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BSG - Entscheidung vom 21.10.2020

B 8 SO 48/19 B

Normen:
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1

BSG, Beschluss vom 21.10.2020 - Aktenzeichen B 8 SO 48/19 B

DRsp Nr. 2020/18042

Höhe von Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung Grundsatzrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren

Tenor

Die Verfahren B 8 SO 48/19 B und B 8 SO 49/19 B werden zur gemeinsamen Entscheidung unter dem führenden Aktenzeichen B 8 SO 48/19 B miteinander verbunden (§ 113 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).

Die Beschwerden des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in den Beschlüssen des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. Mai 2019 und 4. Juli 2019 werden als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten der Beschwerdeverfahren sind nicht zu erstatten.

Normenkette:

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1 ;

Gründe

I

Im Streit steht die Höhe der Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe - ( SGB XII ) im Zeitraum November 2015 bis März 2016.

Die Beklagte lehnte für November 2015 wegen einer in diesem Monat zugeflossenen Wohngeldnachzahlung in Höhe von 1020 Euro die Gewährung von Grundsicherungsleistungen ab (Bescheid vom 8.1.2016; Widerspruchsbescheid vom 23.2.2016; rechtskräftiger Gerichtsbescheid des Sozialgerichts <SG> Gelsenkirchen vom 30.8.2016 - S 2 SO 283/15). Für Dezember 2015 bis März 2016 bewilligte die Beklagte Grundsicherungsleistungen unter Berücksichtigung einer Erwerbsminderungsrente des Klägers (Bescheide vom 5.1.2016; Widerspruchsbescheid vom 22.4.2016; Bescheid vom 3.2.2016; Bescheid vom 23.2.2016 <Anpassung Krankenversicherungsbeiträge ab Januar 2016; Berücksichtigung geänderter Rentenhöhe ab März 2016>; Widerspruchsbescheid vom 22.4.2016). Die Klagen haben in beiden Instanzen keinen Erfolg gehabt (Urteile des SG vom 11.10.2018 <jeweils Feststellung, dass die Klagen wegen Eintritts der Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs 2 SGG als zurückgenommen gelten>; Beschlüsse des Landessozialgerichts <LSG> Nordrhein-Westfalen vom 22.5.2019 und 4.7.2019). Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt, das Begehren des Klägers in den jeweiligen Berufungsverfahren sei dahingehend auszulegen, dass er nicht nur mit den Feststellungen hinsichtlich der Klagerücknahmen nicht einverstanden sei, sondern auch Entscheidungen in der Sache begehre. Zwar habe das SG zu Unrecht angenommen, dass die Klagen durch Klagerücknahmefiktion beendet worden seien, materiell-rechtlich sei eine Beschwer des Klägers aber nicht ersichtlich. Höhere Leistungen im Zeitraum Dezember 2015 bis März 2016 könne er nicht beanspruchen, da die Beklagte die Leistungen zutreffend berechnet, insbesondere alle Bedarfe und jeweils den Zufluss bei anzurechnenden Leistungen berücksichtigt habe. Soweit der Kläger höhere Leistungen für November 2015 begehre, sei dies nicht Gegenstand der angefochtenen Bescheide und des Rechtsstreits; außerdem stehe die Rechtskraft des Gerichtsbescheids des SG vom 30.8.2016 entgegen.

Dagegen wendet sich der Kläger mit Nichtzulassungsbeschwerden und macht jeweils die grundsätzliche Bedeutung der Sache geltend, wozu er die Frage aufwirft, ob das erstinstanzliche Verfahren fortzuführen sei, wenn das SG zu Unrecht von einer fiktiven Klagerücknahme wegen Nichtbetreibens des Verfahrens ausgegangen sei. Die Sachentscheidungen des LSG hätten zum Entzug des gesetzlichen Richters geführt.

II

Die Nichtzulassungsbeschwerden sind unzulässig, weil der jeweils geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung 160 Abs 2 Nr 1 SGG ) und des Verfahrensmangels 160 Abs 2 Nr 3 SGG ) nicht in der gebotenen Weise dargelegt bzw bezeichnet worden ist. Der Senat konnte deshalb über die Beschwerden ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter nach § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 SGG entscheiden.

Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Um der Darlegungspflicht zu genügen, muss eine konkrete Rechtsfrage formuliert, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihr angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) dargelegt werden (vgl nur Bundessozialgericht <BSG> vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN). Hierfür ist eine substantielle Auseinandersetzung mit den einschlägigen oberstgerichtlichen Entscheidungen ebenso erforderlich wie die Darlegung, dass sich aus diesen keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Beantwortung der aufgeworfenen Rechtsfrage ergeben (vgl BSG vom 21.1.1993 - 13 BJ 207/92 - SozR 3-1500 § Nr 8).

Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Es fehlen hinreichende Ausführungen zum Klärungsbedarf sowie zur Klärungsfähigkeit. Eine Rechtsfrage ist dann als höchstrichterlich geklärt und damit als nicht (mehr) klärungsbedürftig anzusehen, wenn diese bereits beantwortet ist. Ist sie noch nicht ausdrücklich entschieden, genügt es, dass schon eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beantwortung der von dem Beschwerdeführer als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben (vgl nur BSG vom 30.8.2016 - B 2 U 40/16 B - SozR 4-1500 § 183 Nr 12 RdNr 7 mwN; s auch BSG vom 28.11.2018 - B 12 R 34/18 B - juris RdNr 6). Die erforderliche Auseinandersetzung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung lässt die Beschwerdebegründung hier gänzlich vermissen. Insoweit reicht es nicht aus - wie hier geschehen -, lediglich zu behaupten, höchstrichterliche Rechtsprechung liege nicht vor.

Der Kläger hätte sich vielmehr mit der Rechtsprechung des BSG auseinandersetzen müssen, wonach mit den Urteilen des SG keine Sachentscheidung über die vom Kläger erhobenen prozessualen Ansprüche, sondern jeweils lediglich ein Prozessurteil ergangen ist (vgl BSG vom 5.7.2018 - B 8 SO 50/17 B - juris RdNr 4; BSG vom 14.5.2020 - B 14 AS 73/19 B - juris RdNr 9) und dass bei einer verfahrensfehlerhaft angenommenen Prozessbeendigung eine Sachentscheidung des LSG oder eine Aufhebungsentscheidung in Kombination mit der Zurückverweisung möglich ist (vgl BSG vom 4.4.2017 - B 4 AS 2/16 R - BSGE 123, 62 = SozR 4-1500 § 102 Nr 3, RdNr 14; BSG vom 5.7.2018 - B 8 SO 50/17 B - juris RdNr 4 und 8, ohne allerdings die aufgeworfene Frage zu problematisieren; vgl auch BSG vom 19.3.2020 - B 4 AS 4/20 R - juris RdNr 11: "… Erlangung einer Sachentscheidung des Berufungsgerichts nach Zurückverweisung und letztlich die Fortführung des erstinstanzlichen Verfahrens"; ebenso BVerwG vom 18.9.2002 - 1 B 103/02 - juris RdNr 3, s auch BSG vom 1.7.2010 - B 13 R 58/09 R - BSGE 106, 254 = SozR 4-1500 § 102 Nr 1, RdNr 50; offengelassen von BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 3/16 R - juris RdNr 12). Er hätte herausarbeiten müssen, warum sich nicht schon aus dieser Rechtsprechung ausreichende Anhaltspunkte zur Beantwortung der von ihm als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage ergeben.

Der Kläger hätte sich auch mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung auseinandersetzen müssen, dass es sich bei einem die Beendigung des Rechtsstreits feststellenden Urteil prozessual um ein Endurteil handelt (vgl Bundesverfassungsgericht <BVerfG> vom 13.7.1998 - 1 BvR 666/98 - NVwZ 1998, 1173 - juris RdNr 8; 17.9.2016 - 1 BvR 661/13 - juris RdNr 8; Bundesverwaltungsgericht <BVerwG> vom 12.11.1993 - 2 B 151/93 - NVwZ-RR 1994, 362 - juris RdNr 2; BVerwG vom 11.12.2007 - 2 B 86/07 - Buchholz 310 § 109 VwGO Nr 6 - juris RdNr 14). Er hätte im Hinblick hierauf aufzeigen müssen, weshalb mit den hiergegen eingelegten Berufungen die in den Ausgangsverfahren erhobenen prozessualen Ansprüche nicht in vollem Umfang in der Berufungsinstanz anhängig geworden sind. Er übersieht, dass der mit einem Rechtsmittel verknüpfte Devolutiveffekt nach herrschender Meinung zur Folge hat, dass mit der Einlegung eines Rechtsmittels die Befugnis zur Entscheidung über den Gegenstand des Verfahrens regelmäßig insgesamt auf das für das Rechtsmittel zuständige Gericht übergeht (vgl BGH vom 7.5.2019 - X ZB 9/18 - MDR 2019, 1322 - juris RdNr ; vgl im Zusammenhang mit § 102 Abs 2 SGG auch Bayerisches LSG vom 14.12.2016 - L 2 P 19/15 - juris RdNr 31; Bayerisches LSG vom 22.5.2019 - L 12 SO 641/18 - juris RdNr 25; LSG Berlin-Brandenburg vom 21.8.2020 - L 10 AS 868/20 - juris RdNr 23). Er hätte sich schließlich mit der Rechtsprechung zur Auslegung von (Klag-)Anträgen (vgl etwa BSG vom 6.4.2011 - B 4 AS 119/10 R - BSGE 108, 86 = SozR 4-1500 § 54 Nr 21, RdNr 29; BSG vom 10.3.1994 - 7 RAr 38/93 - BSGE 74, 77 = SozR 3-4100 § 104 Nr 11; siehe auch BVerfG 29.10.1975 - 2 BvR 630/73 - BVerfGE 40, 272 <275> = NJW 1976, 141 ) und - auch hinsichtlich der konkreten Klärungsfähigkeit der von ihm aufgeworfenen Frage - mit der vom LSG vorgenommenen Auslegung seiner Berufungsanträge und des jeweils damit zusammenhängenden Streitgegenstands auseinandersetzen müssen.

Der vom Kläger geltend gemachte Verstoß gegen den gesetzlichen Richter (Art 101 Abs 1 Satz 2 Grundgesetz <GG>) genügt ebenfalls nicht den Anforderungen an die Bezeichnung eines Verfahrensmangels als Revisionszulassungsgrund. Im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde muss das BSG allein anhand der Begründung darüber entscheiden können, ob ein Verfahrensmangel in Betracht kommt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Dies gilt auch für Verfahrensmängel, die im Revisionsverfahren von Amts wegen zu berücksichtigen wären, wie die Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (BSG vom 29.6.2015 - B 9 V 45/14 B - juris RdNr 7 mwN). Hieran fehlt es, weil sich der behauptete Verfahrensmangel lediglich als vom Kläger ohne weitere Begründung behaupteter Reflex zu der von ihm aufgeworfenen Frage grundsätzlicher Bedeutung darstellt, deren Klärungsbedürftigkeit und -fähigkeit nicht in der gebotenen Weise dargelegt worden sind. Ob jemand seinem gesetzlichen Richter dadurch entzogen werden kann, dass ein Berufungsgericht im Einzelfall Befugnisse ausübt, die an sich der Vorinstanz zukommen, ist aber nicht ohne Weiteres zu bejahen. Ein Beteiligter wird durch Akte der Rechtsprechung (erst) dann seinem gesetzlichen Richter entzogen, wenn ein Gericht seine Zuständigkeit offenbar willkürlich bejaht oder verneint und dadurch eine Verschiebung der gesetzlich vorgesehenen Zuständigkeit im Einzelfall zum Nachteil einer Prozesspartei bewirkt (vgl BVerfG vom 26.2.1954 - 1 BvR 537/53 - BVerfGE 3, 359 - juris RdNr 18 f; BVerfG vom 15.5.1984 - 1 BvR 967/83 - BVerfGE 67, 90 - juris RdNr 19). Dass das LSG statt eines Prozessurteils (Aufhebung der Entscheidung des SG und Zurückverweisung an dieses Gericht) willkürlich in der Sache entschieden hat, ist der Begründung der Beschwerde nicht zu entnehmen. Im Gegenteil, schon die vom Kläger aufgezeigten unterschiedlichen Auffassungen der Landessozialgerichte schließen ein willkürliches Vorgehen aus. Erst recht gilt dies unter Berücksichtigung der oben genannten höchstrichterlichen Rechtsprechung, die eine Sachentscheidung durch das Berufungsgericht voraussetzt, wenn das Gericht erster Instanz zu Unrecht die Klagerücknahmefiktion bejaht hat.

Die vom Kläger im Übrigen gerügte fehlerhafte Rechtsanwendung des LSG führt nicht zur Zulassung der Revision (vgl BSG vom 9.1.2020 - B 8 SO 55/19 B - juris; BSG vom 26.9.2017 - B 14 AS 177/17 B - mwN, juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG .

Vorinstanz: LSG Nordrhein-Westfalen, vom 04.07.2019 - Vorinstanzaktenzeichen L 12 SO 640/18
Vorinstanz: SG Gelsenkirchen, vom 11.10.2018 - Vorinstanzaktenzeichen S 2 SO 133/18 WA
Vorinstanz: BSG, - Vorinstanzaktenzeichen B 8 SO 49/19 B
Vorinstanz: LSG Nordrhein-Westfalen, vom 22.05.2019 - Vorinstanzaktenzeichen L 12 SO 641/18
Vorinstanz: SG Gelsenkirchen, vom 11.10.2018 - Vorinstanzaktenzeichen S 2 SO 134/18 WA