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BSG - Entscheidung vom 19.08.2020

B 13 R 233/19 B

Normen:
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3

BSG, Beschluss vom 19.08.2020 - Aktenzeichen B 13 R 233/19 B

DRsp Nr. 2020/14981

Rente wegen Berufsunfähigkeit Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19. September 2019 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Normenkette:

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 ;

Gründe

I

Im Streit steht die Zahlung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit nach dem bis zum 31.12.2000 geltenden Recht für die Zeit vom 1.11.2000 bis 31.12.2012.

Auf den Antrag der Klägerin aus Dezember 2000 bewilligte ihr der beklagte Rentenversicherungsträger durch Bescheid vom 3.5.2001 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ab dem 1.7.2001, zunächst befristet und danach auf Dauer. Seit dem 1.1.2017 bezieht die Klägerin eine Altersrente vom Rentenversicherungsträger. Im Januar 2017 machte der spätere Prozessbevollmächtigte der Klägerin gegenüber dem Rentenversicherungsträger geltend, dessen Vorgehen durch den Bescheid vom 3.5.2001 sei unkorrekt. Die Klägerin habe Anspruch auf eine Rente wegen Berufsunfähigkeit nach altem Recht gehabt, denn der Versicherungsfall sei nach Beendigung einer medizinischen Rehabilitation im Oktober 2000 eingetreten und diese sei im März 2000 beantragt worden. Der Antrag auf Rehabilitationsleistungen gelte zugleich als Antrag auf eine Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit. Die Rente wegen Berufsunfähigkeit sei höher als die gezahlte Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit und der Differenzbetrag sei seit dem 1.11.2000 nachzuzahlen. Die Ausschlussfrist des § 44 Abs 4 SGB X greife insoweit nicht. Der Antrag aus März 2000 sei vom Rentenversicherungsträger noch nicht beschieden. Vorsorglich stellte er zugleich einen Antrag nach § 44 SGB X auf Überprüfung des Bescheides vom 3.5.2001. Der Rentenversicherungsträger lehnte die Rücknahme des zuletzt benannten Bescheides nach § 44 SGB X ab. Im Klageverfahren hat der Rentenversicherungsträger durch Schriftsatz aus August 2018 aufgrund eines Leistungsfalls vom 26.10.2000 einen Anspruch der Klägerin auf eine Rente wegen Berufsunfähigkeit nach altem Recht ab dem 1.11.2000 anerkannt. Im Hinblick auf § 44 Abs 4 SGB X hat er einen Zahlungsanspruch ab dem 1.1.2013 festgestellt. Dieses Anerkenntnis hat die Klägerin als Teilanerkenntnis angenommen und im Übrigen ihr Begehren weiterverfolgt. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 14.11.2018). Im Verlaufe des Berufungsverfahrens hat der Rentenversicherungsträger zwei Bescheide zur Ausführung des erstinstanzlich abgegebenen Anerkenntnisses erlassen (Bescheide vom 1.3. und 7.3.2019). Das LSG hat diese beiden Bescheide als den Bescheid vom 3.5.2001 nach § 96 SGG ersetzende Verwaltungsakte bewertet. Sie seien Gegenstand des Verfahrens geworden und mit der Klage vor dem LSG angefochten. Es hat die Klage, das Urteil des SG aufzuheben, diese Bescheide zu ändern und Rente wegen Berufsunfähigkeit auch vom 1.11.2000 bis zum 31.12.2012 zu zahlen, abgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen (Urteil vom 19.9.2019).

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde an das BSG . Sie rügt allein Verfahrensmängel, die dem LSG unterlaufen seien 160 Abs 2 Nr 3 SGG ).

II

Die Beschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Klägerin hat in der Begründung des Rechtsmittels entgegen § 160a Abs 2 Satz 3 SGG keinen Zulassungsgrund hinreichend dargelegt oder bezeichnet.

Das BSG darf gemäß § 160 Abs 2 SGG die Revision gegen eine Entscheidung des LSG nur dann zulassen, wenn

die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1) oder

die angefochtene Entscheidung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht (Nr 2) oder

bestimmte Verfahrensmängel geltend gemacht werden (Nr 3).

Die Klägerin rügt einen Verstoß des LSG gegen § 96 SGG und eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ). Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, müssen zur Bezeichnung des Verfahrensmangels 160a Abs 2 Satz 3 SGG ) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist - grundsätzlich - die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht.

Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin in ihrer Beschwerdebegründung nicht. Zur Begründung der Rüge des Verstoßes des LSG gegen § 96 SGG trägt die Klägerin vor, das LSG habe die beiden Bescheide vom 1.3. und 7.3.2019 nicht als solche bewerten dürfen, die den Bescheid des Rentenversicherungsträgers vom 3.5.2001 ersetzten. Der Gegenstand der Bescheide sei ein unterschiedlicher. Mit dem Bescheid vom 3.5.2001 sei eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit auf Grundlage eines Antrags aus Dezember 2000 und mit den Bescheiden vom 1.3. und 7.3.2019 eine Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Grundlage eines Versicherungsfalls im Oktober 2000 bewilligt worden. Die im Berufungsverfahren erlassenen Bescheide ersetzten den Bescheid vom 3.5.2001 daher nicht. Die Klägerin habe einen Zahlungsanspruch ab dem 1.11.2000 auf die Rente wegen Berufsunfähigkeit. Denn in dem vorliegenden Rechtsstreit handele es sich nicht um ein Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X im Hinblick auf den ursprünglichen Rentenbescheid, sondern um eine Entscheidung über einen bisher nicht beschiedenen und mit dem Antrag auf Leistungen der medizinischen Rehabilitation zugleich gestellten Rentenantrag. Daher komme die "Vierjahresfrist" des § 44 Abs 4 SGB X nicht zur Anwendung.

Bei diesen Ausführungen mangelt es an Darlegungen dazu, dass die Entscheidung auf der geltend gemachten Verletzung des § 96 SGG beruht. Denn Ausgangspunkt insoweit ist die materielle Rechtsauffassung des Berufungsgerichts. Ist dieses - wie hier - der Auffassung, es habe zunächst eine Überprüfung des ursprünglichen Rentenbescheides vom 3.5.2001 nach § 44 SGB X zu erfolgen gehabt, dann hätte es weiterer Darlegungen der Klägerin bedurft, warum sie mit ihrem Begehren ohne die Einbeziehung der Bescheide vom 1.3. und 7.3.2019 nach § 96 SGG nicht ebenfalls gescheitert wäre. In der Beschwerdeschrift fehlt es an Ausführungen dazu, dass das LSG ohne die Einbeziehung der neuen Bescheide zu einem anderen Ergebnis hätte gelangen können. Denn auch wenn das Berufungsgericht der materiell-rechtlichen Auffassung des Rentenversicherungsträgers aus seinem Teilanerkenntnis und der Rechtsauffassung der Klägerin gefolgt wäre - ohne die neuen Bescheide zum Verfahrensgegenstand zu machen - und angenommen hätte, der Versicherungsfall einer Rente wegen Berufsunfähigkeit sei im Oktober 2000 eingetreten und die Leistung ab November 2000 zu erbringen, wäre die Klägerin bei der Überprüfung allein des ursprünglichen Rentenbescheides vom 3.5.2001 zu keiner höheren Rentennachzahlung gelangt. Bei Anwendung des § 44 SGB X wären nach dessen Abs 4 immer nur ab dem 1.1.2013 Leistungen zu erbringen gewesen.

Um insoweit gleichwohl zum Ziel zu kommen, bringt die Klägerin vor, es gehe nicht um die Überprüfung des Bescheides vom 3.5.2001 nach § 44 SGB X , sondern die begehrte Rentenzahlung beruhe auf einem noch nicht beschiedenen Antrag aus März 2000. Deswegen habe das LSG die Bescheide vom 1.3. und 7.3.2019 nicht zum Gegenstand des Verfahrens machen dürfen. Auch insoweit mangelt es in der Beschwerdebegründung jedoch an Ausführungen dazu, wieso die Entscheidung hierauf beruhen soll, denn im Hinblick auf eine dann noch fehlende Entscheidung des Rentenversicherungsträgers über diesen Antrag käme sie weder mit der vom LSG angenommenen Anfechtungs- und Leistungsklage, noch mit einer reinen Leistungsklage prozessual zum Ziel. Allenfalls wäre insoweit an eine Untätigkeitsklage nach § 88 SGG zu denken gewesen. Hierzu macht sie keine Ausführungen.

Im Grunde rügt die Klägerin hier auch keinen Verfahrensmangel des LSG auf dem Weg zu seiner Entscheidung (sog "error in procedendo"). Ihr Vorbringen setzt letztlich nur an der von ihr behaupteten inhaltlichen Fehlerhaftigkeit der Entscheidung des LSG an (sog "error in iudicando"), die die Revisionszulassung nicht eröffnet (stRspr; vgl BSG Beschluss vom 14.2.2019 - B 9 SB 51/18 B - juris RdNr 31 mwN; BSG Beschluss vom 22.4.2020 - B 5 R 266/19 B - juris RdNr 8). Nach ihren Darlegungen ist die Einbeziehung der Bescheide des Rentenversicherungsträgers vom 1.3. und 7.3.2019 nach § 96 SGG nicht ihr zentraler Angriffspunkt, sondern, dass das LSG davon ausgeht, § 44 SGB X komme zur Anwendung, mit der Folge, dass die begehrte Nachzahlung auf den Vierjahreszeitraum des § 44 Abs 4 SGB X begrenzt ist und nicht bis ins Jahr 2000 zurückreicht.

Die Rüge der Klägerin, sie sei in ihrem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG , § 62 SGG ) verletzt worden, denn das LSG habe seine richterlichen Hinweispflichten, die sich für das sozialgerichtliche Verfahren aus § 106 Abs 1 bzw § 112 Abs 2 Satz 2 SGG ergeben, missachtet, wird in der Beschwerdebegründung ebenfalls nicht formgerecht dargelegt. Sie macht geltend, auf die Einbeziehung der Bescheide vom 1.3. und 7.3.2019 nach § 96 SGG durch das LSG nicht hingewiesen, bzw nicht dazu angehört worden zu sein. Dass dies zu einer sie in ihrem rechtlichen Gehör verletzenden Überraschungsentscheidung geführt hat, legt sie jedoch nicht dar.

Ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör ist insbesondere dann gegeben, wenn das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen einzubeziehen, nicht nachgekommen ist (vgl BVerfGE 25, 137 , 140) oder sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligten nicht haben äußern können (vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 19). Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt dann vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine unerwartete Wende gibt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung mehrerer vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (stRspr; BVerfGE 84, 188 , 190; 86, 133, 144 f; 98, 218, 263; BSG SozR 3-4100 § 103 Nr 4 S 23; BSG SozR 4-2500 § 103 Nr 6 RdNr 18 mwN). Andererseits liegt keine unzulässige Überraschungsentscheidung vor, wenn die Problematik bereits Gegenstand von Äußerungen der Beteiligten des streitigen Verfahrens war (vgl zB BVerfG <Kammer> Beschluss vom 12.7.2006 - 2 BvR 513/06 - BVerfGK 8, 376; vgl auch BSG Beschluss vom 20.8.2008 - B 13 R 217/08 B - juris RdNr 9) oder selbst in das Verfahren eingeführt wurde ( BSG Beschluss vom 13.4.2015 - B 12 KR 109/13 B - juris RdNr 14). Dass Letzteres hier der Fall war, legt die Klägerin jedoch in ihrer Beschwerdebegründung bereits selbst dar.

So macht sie umfassende Ausführungen zum Verfahrensablauf, in dem auch das von ihr angenommene Teilanerkenntnis des Rentenversicherungsträgers seine Erwähnung findet. Allein dieses hat der Rentenversicherungsträger jedoch mit den Bescheiden vom 1.3. und 7.3.2019 ausgeführt. Auch das SG hat dieses Teilanerkenntnis in seinen Entscheidungsgründen abgehandelt und sich darauf gestützt, insbesondere auf die damit einhergehende Beschneidung des Nachzahlungszeitraumes nach § 44 Abs 4 SGG . Die von einem erfahrenen Prozessbevollmächtigten vertretene Klägerin musste also damit rechnen, dass die bescheidmäßige Umsetzung dieses Anerkenntnisses des Rentenversicherungsträgers Gegenstand des Verfahrens vor dem LSG werden würde. Dass sie dies versucht habe zu verhindern, indem sie sich dazu geäußert habe, bringt sie nicht vor. Sie weist vielmehr darauf hin, sich im Berufungsverfahren nicht geäußert zu haben. Sie hat im Übrigen auch die Gelegenheit dazu im Rahmen einer mündlichen Verhandlung nicht wahrgenommen.

Auch trägt die Klägerin keine Umstände vor, aufgrund derer sie davon hätte überzeugt sein dürfen, das LSG werde - in einem Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X - die benannten Bescheide nicht als solche nach § 96 SGG behandeln. Dass sich das Berufungsgericht nicht ihrer im Klageverfahren geäußerten Rechtsauffassung angeschlossen hat, begründet keine Überraschungsentscheidung. Die Klägerin verkennt, dass das Prozessgrundrecht auf rechtliches Gehör nur gebietet, dass das Gericht die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis nimmt und in Erwägung zieht. Es gibt einem Beteiligten aber keinen Anspruch darauf, mit seinem Vorbringen auch in der Sache Erfolg zu haben, letztlich also "erhört" zu werden (vgl BVerfG Beschluss vom 8.4.2014 - 1 BvR 2933/13 - NZS 2014, 539 RdNr 13 mwN; BSG Beschluss vom 13.4.2015 - B 12 KR 109/13 B - juris RdNr 16).

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG ).

Die Verwerfung der unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG .

Vorinstanz: LSG Baden-Württemberg, vom 19.09.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 10 R 118/19
Vorinstanz: SG Freiburg, vom 14.11.2018 - Vorinstanzaktenzeichen 22 R 3414/17