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BSG - Entscheidung vom 11.09.2020

B 8 SO 22/19 B

Normen:
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3

BSG, Beschluss vom 11.09.2020 - Aktenzeichen B 8 SO 22/19 B

DRsp Nr. 2020/14720

Leistungen nach dem SGB XII Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren Unzutreffende Annahme der Prozessfähigkeit eines Klägers

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Januar 2019 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Normenkette:

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 ;

Gründe

I

Im Streit sind Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - ( SGB XII ).

Der 1942 geborene Kläger, für den bis Januar 2020 verschiedene Berufsbetreuer bestellt waren (Aufgabenkreise: Aufenthaltsbestimmung im Krankheitsfall, Behördenangelegenheiten, Gesundheitsfürsorge, Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten), beantragte im April 2017 (formlos) beim beklagten örtlichen Sozialhilfeträger Leistungen nach dem SGB XII . Die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) lehnte die Beklagte ab, weil der Sohn des Klägers über ein Einkommen von mehr als 100 000 Euro jährlich verfüge und also ein Anspruch nicht bestehe 43 Abs 5 Satz 6 SGB XII ). Es stehe dem Kläger frei, einen Antrag auf Leistungen nach dem Dritten Kapitel zu stellen (Bescheid vom 2.6.2017; Widerspruchsbescheid vom 20.9.2017). Die Klage hiergegen hat keinen Erfolg gehabt (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts <SG> Detmold vom 28.5.2018; Urteil des Landessozialgerichts <LSG> Nordrhein-Westfalen vom 21.1.2019).

Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Kläger geltend, das LSG habe nicht beachtet, dass er geschäftsunfähig und damit prozessunfähig sei. Das LSG habe den vom Amtsgericht (AG) P. bestellt gewesenen (damaligen) Betreuer lediglich angefragt, ob er ihn, den Kläger, vertrete. Nachdem der Betreuer dies im Oktober 2018 verneint habe, habe das LSG den Betreuer in der Folge nicht mehr beteiligt und ihn, den Kläger, als prozessfähig angesehen, weil ein Einwilligungsvorbehalt des Betreuers nicht angeordnet gewesen sei und die bloße Bestellung des Betreuers die Prozessfähigkeit nicht entfallen lasse. Es ergebe sich aber aus dem vom Senat beigezogenen Gutachten der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie, Geriatrie und Sozialmedizin Dr. med. K. (vom 27.3.2019) und deren ergänzender Stellungnahme (vom 6.7.2020), dass er prozessunfähig sei.

II

Die Beschwerde ist zulässig. Sie genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz ( SGG ). Die Beschwerde ist auch begründet. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verfahrensverstoß, weil das LSG zu Unrecht von einer Prozessfähigkeit des Klägers ausgegangen ist und er deshalb nicht wirksam vertreten war 202 SGG iVm § 547 Nr 4 Zivilprozessordnung <ZPO>); hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt wird, dass das Urteil des LSG auf ihm beruht. Der Senat macht deshalb von seiner Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 160a Abs 5 SGG ).

Die Prozessunfähigkeit des Klägers stellt kein Verfahrenshindernis für die vorliegende Beschwerde dar. Ein Rechtsmittel, mit dem sich ein Beteiligter auf seine Prozessunfähigkeit beruft, ist zunächst ohne Rücksicht auf eine möglicherweise bestehende Prozessunfähigkeit zulässig; entsprechend ist auch die zur Einlegung des Rechtsmittels erteilte Prozessvollmacht wirksam. Die Prozessfähigkeit ist grundsätzlich solange zu unterstellen, bis darüber rechtskräftig entschieden ist (vgl nur Bundessozialgericht <BSG> vom 3.7.2003 - B 7 AL 216/02 B - BSGE 91, 146 = SozR 4-1500 § 72 Nr 1, RdNr 6). Der Senat musste dem Kläger für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nach Aufhebung der Betreuung im Januar 2020 auch keinen besonderen Vertreter (vgl § 72 SGG ) bestellen ("kann"), nachdem er zur Überzeugung gelangt ist, dass eine (partielle) Prozessunfähigkeit vorliegt (dazu sogleich). Im vorliegenden Verfahren war dem Anliegen, dass der Prozessunfähige im Verfahren durch einen Prozessfähigen handeln kann, jedenfalls dadurch Rechnung getragen, dass er durch seinen Prozessbevollmächtigten vertreten und der Rechtsstreit wegen eines von ihm gerügten Verfahrensmangels ohnehin an das Berufungsgericht zurückzuverweisen war (vgl zuletzt BSG vom 20.4.2016 - B 8 SO 57/14 B - juris RdNr 6 mwN).

Der Kläger ist und war im gesamten Verfahren prozessunfähig. Ihm ist eine sachgerechte Prozessführung nicht möglich. Prozessunfähig ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71 Abs 1 SGG ), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 Bürgerlichen Gesetzbuchs ( BGB ) ist, weil sie sich in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet (vgl § 104 Nr 2 BGB ) und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen (vgl dazu etwa Lange in jurisPK- BGB , 8. Aufl 2017, § 104 RdNr 12 ff mwN). Dabei können bestimmte Krankheitsbilder auch zu einer sog partiellen (Geschäfts- und) Prozessunfähigkeit führen, die sich auf einen gegenständlich begrenzten Lebensbereich beschränkt (stRspr seit Bundesgerichtshof <BGH> vom 24.9.1955 - IV ZR 162/54 - BGHZ 18, 184 , 186 f; BGH vom 13.5.1959 - V ZR 151/58 - BGHZ 30, 112 , 117 f). Soweit eine solche partielle Prozessunfähigkeit anzunehmen ist, erstreckt sie sich auf den gesamten Prozess (vgl nur BSG vom 15.11.2000 - B 13 RJ 53/00 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 65). Eine Prozessunfähigkeit zumindest bezogen auf die Führung von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren liegt und lag nach dem Ergebnis der Ermittlungen zur Überzeugung des Senats vor.

Nach den Feststellungen der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie, Geriatrie und Sozialmedizin Dr. med. K. in dem vom AG P. in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachten (vom 27.3.2019) im Anschluss an eine Untersuchung des Klägers am 26.3.2019 besteht bei ihm ua auf psychiatrischem Fachgebiet eine chronifizierte wahnhafte Störung auf dem Boden einer querulatorischen Persönlichkeitsstörung bei allenfalls leichten kognitiven Defiziten. Zur Begründung ihrer Diagnosestellung hat sie ausgeführt, dass pathologische Denkinhalte im Sinne eines Vergiftungs- und Beziehungswahns bestünden. Der Kläger glaube, dass man ihm von Staats wegen aber auch durch einzelne Personen nach dem Leben trachte und ihn systematisch vergiften wolle. Sein gesamtes Denken kreist nach den Feststellungen der Sachverständigen um dieses wahnhafte Erleben. Es müsse davon ausgegangen werden, dass er seine Entscheidungen nicht in freier Willensbestimmung fälle, sondern sein Handeln von wahnhaften Gründen bestimmt werde und er sich (vor allem gesundheitlich) dadurch fortgesetzt selbst schädige. In einer vom Senat angeforderten ergänzenden Stellungnahme nach Aktenlage (vom 6.7.2020) hat sie ausgeführt, die wahnhafte Störung bestehe mindestens seit 2009. Auch wenn er noch über eine gewisse, wenngleich eingeschränkte Kompetenz in alltagspraktischen Dingen verfüge, beträfen die Wahninhalte sein gesamtes Erleben und Denken. Er sei krankheitsbedingt nicht in der Lage, seine Angelegenheiten sachgerecht vor Gericht zu vertreten. Eine medikamentöse Einstellung, die im Grundsatz zu einer Besserung der Symptomatik führen könne, lehne er ab.

Dem Schluss der Sachverständigen, dass aufgrund der vorliegenden Erkrankung beim Kläger eine Einschränkung der freien Willensbildung und somit der prozessualen Geschäftsfähigkeit vorliegt, folgt der Senat nach eigener Prüfung uneingeschränkt. Die Kernaussagen des Gutachtens werden insbesondere durch das Verhalten des Klägers gegenüber dem Gericht vollumfänglich nachvollziehbar; es wird sowohl das von der Sachverständigen beschriebene Krankheitsbild erkennbar als auch seine Auswirkungen auf die Willensbildung. Der Kläger hat zwar einzelne Rückfragen des Gerichts (etwa wegen der Auswahl des beizuordnenden Anwalts oder des Einverständnisses mit der Beiziehung von Akten) sachgerecht beantwortet. Im Übrigen hat er aber während des gesamten Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens eine Vielzahl von Schreiben übersandt, deren Inhalt von den von der Sachverständigen beschriebenen Wahnideen geprägt sind und die mit dem eigentlichen Klageziel - dem Erhalt von Sozialleistungen - in keinerlei nachvollziehbarem Zusammenhang stehen. Dieses Verhalten widerspricht einer vernünftigen Prozessführung und macht die von der Sachverständigen beschriebene Überlagerung seiner Willensbestimmung von Wahninhalten nachvollziehbar.

Für den danach prozessunfähigen Kläger waren zwar während des Berufungsverfahrens vom AG P. wechselnde Betreuer bestellt worden, von deren Aufgabenkreis die vorliegende Angelegenheit jeweils erfasst war. Das LSG hat diese gesetzliche Vertretung (vgl §§ 1896 , 1902 BGB ) indes ua bei der Mitteilung über die Terminsbestimmung (vgl § 110 Abs 1 Satz 1 SGG ) nicht beachtet. Der Kläger war damit bei Durchführung der mündlichen Verhandlung und im Zeitpunkt der Entscheidung des LSG nicht nach Vorschriften der Gesetze vertreten (vgl § 202 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO ). Nach Aufhebung der Betreuung wird das LSG für das weitere Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen müssen (vgl § 72 SGG ). Steht die Prozessunfähigkeit für den Prozess fest, muss dieser grundsätzlich mit einem besonderen Vertreter fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet und ein Betreuer nicht bestellt ist (vgl BSG vom 15.11.2012 - B 8 SO 23/11 R - SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 9; BSG vom 28.8.2018 - B 8 SO 13/18 B - juris RdNr 6). Hiervon kann zwar ausnahmsweise abgesehen werden, wenn unter Anlegung eines strengen Maßstabs das Rechtsmittel eines Prozessunfähigen "offensichtlich haltlos" ist (vgl nur BSG vom 28.5.1957 - 3 RJ 98/54 - BSGE 5, 176 = Breith 1958, 284 ). Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. Insbesondere die Auffassung des LSG, von dem vorliegenden Verwaltungs- und Gerichtsverfahren sei das Begehren des Klägers, Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII zu erhalten (ggf verbunden mit der Überleitung von Unterhaltsansprüchen gegen den Sohn), nicht erfasst, dürfte unzutreffend sein. Einen auf Grundsicherungsleistungen beschränkten Antrag hat der Kläger nicht gestellt. Besteht ein solcher Anspruch nicht, wird nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz ggf zu prüfen sein, ob der Kläger einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt hat, weil diese Leistungen nachrangig gegenüber den Grundsicherungsleistungen zu erbringen wären (vgl nur BSG vom 25.4.2013 - B 8 SO 21/11 R - SozR 4-3500 § 43 Nr 3 RdNr 25).

Das LSG wird ggf über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Vorinstanz: LSG Nordrhein-Westfalen, vom 21.01.2019 - Vorinstanzaktenzeichen L 20 SO 405/18
Vorinstanz: SG Detmold, vom 28.05.2018 - Vorinstanzaktenzeichen S 11 SO 289/17