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BGH - Entscheidung vom 20.02.2020

V ZB 17/19

Normen:
ZVG § 100 Abs. 3
ZVG § 83 Nr. 6

BGH, Beschluss vom 20.02.2020 - Aktenzeichen V ZB 17/19

DRsp Nr. 2020/6351

Aussetzung einer Vollstreckung nach Rechtsbeschwerde; Zwangsversteigerung eines Grundstück

Die Vollstreckungsgerichte haben in ihrer Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen ausgeschlossen werden. Kann die ernsthafte Gefahr einer Selbsttötung des Schuldners nicht ausgeschlossen werden, muss das Vollstreckungsgericht - ungeachtet des ebenfalls schutzwürdigen Interesses der Gläubiger an der Fortsetzung des Verfahrens - dafür Sorge tragen, dass sich die mit der Fortsetzung des Verfahrens verbundene Lebens- oder Gesundheitsgefahr nicht realisiert.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Schuldner wird der Beschluss der 13. Zivilkammer des Landgerichts Kiel vom 21. Dezember 2018 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Die Vollstreckung aus dem Zuschlagsbeschluss des Amtsgerichts Kiel vom 22. Februar 2018 - 22 K 26/16 - wird bis zur erneuten Entscheidung über die Beschwerde der Schuldner ausgesetzt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt für die anwaltliche Vertretung der Schuldner 330.000 €.

Normenkette:

ZVG § 100 Abs. 3 ; ZVG § 83 Nr. 6 ;

Gründe

I.

Die Beteiligte zu 3 (Gläubigerin) betreibt die Zwangsversteigerung des eingangs genannten Grundstücks, das im je hälftigen Miteigentum der Beteiligten zu 1 und ihres Ehemannes, des Beteiligten zu 2 (Schuldner), steht und dessen Verkehrswert auf 330.000 € festgesetzt worden ist. Nach einem ersten Versteigerungstermin holte das Amtsgericht auf einen Vollstreckungsschutzantrag der Schuldnerin ein psychiatrisches Sachverständigengutachten ein, in welchem der Sachverständige zu dem Ergebnis kam, dass die bevorstehende Zuschlagsentscheidung für die Schuldnerin eine konkrete Suizidgefahr begründe. Der Sachverständige empfahl eine sechsmonatige Behandlung der Schuldnerin durch hochfrequente psychotherapeutische Gespräche und eine psychopharmakologische Therapie. Das Amtsgericht versagte daraufhin mit Beschluss vom 27. April 2017 den Zuschlag, stellte das Verfahren einstweilen bis zum 27. Oktober 2017 ein und gab der Schuldnerin auf, sich entsprechend der gutachterlichen Empfehlung behandeln zu lassen.

In dem zweiten Versteigerungstermin vom 15. Februar 2018 hat die Schuldnerin wiederum unter Hinweis auf eine bestehende Suizidgefahr Vollstreckungsschutz beantragt sowie ihre erneute sachverständige Begutachtung. Das Amtsgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 22. Februar 2018 als unbegründet zurückgewiesen und das Grundstück dem Beteiligten zu 4 (Ersteher) zugeschlagen. Die gegen diesen Beschluss von beiden Schuldnern erhobene Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde wollen die Schuldner die Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses und die einstweilige Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens erreichen.

II.

Das Beschwerdegericht meint, bei der gebotenen Abwägung zwischen dem Grundrecht der Schuldnerin aus Art. 2 Abs. 2 GG einerseits und dem grundrechtlich geschützten Vollstreckungsinteresse der Gläubigerin andererseits seien die Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses und die erneute Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens nicht geboten. Der von der Schuldnerin erhobene Einwand der Suizidgefahr habe nicht - mehr - das notwendige Gewicht, als dass er im Rahmen der gebotenen Abwägung überwiegen könne. Die Schuldnerin habe die ihr durch den Beschluss des Amtsgerichts vom 27. April 2017 gewährte Frist von sechs Monaten nicht für den vorgesehenen Zweck genutzt; es sei nicht ersichtlich, dass sie die ihr aufgegebenen Maßnahmen zu ihrer psychischen Stabilisierung ergriffen habe. Nachweise über solche Maßnahmen habe sie dem Gericht nicht innerhalb der hierfür gesetzten Frist und auch im Beschwerdeverfahren nicht erbracht. Sie habe allein ein ärztliches Attest vom 6. März 2018 eingereicht, wonach sie einer Behandlung gegen Depressionen und einer psychotherapeutischen Intervention bedürfe. Dies reiche nach dem vorangegangenen Verfahrensablauf nicht aus. Angesichts der fehlenden Mitwirkung der Schuldnerin gebiete die Abwägung ihres Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 GG mit den Interessen der Gläubigerin und des Erstehers nicht die Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses und die erneute Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens. Andernfalls könnte die Schuldnerin das Verfahren beliebig verzögern. Auch erfordere es der Grundrechtsschutz nicht - wie von der Schuldnerin unter Vorlage eines erneuten ärztlichen Attests beantragt -, ein weiteres Sachverständigengutachten zu der von ihr schriftlich bekundeten Suizidalität und deren Ernsthaftigkeit einzuholen.

III.

Die nach § 96 ZVG i.V.m. § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 , Abs. 3 Satz 2 ZPO statthafte und nach § 575 ZPO auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde der Schuldner gegen die Zurückweisung ihrer Zuschlagsbeschwerde ist begründet.

1. Richtig ist allerdings der rechtliche Ausgangspunkt des Beschwerdegerichts. Einer Beschwerde gegen den Zuschlagsbeschluss ist nach § 100 Abs. 3 i.V.m. § 83 Nr. 6 ZVG stattzugeben, wenn wegen eines Vollstreckungsschutzantrags des Schuldners nach § 765a ZPO bereits der Zuschlag wegen einer mit dem Eigentumsverlust verbundenen konkreten Gefahr für das Leben des Schuldners oder eines nahen Angehörigen nicht hätte erteilt werden dürfen (st. Rspr., vgl. nur Senat, Beschluss vom 19. September 2019 - V ZB 16/19, WuM 2020, 47 Rn. 4; Beschluss vom 16. März 2017 - V ZB 140/16, NJW-RR 2017, 695 Rn. 5 jeweils mwN). Das bedeutet jedoch nicht, dass die Zwangsversteigerung ohne Weiteres einstweilen einzustellen oder aufzuheben wäre, wenn die Fortführung des Verfahrens mit einer konkreten Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners oder eines nahen Angehörigen verbunden ist (Senat, Beschluss vom 15. Juli 2010 - V ZB 1/10, NJW-RR 2010, 1649 Rn. 11 f.; BGH, Beschluss vom 4. Mai 2005 - I ZB 10/05, BGHZ 163, 66 , 73). Vielmehr ist zur Wahrung der ebenfalls grundrechtlich geschützten Interessen des Vollstreckungsgläubigers und des Erstehers (Senat, Beschluss vom 28. Januar 2016 - V ZB 115/15, NJW-RR 2016, 336 Rn. 6) zu prüfen, ob der Lebens- oder Gesundheitsgefährdung auch anders als durch eine Einstellung oder Aufhebung der Zwangsversteigerung wirksam begegnet werden kann (Senat, Beschluss vom 19. September 2019 - V ZB 16/19, aaO; Beschluss vom 9. Juni 2011 - V ZB 319/10, NZM 2011, 789 Rn. 9; Beschluss vom 7. Oktober 2010 - V ZB 82/10, NJW-RR 2011, 421 Rn. 29).

2. Rechtsfehlerhaft ist aber die Annahme des Beschwerdegerichts, die erneute Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens sei nach diesen Maßstäben vorliegend nicht geboten, und es bedürfe daher keiner Klärung, ob die Schuldnerin nach wie vor suizidgefährdet sei.

a) Die Vollstreckungsgerichte haben in ihrer Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen ausgeschlossen werden und dadurch der sich aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ergebenden Schutzpflicht staatlicher Organe Genüge getan wird (BVerfG, NJW 2019, 2012 Rn. 20). Kann die ernsthafte Gefahr einer Selbsttötung des Schuldners nicht ausgeschlossen werden, muss das Vollstreckungsgericht - ungeachtet des ebenfalls schutzwürdigen Interesses der Gläubiger an der Fortsetzung des Verfahrens - dafür Sorge tragen, dass sich die mit der Fortsetzung des Verfahrens verbundene Lebens- oder Gesundheitsgefahr nicht realisiert (BGH, Beschluss vom 19. September 2019 - V ZB 16/19, WuM 2020, 47 Rn. 7). Der auf Tatsachen gestützte Einwand des Schuldners, ihm oder einem nahen Angehörigen drohe bei Fortsetzung des Verfahrens die Gefahr der Selbsttötung, ist stets zu berücksichtigen; er kann es erfordern, dass den damit verbundenen Beweisangeboten besonders sorgfältig nachgegangen wird (vgl. BVerfG, NJW 2019, 2012 Rn. 20; Senat, Beschluss vom 31. März 2011 - V ZB 313/10, WuM 2011, 533 Rn. 14).

b) Besteht danach eine Suizidgefahr, ist zu prüfen, ob dieser anders als durch Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens begegnet werden kann, etwa durch die Unterbringung des Schuldners nach den einschlägigen Landesgesetzen, durch eine betreuungsrechtliche Unterbringung (§ 1906 BGB ) oder andere Maßnahmen der für den Lebensschutz zuständigen Stellen (vgl. Senat, Beschluss vom 7. November 2019 - V ZB 135/18, juris Rn. 11; Beschluss vom 16. März 2017 - V ZB 150/16, NJW-RR 2017, 695 Rn. 7). Von der Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens darf das Vollstreckungsgericht aber nur absehen, wenn es die Geeignetheit der in Betracht gezogenen Maßnahmen sorgfältig geprüft und deren Vornahme sichergestellt hat (Senat, Beschluss vom 19. September 2019 - V ZB 16/19, WuM 2020, 47 Rn. 5; BVerfG, NJW 2019, 2012 Rn. 20). Kommen geeignete Maßnahmen nicht in Betracht oder kann ihre Vornahme nicht sichergestellt werden, darf das Gericht das Verfahren nicht ungeachtet der bestehenden akuten Suizidgefährdung fortsetzen. Es muss vielmehr auch dann den Lebensschutz gewährleisten, regelmäßig durch eine - auch wiederholte - einstweilige Einstellung des Verfahrens (vgl. Senat, Beschluss vom 7. November 2019 - V ZB 135/18, juris Rn. 20), in seltenen Ausnahmefällen auch durch eine dauernde (vgl. dazu BVerfG, NJW 2019, 2995 Rn. 40).

c) Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts entfällt die Schutzbedürftigkeit eines Schuldners auch nicht dadurch, dass er an der Behandlung seiner psychischen Erkrankung, aus der die Suizidgefahr resultiert, nicht mitwirkt. Eine solche Sichtweise wird dem in Art. 2 Abs. 2 GG enthaltenen Gebot zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nicht gerecht. Dieses Gebot gilt auch dann, wenn der Schuldner unfähig ist, aus eigener Kraft oder mit zumutbarer fremder Hilfe die Konfliktsituation angemessen zu bewältigen, und zwar unabhängig davon, ob dieser Unfähigkeit Krankheitswert zukommt oder nicht (vgl. Senat, Beschluss vom 16. Dezember 2010 - V ZB 215/09, NJW-RR 2011, 423 Rn. 9). Die mangelnde Mitwirkung des Schuldners enthebt das Vollstreckungsgericht daher nicht von der notwendigen umfassenden, an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierten Würdigung der Gesamtumstände und der Prüfung, ob der Gefahr für das Leben des Schuldners auf andere Weise als durch die vorübergehende Einstellung der Zwangsvollstreckung begegnet werden kann (vgl. zum Ganzen Senat, Beschluss vom 6. Dezember 2012 - V ZB 80/12, NJW-RR 2013, 628 Rn. 8). Gegebenenfalls ist auch zu prüfen, ob die Durchführung der ärztlich empfohlenen Behandlung durch bestimmte flankierende Maßnahmen, wie etwa eine vorübergehende Unterbringung des Schuldners oder eine ihm aufzuerlegende stationäre Behandlung sichergestellt werden kann (vgl. Senat, Beschluss vom 16. März 2017 - V ZB 150/16, NJW-RR 2017, 695 Rn. 10).

d) Mit diesen Grundsätzen steht es nicht in Einklang, das Zwangsversteigerungsverfahren im Hinblick auf den fehlenden Nachweis der Erfüllung gerichtlicher Auflagen durch die Schuldnerin nunmehr fortzusetzen, obwohl - was das Beschwerdegericht offen gelassen hat und daher für das Rechtsbeschwerdeverfahren zu unterstellen ist - eine konkrete Suizidgefahr für die Schuldnerin fortbesteht und nicht sichergestellt ist, dass sie sich im Falle des rechtskräftigen Zuschlags nicht verwirklicht.

3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 577 Abs. 6 Satz 3 ZPO abgesehen.

IV.

1. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO ).

2. Da aus dem Zuschlagsbeschluss schon vor dem Eintritt der Rechtskraft vollstreckt werden kann und die Aufhebung der Entscheidung des Beschwerdegerichts dem Zuschlagsbeschluss die Vollstreckbarkeit nicht nimmt, ist dessen Vollziehung bis zur erneuten Entscheidung des Beschwerdegerichts gemäß § 575 Abs. 5 , § 570 Abs. 3 ZPO auszusetzen (vgl. Senat, Beschluss vom 19. September 2019 - V ZB 16/19, WuM 2020, 47 Rn. 10 mwN).

3. Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren bestimmt sich für die durch die Vertretung der Schuldner angefallenen Rechtsanwaltsgebühren nach § 26 Nr. 2 RVG . Diese Kosten sind, weil eine Kostenentscheidung nach den §§ 91 ff. ZPO bei der Zuschlagsbeschwerde nicht ergeht (Senat, Beschluss vom 25. Januar 2007 - V ZB 125/05, BGHZ 170, 378 Rn. 7), von der Schuldnerin zu tragen. Gerichtskosten sind im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht angefallen.

Vorinstanz: AG Kiel, vom 22.02.2018 - Vorinstanzaktenzeichen 22 K 26/16
Vorinstanz: LG Kiel, vom 21.12.2018 - Vorinstanzaktenzeichen 13 T 21/18