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BVerfG - Entscheidung vom 29.04.2020

1 BvQ 47/20

Normen:
GG Art. 12 Abs. 1
GG Art. 14 Abs. 1
BVerfGG § 32 Abs. 1
BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1
BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 2
§ 2 Abs. 4 S. 1 CoronaVV BY 3 vom 28.04.2020
§ 2 Abs. 4 S. 5 CoronaVV BY 3 vom 28.04.2020
§ 2 Abs. 5 Nr. 1 CoronaVV BY 3 vom 28.04.2020
GG Art. 12 Abs. 1
GG Art. 14 Abs. 1
BVerfGG § 32 Abs. 1
BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1-2
2. BayIfSMV § 2 Abs. 4 S. 1 und S. 5
2. BayIfSMV § 2 Abs. 5 Nr. 1
GG Art. 12 Abs. 1
GG Art. 14 Abs. 1
BVerfGG § 32 Abs. 1
BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1-2
3. BayIfSMV v. 28.04.2020 § 2 Abs. 4 S. 1 und S. 5
3. BayIfSMV v. 28.04.2020 § 2 Abs. 5 Nr. 1

BVerfG, Beschluss vom 29.04.2020 - Aktenzeichen 1 BvQ 47/20

DRsp Nr. 2020/6637

Einstweiliger verfassungsrechtlicher Rechtsschutz gegen die Begrenzung der Öffnung der Ladengeschäfte, Einkaufszentren und Kaufhäuser des Einzelhandels auf eine Verkaufsfläche von höchstens 800 qm nach der 2. Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung

Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Normenkette:

GG Art. 12 Abs. 1 ; GG Art. 14 Abs. 1 ; BVerfGG § 32 Abs. 1 ; BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1-2; 3. BayIfSMV v. 28.04.2020 § 2 Abs. 4 S. 1 und S. 5; 3. BayIfSMV v. 28.04.2020 § 2 Abs. 5 Nr. 1;

[Gründe]

Die Voraussetzungen zum Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung liegen nicht vor.

I.

Die Antragstellerin begehrt den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Inhalt, § 2 Abs. 5 Nr. 1 der Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (2. BayIfSMV) in Gestalt der Verordnung zur Änderung der Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 21. April 2020 vorläufig außer Vollzug zu setzen, hilfsweise § 2 Abs. 5 Nr. 1 der 2. BayIfSMV dahingehend auszulegen, dass die Verkaufsfläche auch künstlich (durch Absperrung) auf 800 qm begrenzt werden kann.

Seit dem Inkrafttreten der Allgemeinverfügung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege über Veranstaltungsverbote und Betriebsuntersagungen anlässlich der Corona-Pandemie vom 16. März 2020 war es der Antragstellerin untersagt, die Filiale ihres Modehauses in Bayern zu öffnen. Da ihr Modehaus über eine Verkaufsfläche von 7.000 qm verfügt, war ihr eine Öffnung auch nach dem Inkrafttreten von § 2 Abs. 5 der 2. BayIfSMV in Gestalt der Verordnung zur Änderung der Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 21. April 2020 untersagt. Denn danach war abweichend von § 2 Abs. 4 Satz 1 und 5 die Öffnung von sonstigen Ladengeschäften, Einkaufszentren und Kaufhäusern des Einzelhandels nur zulässig, wenn deren Verkaufsräume eine Fläche von 800 qm nicht überschreiten und der Betreiber durch geeignete Maßnahmen sicherstellt, dass die Zahl der gleichzeitig im Ladengeschäft anwesenden Kunden nicht höher ist als ein Kunde je 20 qm Verkaufsfläche.

Mit Beschluss vom 27. April 2020 stellte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 47 Abs. 6 VwGO fest, dass § 2 Abs. 4 und 5 der 2. BayIfSMV in Gestalt der Verordnung zur Änderung der 2. BaylfSMV vom 21. April 2020 mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist, sah allerdings von einer vorläufigen Außervollzugsetzung der Regelungen ab (BayVGH, Beschluss vom 27. April 2020 - 20 NE 20.793 -).

Daraufhin erließ das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege die Rechtsverordnung zur Änderung der 2. BaylfSMV vom 28. April 2020, die am 29. April 2020 in Kraft trat, und änderte § 2 Abs. 5 dahingehend ab, dass abweichend von Abs. 4 Satz 1 und 5 die Öffnung von sonstigen Ladengeschäften, Einkaufszentren und Kaufhäusern des Einzelhandels auch zulässig ist, wenn in ihnen höchstens eine Verkaufsfläche von 800 qm geöffnet wird.

Die Antragstellerin macht geltend, durch die Regelung zur Untersagung beziehungsweise Beschränkung des Betriebs ihres Kaufhauses in Art. 12 Abs. 1 , Art. 14 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG verletzt zu sein. Es sei nicht ersichtlich, dass eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage für die Betriebsschließung vorliege. Jedenfalls seien die Tatbestandsvoraussetzungen von § 28 Abs. 1 Satz 1, § 32 IfSG nicht erfüllt. Ferner sei die Größe der Verkaufsfläche kein sachliches Kriterium, um unterschiedliche Betriebsbeschränkungen zu rechtfertigen. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung sei zur Abwendung der ihr durch die Betriebsschließung oder -beschränkung entstehenden Umsatzeinbußen geboten.

II.

Der Antrag der Beschwerdeführerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 112, 284 <291>; 121, 1 <14 f.>; stRspr). Bei offenem Ausgang der Verfassungsbeschwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. BVerfGE 131, 47 <55>; 132, 195 <232>; stRspr).

2. Nach diesen Maßstäben kommt der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht in Betracht.

a) Ein Rechtsschutzbedürfnis für den Erlass einer einstweiligen Anordnung besteht nur hinsichtlich der derzeit gültigen Regelung des § 2 Abs. 5 Nr. 1 der 2. BayIfSMV in Gestalt der Änderung der 2. BaylfSMV vom 28. April 2020, soweit diese die Öffnung des Modehauses der Antragstellerin nur mit einer auf höchstens 800 qm begrenzten Verkaufsfläche gestattet.

b) Insoweit ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zulässig. Insbesondere ist der Grundsatz der Subsidiarität (vgl. § 90 Abs. 2 BVerfGG ) gewahrt. Demnach kommt der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG nur in Betracht, wenn der Antragsteller bestehende Möglichkeiten, fachgerichtlichen Eilrechtsschutz zu erlangen, ausgeschöpft hat (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Erstens Senats vom 13. August 2019 - 1 BvQ 66/19 -, Rn. 2; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Dezember 2019 - 2 BvQ 91/19 -, Rn. 2; stRspr). Die Antragstellerin hat vorliegend zwar nicht in eigener Sache um fachgerichtlichen Eilrechtsschutz ersucht. Dies ist ihr gegenwärtig jedoch unzumutbar (§ 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG ), nachdem der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH, Beschluss vom 27. April 2020 - 20 NE 20.793 -) entschieden hat, dass die Regelungen in § 2 Abs. 4 und 5 der 2. BayIfSMV in Gestalt der Änderung der 2. BaylfSMV vom 21. April 2020 nicht vorläufig außer Vollzug gesetzt werden. Danach erscheint die erneute Anrufung der Fachgerichte auch hinsichtlich der gerade im Hinblick auf die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs geänderten Regelung gegenwärtig offensichtlich aussichtslos. Die Antragstellerin ist der Auffassung, dass die Betriebsschließungen und -beschränkungen insgesamt mit der Berufsfreiheit unvereinbar seien, weil sie auf unzureichender gesetzlicher Grundlage beruhten und die dabei erfolgten Differenzierungen nach der Verkaufsfläche nicht sachgerecht seien. Diese Rechtsfragen waren bereits Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nach § 47 Abs. 6 VwGO , das nicht zu einer vorläufigen Außervollzugsetzung der hier in Rede stehenden Beschränkungen geführt hat. Die Rügen der Antragstellerin beruhen auch nicht auf der Annahme, dass sich die der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zugrundeliegende Sachlage wesentlich geändert habe (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 2020 - 1 BvR 755/20 -, Rn. 4).

c) Der Antrag ist jedoch unbegründet.

aa) Eine gegen § 2 Abs. 5 Nr. 1 der 2. BayIfSMV in Gestalt der Änderung der 2. BaylfSMV vom 28. April 2020 gerichtete Verfassungsbeschwerde ist zumindest nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Dies bedarf einer eingehenden Prüfung, die im Rahmen eines Eilverfahrens nicht möglich ist.

bb) Daher ist über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei müssen die für eine vorläufige Regelung sprechenden Gründe so schwerwiegend sein, dass sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabweisbar machen. Bei der Folgenabwägung sind die Auswirkungen auf alle von der angegriffenen Regelung Betroffenen zu berücksichtigen, nicht nur die Folgen für die Antragstellerin (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 2020 - 1 BvR 755/20 -, Rn. 8 m.w.N.; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. April 2020 - 1 BvQ 28/20 -, Rn. 10).

(1) Erginge die einstweilige Anordnung nicht und hätte die Verfassungsbeschwerde Erfolg, wäre eine über die Gestattung des § 2 Abs. 4 der 2. BayIfSMV hinausgehende Öffnung von Ladengeschäften, Einkaufszentren und Kaufhäusern des Einzelhandels, deren Betreiber durch geeignete Maßnahmen sicherstellen, dass die Zahl der gleichzeitig im Ladengeschäft anwesenden Kunden nicht höher ist als ein Kunde je 20 qm Verkaufsfläche, zu Unrecht untersagt, soweit die Verkaufsfläche 800 qm überschreitet. Dies führte für die Inhaber derartiger Ladengeschäfte, Einkaufszentren und Kaufhäuser des Einzelhandels zu einem Eingriff in ihre durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit und hat aufgrund der damit verbundenen Umsatzeinbußen erheblich nachteilige wirtschaftliche Folgen.

(2) Erginge dagegen die beantragte einstweilige Anordnung und hätte die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg, hätte die beantragte einstweilige Außervollzugsetzung des § 5 Abs. 2 Nr. 1 der 2. BayIfSMV in Gestalt der Änderung der 2. BaylfSMV vom 28. April 2020 zur Folge, dass zahlreiche große Ladengeschäfte ihre Verkaufsflächen unbegrenzt für den Kundenverkehr öffnen würden. Mit der Beschränkung der für den Publikumsverkehr geöffneten Verkaufsfläche entfiele eine vom Verordnungsgeber gewählte Maßnahme, die - was hier nicht abschließend beurteilt werden kann, aber im Rahmen der Folgenabwägung im Anschluss an die Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofs unterstellt werden muss - geeignet ist, das angestrebte Ziel zu erreichen, die Infektionsraten des Corona-Virus durch eine Begrenzung der persönlichen Kontakte möglichst gering zu halten. Infolgedessen könnten sich die Gefahren der Erkrankung vieler Personen an Covid-19 mit teilweise schwerwiegenden und tödlichen Krankheitsverläufen sowie einer Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen erhöhen, obwohl dem durch eine Beschränkung der Öffnung von Ladengeschäften, Einkaufszentren und Kaufhäusern des Einzelhandels in verfassungsrechtlich zulässiger Weise hätte entgegengewirkt werden können (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 2020 - 1 BvR 755/20 -; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. April 2020 - 1 BvQ 28/20 -; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. April 2020 - 1 BvQ 31/20 -).

(3) Gegenüber den somit bestehenden Gefahren für Leib und Leben, vor denen zu schützen der Staat nach dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG auch verpflichtet ist (vgl. BVerfGE 77, 170 <214>; 85, 191 <212>; 115, 25 <44 f.>), müssen die mit der angegriffenen Regelung verbundenen Beschränkungen der Berufsfreiheit und die wirtschaftlichen Interessen der Inhaber von Ladengeschäften, Einkaufszentren und Kaufhäusern des Einzelhandels derzeit zurücktreten.

Wie auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in dem Beschluss vom 27. April 2020 ausgeführt hat, ist insofern zu berücksichtigen, dass die angegriffene Regelung bereits mit Ablauf des 3. Mai 2020 außer Kraft tritt und mithin ein zeitlich eng befristeter Eingriff in die Berufsfreiheit vorliegt (BayVGH, Beschluss vom 27. April 2020 - 20 NE 20.793 -). Die Regelung des § 2 Abs. 4 und 5 der 2. BayIfSMV ist sodann unter Berücksichtigung der neuen Entwicklungen der Corona-Pandemie sowie der Ausführungen in dem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 27. April 2020 vor einer etwaigen Fortschreibung erneut zu prüfen.

Im Rahmen der Folgenabwägung ist zudem zu berücksichtigen, dass nach dieser Vorschrift nunmehr auch die Öffnung von sonstigen Ladengeschäften, Einkaufszentren und Kaufhäusern des Einzelhandels zulässig ist, wenn diese ihre Verkaufsfläche auf 800 qm begrenzen. Dies ermöglicht auch der Antragstellerin fortan eine Öffnung ihres Modehauses, wodurch der geltend gemachte Umsatzausfall zumindest abgemildert wird.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.