordnung hinsichtlich der errichteten Mauer. Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg.

3. Der Verwaltungsgerichtshof lehnte den Antrag der Beschwerdeführerin auf Zulassung der Berufung ab. Aus dem Vorbringen der Beschwerdeführerin ergäben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils.

II.

1. Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die behördlichen Entscheidungen, das Urteil des Verwaltungsgerichts und den ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs. Sie rügt eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 , Art. 14 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG . Insbesondere überspanne der Verwaltungsgerichtshof die Anforderungen an die Zulassung der Berufung und lasse insoweit das Rechtsmittel "leerlaufen". Sie habe ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung dargelegt, da sie die tragende Urteilsbegründung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt habe.

2. Das Land Baden-Württemberg und die beklagte Stadt hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens lagen der Kammer vor.

III.

1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde - soweit sie sich gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs richtet und eine Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG hinsichtlich des Zulassungsgrundes des § 124 Abs. 2 Nr.1 VwGO gerügt wird - zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden; danach ist die Verfassungsbeschwerde im genannten Umfang offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ).

a) Das Grundrecht des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert jedem den Rechtsweg, der geltend macht, durch die öffentliche Gewalt in eigenen Rechten verletzt zu sein. Damit wird sowohl der Zugang zu den Gerichten als auch die Wirksamkeit des Rechtsschutzes gewährleistet. Der Bürger hat einen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle in allen ihm von der Prozessordnung zur Verfügung gestellten Instanzen (vgl. BVerfGE 113, 273 <310>; 129, 1 <20>; stRspr). Aus dem Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ergeben sich Anforderungen an die gerichtliche Handhabung des Rechtsmittelrechts. Zwar gewährleistet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG keinen Anspruch auf die Errichtung eines Instanzenzuges. Hat der Gesetzgeber jedoch mehrere Instanzen geschaffen, darf der Zugang zu ihnen nicht in unzumutbarer und durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 134, 106 <117 Rn. 34>).

Der hier einschlägige Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ) wurde verfassungsrechtlich dahingehend konkretisiert, dass die Berufung zuzulassen ist, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfGE 110, 77 <83>; 125, 104 <140>; 134, 106 <118 Rn. 36>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 18. Juni 2019 - 1 BvR 587/17 -, Rn. 32; stRspr). Die Handhabung des Zulassungsgrundes ernstlicher Zweifel ist dann mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unvereinbar, wenn das Gericht in sachlich nicht mehr zu rechtfertigender Weise und damit objektiv willkürlich verneint, dass schlüssige Gegenargumente gegen einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung bestehen (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 18. Juni 2019 - 1 BvR 587/17 -, Rn. 32).

b) Ausgehend hiervon genügt der angegriffene Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs nicht mehr den sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Anforderungen. Es fehlt an einer nachvollziehbaren Begründung der Annahme, aus dem Zulassungsvorbringen ergäben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils.

aa) Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung tragend darauf gestützt, dass die streitbefangene Mauer außerhalb des im Bebauungsplan festgesetzten Baufensters liege und daher gegen das Verbot sämtlicher Nebenanlagen nach der bauplanungsrechtlichen Festsetzung A 6 verstoße.

Dieser Erwägung hat die Beschwerdeführerin im Berufungszulassungsverfahren Folgendes entgegengesetzt: Die bauordnungsrechtliche Festsetzung B 7, wonach Einfriedungen nur bis zu einer Höhe von 1,0 m zulässig seien, sei nicht von § 111 LBO in der bei Erlass des Bebauungsplans geltenden Fassung gedeckt. Nach dieser Vorschrift hätten die Gemeinden die Art und Höhe von Einfriedungen nur zur Abwehr von Verunstaltungen regeln dürfen, nicht auch zur Durchsetzung gestalterischer Vorstellungen. Da Hecken und Zäune mit einer Höhe von mehr als 1,0 m nicht typischerweise verunstaltend wirkten, könne der Ausschluss von Einfriedungen mit mehr als 1,0 m Höhe nach der bauordnungsrechtlichen Festsetzung B 7 nicht auf § 111 LBO gestützt werden. Die Nichtigkeit dieser Festsetzung erstrecke sich auf das bauplanungsrechtliche Verbot sämtlicher Nebenanlagen nach der Festsetzung A 6. Da hier ein Satzungsverbund von bauplanungs- und bauordnungsrechtlichen Regelungen bestehe, gälten die allgemeinen Grundsätze für die Fehlerfolgen bei Nichtigkeit einzelner Festsetzungen. Danach führe die Nichtigkeit einzelner Festsetzungen insoweit nicht zur Nichtigkeit der übrigen Festsetzungen, als diese für sich betrachtet noch eine sinnvolle städtebauliche Ordnung bewirken könnten und die Gemeinde auch einen Plan mit dem eingeschränkten Inhalt beschlossen hätte. Ausgehend davon ziehe die Nichtigkeit der Festsetzung B 7 diejenige der Festsetzung A 6 nach sich. Denn in der Festsetzung B 7 komme der Wille der beklagten Stadt zum Ausdruck, Einfriedungen auch außerhalb der überbaubaren Grundstücksflächen zuzulassen. Diesem Willen wäre bei fortbestehender Wirksamkeit der Festsetzung A 6, der sämtliche Nebenanlagen und damit auch Einfriedungen ausschließe, nicht mehr Rechnung getragen. Daher stünden die Festsetzungen A 6 und B 7 insoweit in einem untrennbaren Zusammenhang. Bei Nichtigkeit beider Festsetzungen sei die streitgegenständliche Mauer planungsrechtlich zulässig.

bb) Der angegriffene Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs lässt nicht nachvollziehbar erkennen, weshalb dieser Begründung kein schlüssiges Argument gegen die maßgebliche Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts zu entnehmen sein sollte, die Mauer verstoße gegen das planungsrechtliche Verbot von Nebenanlagen nach der Festsetzung A 6.

Der Verwaltungsgerichtshof lässt offen, ob die Auffassung der Beschwerdeführerin zutrifft, dass das bauordnungsrechtliche Verbot von Einfriedungen, die die in der Festsetzung B 7 genannten Bedingungen nicht erfüllen, wegen fehlender Rechtsgrundlage nichtig ist. Denn die Nichtigkeit dieses Verbots ziehe "keineswegs" den von der beklagten Stadt nicht gewollten Ausschluss sämtlicher Nebenanlagen im Gebiet des Bebauungsplans und damit auch nicht die Nichtigkeit des planungsrechtlichen Verbots der Festsetzung A 6 nach sich. Vielmehr nötige die Festsetzung B 7 zu einem einschränkenden Verständnis des generellen Verbots von Nebenanlagen in der Festsetzung A 6 dahingehend, dass nach Maßgabe der Festsetzung B 7 zulässige Einfriedungen von dem generellen Verbot ausgenommen seien. Ansonsten liefe die Zulassung bestimmter Einfriedungen nach der Festsetzung B 7 leer.

Damit zieht der Verwaltungsgerichtshof die Festsetzung B 7 zu einer einschränkenden Auslegung des Verbots nach A 6 heran, obwohl deren Nichtigkeit unterstellt wird. Es wird nicht nachvollziehbar erläutert, weshalb eine nichtige Norm eine solche Wirkung sollte entfalten können und sich nicht stattdessen entsprechend der von der Beschwerdeführerin dargelegten Fehlerfolgenlehre die Nichtigkeit der Festsetzung B 7 mit Blick auf den - auch nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs - darin zum Ausdruck gelangten Willen der Stadt, Nebenanlangen nicht generell auszuschließen, auf das generelle Verbot in der Festsetzung A 6 erstreckt.

Soweit der Verwaltungsgerichtshof davon ausgegangen sein sollte, dass sich eine Nichtigkeit der Festsetzung B 7 wegen fehlender Rechtsgrundlage nur auf ein in der Festsetzung enthaltenes Verbot der Errichtung von den Anforderungen nicht genügenden Einfriedungen erstrecke, nicht jedoch auf eine in der Festsetzung ebenfalls enthaltene Zulassung der übrigen Einfriedungen, fehlte es auch insoweit an einer nachvollziehbaren Begründung. Dazu hätte Anlass bestanden. Denn die Beschwerdeführerin hatte im Zulassungsverfahren vorgetragen, dass die Gemeinden nach § 111 LBO a.F. nur dazu befugt gewesen seien, die Art und Höhe von Einfriedungen zur Abwehr von Verunstaltungen zu regeln, nicht jedoch mit gestalterischer Zielsetzung. Ausgehend davon liegt es aber nicht ohne weiteres auf der Hand, dass eine bauordnungsrechtliche Festsetzung, die sich auf die Zulassung bestimmter Einfriedungen beschränkt, von dieser Ermächtigung gedeckt war. Auch erschließt sich nicht ohne weiteres das Verhältnis einer solchen bauordnungsrechtlichen Zulassung bestimmter Nebenanlagen zu dem bauplanungsrechtlichen generellen Verbot derselben nach der Festsetzung A 6.

Nach allem ist die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, aus dem Zulassungsvorbringen der Beschwerdeführerin ergäben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der tragenden Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, mangels nachvollziehbarer Begründung nicht mehr mit den sich aus Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Anforderungen vereinbar.

2. Dagegen ist die Verfassungsbeschwerde im Übrigen unzulässig und daher nicht zur Entscheidung anzunehmen. Sie genügt insoweit ersichtlich nicht den Anforderungen von § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG . Insoweit wird von einer weiteren Begründung abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG ).

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG , die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG .

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Vorinstanz: VG Stuttgart, vom 01.12.2016 - Vorinstanzaktenzeichen 9 K 4025/15
Vorinstanz: VGH Baden-Württemberg, vom 07.06.2017 - Vorinstanzaktenzeichen 3 S. 816/17