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BVerfG - Entscheidung vom 24.08.2020

1 BvR 1780/20

Normen:
GG Art. 1 Abs. 1
GG Art. 2 Abs. 1
BVerfGG § 32 Abs. 1
BGB § 1632 Abs. 4
SGB VIII § 33
SGB VIII § 34
GG Art. 1 Abs. 1
GG Art. 2 Abs. 1
BVerfGG § 32 Abs. 1
BGB § 1632 Abs. 4
SGB VIII § 33
SGB VIII § 34
GG Art. 1 Abs. 1
GG Art. 2 Abs. 1
BVerfGG § 32 Abs. 1
BGB § 1632 Abs. 4
SGB VIII § 33
SGB VIII § 34

Fundstellen:
FamRZ 2020, 1645
NJW-RR 2020, 1265

BVerfG, Beschluss vom 24.08.2020 - Aktenzeichen 1 BvR 1780/20

DRsp Nr. 2020/13284

Eilantrag des Amtsvormunds gegen die Rückführung eines Fünfjährigen aus einer Jugendhilfeeinrichtung in den Haushalt seiner Pflegemutter; Zulässigkeit der Vertretung eines Minderjährigen durch gesetzlichen Vertreter im Verfassungsbeschwerdeverfahren; Erforderliche Folgenabwägung im Rahmen der Eilentscheidung

1. Die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde durch den gesetzlichen Vertreter eines minderjährigen Kindes kommt im Falle eines Interessenkonflikts zwischen dem gesetzlichen Vertreter und dem Kind nicht in Betracht, sondern es bedarf dann der Bestellung eines Ergänzungspflegers für das verfassungsgerichtliche Verfahren. Das gilt sowohl bei gesetzlicher Vertretung des Kindes durch die sorgeberechtigten Eltern als auch bislang bei dessen Vertretung durch einen Amtsvormund. 2. Das Interesse des Amtsvormunds und eines Kindes sind auf dessen derzeitigen Verbleib in einer Jugendhilfeeinrichtung gerichtet, wenn das Kind selber äußert, in der Einrichtung verbleiben und nicht zu seiner Pflegemutter zurück zu wollen.

Tenor

1.

Die Wirksamkeit des Beschlusses des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 4. Juni 2020 - 9 UF 212/19 - wird einstweilen bis zur Entscheidung der Hauptsache, längstens für sechs Monate ausgesetzt.

2.

Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen im Verfahren der einstweiligen Anordnung zu erstatten.

Normenkette:

GG Art. 1 Abs. 1 ; GG Art. 2 Abs. 1 ; BVerfGG § 32 Abs. 1 ; BGB § 1632 Abs. 4 ; SGB VIII § 33 ; SGB VIII § 34 ;

[Gründe]

I.

1. Der im Jahr 2014 geborene und durch das Jugendamt als Amtsvormund vertretene Beschwerdeführer wurde wenige Tage nach seiner Geburt in den Haushalt der Eheleute D. (Pflegeeltern) zur Adoptionspflege gegeben. Während des Adoptionsverfahrens wurde im September 2018 bekannt, dass bereits im Jahr 2013 bei einer Durchsuchung des Haushalts der Pflegeeltern mehrere Rechner des Pflegevaters beschlagnahmt wurden, auf denen kinderpornographische Bilder und Videos gespeichert waren. Der Pflegevater wurde 2017 wegen Verbreitung kinderpornographischer Schriften in sieben Fällen, wegen des Unternehmens der Besitzverschaffung kinderpornographischer Schriften in fünf Fällen und wegen des Besitzes kinderpornographischer Schriften in einem Fall zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden war. Daraufhin widerrief das Jugendamt den Ausspruch der Adoptionseignung der Pflegeeltern. Hiergegen gehen diese derzeit vor dem Verwaltungsgericht vor. Das Jugendamt leitete ferner ein Kindesschutzverfahren ein, um zu klären, ob der Beschwerdeführer im Haushalt der Pflegeeltern verbleiben könne.

2. Nachdem das Jugendamt gegenüber den Pflegeltern die Möglichkeit einer Herausnahme des Beschwerdeführers aus ihrem Haushalt aufgezeigt hatte, beantragten diese eine Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB .

a) Diesen Antrag wies das Amtsgericht zurück. Daraufhin nahm das Jugendamt den Beschwerdeführer im Oktober 2019 aus dem Haushalt der Pflegeeltern. Nach einer zwischenzeitlichen Unterbringung in einer anderen Pflegefamilie lebt der Beschwerdeführer seit November 2019 in einer Wohngruppe einer Jugendhilfeeinrichtung.

b) Gegen den Beschluss des Amtsgerichts legten die Pflegeeltern Beschwerde ein. Im Laufe des Beschwerdeverfahrens zog der Pflegevater aus dem gemeinsamen Haus aus und nahm seine Beschwerde zurück. Die Pflegeeltern teilten mit, dass sie sich getrennt hätten. Seitdem verfolgte die Pflegemutter das Ziel, den Beschwerdeführer alleine zu betreuen und zu adoptieren. Mit durch die Verfassungsbeschwerde angegriffenem Beschluss vom 4. Juni 2020 änderte das Oberlandesgericht den Beschluss des Amtsgerichts ab und ordnete die Rückführung des Beschwerdeführers in den Haushalt der Pflegemutter an. Es erteilte ihr die Auflage, sicherzustellen, dass jegliche Kontaktaufnahme zwischen dem Beschwerdeführer und dem Pflegevater ausschließlich nach Maßgabe der Anordnungen des Amtsvormunds stattfindet. Es begründete die Entscheidung damit, dass bei Aufrechterhaltung der Trennung des Beschwerdeführers von der Pflegemutter eine konkrete Gefahr erheblicher sozial-emotionaler Beeinträchtigungen bestehen. Den Beschwerdeführer beeinträchtige die Trennung von der Pflegemutter erheblich. Es gehe ihm offensichtlich nicht gut. In der Wohngruppe habe der Beschwerdeführer kaum neue Bindungen geknüpft, während er sehr gut an die Pflegemutter gebunden sei. Durch die Herausnahme aus dem Haushalt der Pflegeeltern habe sich daher die Situation des Kindes nicht verbessert, sondern verschlechtert. Das Kind habe eine aktuelle Wunsch- und Willenshaltung nach einer Rückkehr zur Pflegemutter. Diese habe der Amtsvormund tragfähig vermittelt. Daher habe keine Notwendigkeit bestanden, den psychisch belasteten Beschwerdeführer erneut anzuhören.

Im Haushalt der Pflegemutter seien dagegen keine konkreten Risiken zu erwarten. Die Gefahr eines sexuellen Übergriffs durch den Pflegevater sei nach der Trennung der Pflegeltern durch die der Pflegemutter erteilten Auflage so weit herabgesetzt, dass keine konkrete Gefährdung des Beschwerdeführers mehr vorliege.

3. Mit der Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG geltend. Gleichzeitig beantragt er den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Er beruft sich auf eine unzureichende Sachverhaltsaufklärung des Oberlandesgerichts sowie darauf, dass sich verfassungsrechtlich hohe Anforderungen an die Begründung der Entscheidung ergäben, denen sie nicht genüge. Insbesondere hätte das Oberlandesgericht nicht ohne persönliche Anhörung des Beschwerdeführers entscheiden dürfen. Ferner habe es die eine Rückführung des Beschwerdeführers in den Haushalt der Pflegemutter ablehnenden Stellungnahmen sämtlicher fachlicher Beteiligter nicht zutreffend gewürdigt. Eine entsprechende Wunsch- und Willenshaltung des Kindes habe der Amtsvormund nicht mitgeteilt. Im Gegenteil habe die Verfahrensbeiständin berichtet, der Beschwerdeführer habe den Wunsch, in der Einrichtung zu bleiben; er wolle nicht zur Pflegemutter zurück.

4. Die Pflegemutter hat Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Sie tritt dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung entgegen. Insbesondere verweist sie darauf, dass derzeit in einem Hilfeplan vom 17. Juli 2020 eine schrittweise Rückführung des Beschwerdeführers zu ihr vereinbart sei.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, das in der Hauptsache zu verfolgende Begehren, hier also die Verfassungsbeschwerde, erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 88, 185 <186>; 103, 41 <42>; stRspr). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 185 <186>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 <111>; stRspr). Im Zuge der nach § 32 Abs. 1 BVerfGG gebotenen Folgenabwägung legt das Bundesverfassungsgericht seiner Entscheidung in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zu Grunde (vgl. BVerfGE 34, 211 <216>; 36, 37 <40>). In Sorgerechtsstreitigkeiten ist auch zu berücksichtigen, dass die Abwägung vorrangig am Kindeswohl zu orientieren ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Februar 2009 - 1 BvR 142/09 -, Rn. 8; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. Juli 2020 - 1 BvR 1525/20 -, Rn. 7).

2. Die Verfassungsbeschwerde erweist sich nicht als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet.

a) Der selbst nicht verfahrensfähige Beschwerdeführer wird im verfassungsgerichtlichen Verfahren durch das Jugendamt als Amtsvormund wirksam vertreten. Dem steht ein Interessenkonflikt zwischen ihm und seinem gesetzlichen Vertreter nicht entgegen.

aa) Nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats kommt die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde durch den gesetzlichen Vertreter eines minderjährigen Kindes im Falle eines Interessenkonflikts zwischen dem gesetzlichen Vertreter und dem Kind nicht in Betracht; es bedarf dann der Bestellung eines Ergänzungspflegers nach § 1909 Abs. 1 Satz 1 BGB für das verfassungsgerichtliche Verfahren (vgl. BVerfGE 72, 122 <133>; 79, 51 <58>). Das gilt sowohl bei gesetzlicher Vertretung des Kindes durch die sorgeberechtigten Eltern (vgl. BVerfGE 72, 122 <133 f.>) als auch bislang bei dessen Vertretung durch einen Amtsvormund (vgl. BVerfGE 79, 51 <53 und 58>). Allerdings sind die Anforderungen an den die gesetzliche Vertretung ausschließenden Interessenkonflikt nicht einheitlich formuliert worden. So hat der Senat die gesetzliche Vertretung einerseits bei einem offensichtlichen Interessenkonflikt zwischen der (allein sorgeberechtigten) Mutter und dem Kind für ausgeschlossen erachtet (vgl. BVerfGE 72, 122 <133>), andererseits aber ‒ der Formulierung nach ‒ bereits für ausreichend gehalten, wenn ein Interessenkonflikt nicht ausgeschlossen werden könne (vgl. BVerfGE 79, 51 <58> unter Verweis auf BVerfGE 72, 122 <133>). Ungeachtet der Formulierung vom nicht ausschließbaren Interessenkonflikt lag in dem genannten Beschluss des Senats allerdings ein solcher offensichtlich vor, weil der Amtsvormund die Herausgabe des Kindes von den Pflegeltern verlangte, das Kind selbst aber die Trennung von den Pflegeltern als sein Wohl gefährdend betrachtete (vgl. BVerfGE 79, 51 <58>).

Die Kammerrechtsprechung enthält ebenfalls unterschiedliche Formulierungen, die den Ausschluss der gesetzlichen Vertretung auslösen und eine Ergänzungspflegschaft erfordern. Teils ist auf die offensichtliche Möglichkeit eines Interessenkonflikts (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 13. Oktober 1994 - 1 BvR 1799/94 -, juris, Rn. 21), teils auf einen Interessen-widerstreit zwischen dem Kind und seinem gesetzlichen Vertreter (vgl. BVerfGK 1, 120 <121>) abgestellt worden. Ungeachtet von Unterschieden in der verwendeten Begrifflichkeit lässt sich der bisherigen Rechtsprechung jedenfalls als gesichert entnehmen, dass es bei der gesetzlichen Vertretung verbleibt, wenn es an einem Interessenkonflikt fehlt. Ob es sich so verhält, beurteilt das Bundesverfassungsgericht eigenständig (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 13. Oktober 1994 - 1 BvR 1799/94 -, juris, Rn. 21) auf der Grundlage der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisse.

bb) Bei Anlegen dieser Maßstäbe kann ein Konflikt zwischen den Interessen des Beschwerdeführers und des Jugendamts als Amtsvormund ausgeschlossen werden.

Das Interesse des Amtsvormunds und des Beschwerdeführers sind auf dessen derzeitigen Verbleib in der Jugendhilfeeinrichtung gerichtet, in der er mittlerweile seit Anfang November 2019 lebt. Ausweislich der Angaben der Verfahrensbeiständin hat ihr der Beschwerdeführer berichtet, er möchte in der Einrichtung verbleiben und nicht zu seiner Pflegemutter zurück. Er fühle sich hier glücklich und es gefalle ihm in der Einrichtung wegen der vielen Kinder besser als bei der Pflegemutter. Allerdings wünsche er sich Besuche seiner Pflegemutter. Die darin berichtete Haltung des Beschwerdeführers stimmt mit Wahrnehmungen des Leiters der Einrichtung überein. Dieser berichtete, im Gespräch habe der Beschwerdeführer beiläufig seine "Mutti" erwähnt, jedoch ohne Traurigkeit oder erkennbare Gefühlsregung. Anhaltspunkte dafür, dass bei Aufrechterhaltung der Trennung des Beschwerdeführers von seiner Pflegemutter eine konkrete Gefahr erheblicher sozial-emotionaler Beeinträchtigungen bestünde, lassen sich dem nicht entnehmen.

Für die gegenteilige Annahme des Oberlandesgerichts ergeben sich weder aus den im Verfassungsbeschwerdeverfahren vorgelegten Unterlagen noch aus den Akten des Ausgangsverfahrens, die der Kammer vorlagen, tragfähige Anhaltspunkte. Worauf das Oberlandesgericht seine Einschätzung stützt, der Beschwerdeführer sei mit den dramatischen und traumatischen Veränderungen seines noch jungen Lebens emotional sichtlich überfordert und es gehe ihm nicht gut, lässt sich weder den Gründen der angegriffenen Entscheidung entnehmen noch findet sie eine Stütze in den Verfahrensakten. Gleiches gilt für die Behauptung, der Beschwerdeführer sehne sich nach seiner "Mama". Sie steht sogar in Widerspruch zu den Angaben des Beschwerdeführers gegenüber seiner Verfahrensbeiständin. Angesichts dessen kann auch nicht nachvollzogen werden, dass das Oberlandesgericht ausführt, die aktuelle Wunsch- und Willenshaltung des Beschwerdeführers sei auf Rückkehr zu seiner Pflegemutter gerichtet. Das habe der Amtsvormund tragfähig vermittelt und sei von keinem der übrigen Beteiligten in Zweifel gezogen worden. Wie sich aus dem bereits angesprochenen Bericht der Verfahrensbeiständin ergibt, hat der Beschwerdeführer gerade keinen Rückkehrwunsch geäußert, sondern wünscht sich einen Verbleib in der Einrichtung. Aus den Stellungnahmen des Jugendamtes, das derzeit ebenfalls eine Rückkehr zur Pflegemutter ablehnt, ergibt sich nichts anderes. Da das Oberlandesgericht auf eine persönliche Anhörung des Beschwerdeführers verzichtet hat, kann es seine Feststellungen auch nicht auf dabei gewonnene Erkenntnisse stützen.

Da demnach ein Interessenkonflikt zwischen dem Beschwerdeführer und seinem gesetzlichen Vertreter, dem Jugendamt, nicht erkennbar ist, kann es diesen auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren wirksam vertreten. Der Bestellung eines Ergänzungspflegers bedarf es nicht.

b) Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht offensichtlich unbegründet. Eine Verletzung des Beschwerdeführers in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG kann schon im Hinblick auf die Verfahrensgestaltung des Oberlandesgerichts und Zweifeln an einer ausreichend tragfähigen Grundlage seiner Entscheidung nicht ausgeschlossen werden.

3. Die daher erforderliche Folgenabwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung.

a) Erginge die einstweilige Anordnung nicht, wäre die Verfassungsbeschwerde aber später erfolgreich, so könnte die Pflegemutter zunächst eine Rückkehr des Beschwerdeführers aus der Jugendhilfeeinrichtung in ihren Haushalt durchsetzen. Nach einem Erfolg der Verfassungsbeschwerde könnte der Amtsvormund den Beschwerdeführer erneut aus dem Haushalt der Pflegemutter nehmen und in der bisherigen oder einer anderen Jugendhilfeeinrichtung oder einer neuen Pflegefamilie unterbringen. Diese zu erwartenden mehrfachen Wechsel der Bezugspersonen und des Lebensmittelpunkts stellen angesichts des Alters und der im Verfahren bereits mehrfach erfolgten Wechsel eine erhebliche Belastung für das Kindeswohl des Beschwerdeführers dar. Auch bei Zugrundelegung der vom Oberlandesgericht angenommenen nur geringen Bindungen an die Pflegepersonen in der Jugendhilfeeinrichtung würden diese Bindungen, die bereits angesichts der erheblichen Zeit, die der Beschwerdeführer sich in der Jugendhilfeeinrichtung aufhält, nicht bedeutungslos sind, abgebrochen. Bei der Pflegemutter könnte er zwar wahrscheinlich die bislang sehr gute Bindung an sie wieder aufnehmen. Bei einem späteren Erfolg der Verfassungsbeschwerde würde diese aber erneut abgebrochen und der Beschwerdeführer entweder in der bisherigen Jugendhilfeeinrichtung oder sogar in einer neuen Einrichtung untergebracht. Gerade diese erneute Herausnahme aus dem Haushalt der Pflegemutter kann sehr belastend für den Beschwerdeführer sein. Schließlich käme in Betracht, dass das Oberlandesgericht in der dann zu treffenden Entscheidung erneut die Rückkehr in den Haushalt der Pflegemutter anordnet, so dass der Beschwerdeführer einen weiteren belastenden Wechsel des Lebensmittelpunkts und der Bezugspersonen hinnehmen müsste. Soweit die Pflegemutter in ihrer Stellungnahme darauf verweist, dass sie derzeit keine sofortige Herausgabe, sondern gemäß dem Hilfeplan eine schrittweise Rückführung verfolge, so sind ohne Erlass der einstweiligen Anordnung ebenfalls erhebliche Belastungen des Beschwerdeführers zu gewärtigen, weil selbst bei noch nicht vollendeter Rückführung in diesem Fall bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde mit einer sehr starken Erwartung der Rückkehr in den Haushalt der Pflegemutter und einer erneut gestärkten Bindung an diese zu rechnen ist. Diese Erwartung müsste bei einem Erfolg der Verfassungsbeschwerde enttäuscht werden und die Bindung an die Pflegemutter würde erneut beeinträchtigt.

b) Erginge hingegen die einstweilige Anordnung und wäre die Verfassungsbeschwerde in der Folge erfolglos, so verbliebe der Beschwerdeführer noch eine überschaubare Zeit ‒ bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde ‒ in der Jugendhilfeeinrichtung, in der er bereits seit November 2019 lebt. Der von der Pflegemutter angestrebte Wechsel in ihren Haushalt würde dann mit entsprechender zeitlicher Verzögerung erfolgen.

c) Bei Abwägung dieser Folgen wiegen die Nachteile, die bei Erlass der einstweiligen Anordnung eintreten, weniger schwer als diejenigen, die zu erwarten sind, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge. Die Folgen der mehrfachen Wechsel würden das Kindeswohl in erheblich größerem Maße belasten als die Folgen des längeren Verbleibs in der Jugendhilfeeinrichtung. Selbst unter Berücksichtigung der ‒ mit der Verfassungsbeschwerde gerade angegriffenen ‒ Feststellung, der Beschwerdeführer leide an der Trennung von der Pflegemutter, die für ihn traumatisch gewesen sei, führt die Beibehaltung der dem Beschwerdeführer nun über mehr als neun Monate vertrauten Lebenssituation nicht zu solchen Belastungen, wie sie die wiederholten Wechsel der Betreuungsperson und des Lebensmittelpunkts ‒ insbesondere eine dann mögliche erneute traumatische Herausnahme aus dem Haushalt der Pflegemutter ‒ erwarten lassen.

4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG .

Vorinstanz: OLG Brandenburg, vom 04.06.2020 - Vorinstanzaktenzeichen 9 UF 212/19
Fundstellen
FamRZ 2020, 1645
NJW-RR 2020, 1265