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BVerwG - Entscheidung vom 27.11.2019

9 CN 1.18

Normen:
GG Art. 19 Abs. 4
KAG BY Art. 8 Abs. 2
KAG BY Art. 8 Abs. 6
GG Art. 19 Abs. 4
BayKAG Art. 8 Abs. 2
BayKAG Art. 8 Abs. 6
GG Art. 19 Abs. 4
KAG BY Art. 8 Abs. 2
KAG BY Art. 8 Abs. 6

Fundstellen:
BVerwGE 167, 117
DÖV 2020, 530
NVwZ 2020, 560

BVerwG, Urteil vom 27.11.2019 - Aktenzeichen 9 CN 1.18

DRsp Nr. 2020/3661

Normenkontrolle gegen eine Abfallgebührensatzung; Verfahren bei der Gebührenkalkulation

Die Auslegung einer landesrechtlichen Gebührenvorschrift, wonach objektive Rechtsverstöße bei der Kalkulation, soweit sie bewusst und gewollt mit Benachteiligungsabsicht herbeigeführt wurden, bis zu einer Toleranzschwelle von 12 % zu Lasten des Gebührenschuldners unbeachtlich sind, ist mit der Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG ) nicht vereinbar.

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 17. August 2017 wird aufgehoben. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Normenkette:

GG Art. 19 Abs. 4 ; KAG BY Art. 8 Abs. 2 ; KAG BY Art. 8 Abs. 6 ;

Gründe

I

Der Antragsteller wandte sich im Wege der Normenkontrolle gegen die Abfallgebührensatzung des Antragsgegners vom 30. Juli 2014, die am 1. Januar 2015 in Kraft trat. Er ist Miteigentümer eines Hausgrundstücks im Geltungsbereich dieser Satzung.

Der Satzung liegt eine Gebührenkalkulation für die Jahre 2015 bis 2018 zugrunde, die der Antragsteller unter verschiedenen Gesichtspunkten beanstandete. Er machte insbesondere - gestützt auf einen Prüfbericht des Bayerischen Kommunalen Prüfungsverbandes - einen Verstoß gegen die Pflicht geltend, nach Art. 8 Abs. 6 Satz 2 des bayerischen Kommunalabgabengesetzes - KAG BY - Kostenüberdeckungen, die sich am Ende des Bemessungszeitraums ergeben, innerhalb des folgenden Bemessungszeitraums auszugleichen. Daneben hielt er die Kalkulation in Bezug auf einzelne Kostenstellen (etwa Portokosten, Gerichtskosten) für rechtswidrig.

Der Verwaltungsgerichtshof lehnte den Antrag mit Urteil vom 17. August 2017 im Wesentlichen mit folgender Begründung ab: Aus der Sollvorschrift des Art. 8 Abs. 2 Satz 2 KAG BY ergebe sich ein Spielraum für den Satzungsgeber dahingehend, dass geringfügige Überschreitungen als unbeabsichtigte Folge prognostischer Unsicherheiten keine Verletzung des Kostenüberdeckungsverbots darstellten. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs seien Kostenüberdeckungen von bis zu 12 % grundsätzlich unschädlich. Diese Toleranzschwelle gelte allerdings nicht für bewusst und gewollt herbeigeführte Kostenüberdeckungen. An diesen Grundsätzen gemessen liege hier kein bewusster bzw. vorsätzlicher Verstoß gegen das Kostenüberdeckungsverbot vor. Zwar verstoße die gerügte Praxis des Antragsgegners, die zum Ausgleich der aufgelaufenen Kostenüberdeckung gebildete "Sonderrücklage Gebühren" anhand kameraler Grundsätze zu ermitteln und - damit zusammenhängend - eine doppelte Refinanzierung der Investitionskosten zu erzielen, möglicherweise gegen die Vorgaben des Kommunalabgabenrechts. Diese Frage bedürfe aber keiner abschließenden Klärung, weil sich jedenfalls in subjektiver Hinsicht kein bewusstes und gewolltes Handeln des Antragsgegners feststellen lasse. Nach den Gesamtumständen des Falles bestünden keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsgegner eine überhöhte Rücklage zum Nachteil der Gebührenzahler habe bilden wollen. Die 12%-Toleranzschwelle werde nicht überschritten. Kostenüberdeckungen, die nicht innerhalb der gesetzlichen Ausgleichsfrist, d.h. innerhalb des folgenden Zeitraums ausgeglichen worden seien, blieben nicht ausgleichspflichtig.

Der Antragsteller hat gegen das Urteil fristgerecht die vom Bundesverwaltungsgericht zugelassene Revision eingelegt. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor:

Das vom Verwaltungsgerichtshof herangezogene Fehlerfolgenregime verstoße gegen die bundesrechtlichen Vorgaben und verfassungsrechtlichen Bindungen des Abgabennormgebers aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG sowie aus dem Äquivalenzprinzip. Das gelte auch für die Annahme, eine Kostenüberdeckung müsse nur aus dem unmittelbar zurückliegenden Bemessungszeitraum ausgeglichen werden, und die Bewertung der doppelten Refinanzierung von Investitionskosten durch den Verwaltungsgerichtshof. Darüber hinaus erhebt der Antragsteller verschiedene Verfahrensrügen.

Der Antragsteller beantragt,

das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 17. August 2017 zu ändern und die Gebührensatzung des Antragsgegners vom 30. Juli 2014 für unwirksam zu erklären.

Der Antragsgegner beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Berufungsurteil.

II

Die zulässige Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht, soweit es, gestützt auf ein richterrechtlich entwickeltes Fehlerfolgenregime mit einer 12 %-Toleranzschwelle vom Antragsteller gerügte Kalkulationsfehler ungeprüft lässt (1), nicht aber hinsichtlich der Annahme, eine Kostenüberdeckung sei nach Art. 8 Abs. 6 Satz 2 KAG BY nur aus dem unmittelbar zurückliegenden Bemessungszeitraum auszugleichen (2). Da das Urteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen wird (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO ), muss auf die weitere Sachrüge zur "doppelten Refinanzierung von Investitionskosten" sowie die Verfahrensrügen nicht mehr eingegangen werden (3).

1. Die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, aus der Sollvorschrift des Art. 8 Abs. 2 Satz 2 KAG BY ergebe sich ein Spielraum für den Satzungsgeber dahingehend, dass geringfügige Überschreitungen von bis zu 12 % als unbeabsichtigte Folge prognostischer Unsicherheiten keine Verletzung des Kostenüberdeckungsverbots darstellten (im Folgenden Fehlerfolgenregime oder Fehlertoleranz genannt), verstößt gegen Bundesrecht.

Art. 8 Abs. 2 Satz 1 und 2 KAG BY enthält ein Kostendeckungsgebot und Kostenüberschreitungsverbot für Benutzungsgebühren. Danach soll das Gebührenaufkommen die nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen ansatzfähigen Kosten einschließlich der Kosten für die Ermittlung und Anforderung von einrichtungsbezogenen Abgaben decken. Sind die Schuldner zur Benutzung verpflichtet, so soll das Aufkommen die Kosten nach Satz 1 nicht übersteigen.

Das Kostendeckungsprinzip selbst scheidet als Maßstab für die Prüfung eines Bundesrechtsverstoßes aus. Es ist bundesrechtlich nicht vorgegeben, insbesondere verfügt es über keinen Verfassungsrang (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 24. März 1961 - 7 C 109.60 - BVerwGE 12, 162 <165 ff.> und Beschluss vom 11. Dezember 2006 - 10 BN 3.06 - Buchholz 401.9 Beiträge Nr. 47, juris Rn. 5 m.w.N.; BVerfG, Beschluss vom 10. März 1998 - 1 BvR 178/97 - BVerfGE 97, 332 <345>). Damit gilt es folglich nur, wenn und soweit es gesetzlich vorgeschrieben ist, hier also als Sollvorschrift nach Art. 8 Abs. 2 Satz 2 KAG BY.

Soweit der Verwaltungsgerichtshof - wie hier - Landesrecht ausgelegt und angewendet hat, ist das Bundesverwaltungsgericht grundsätzlich daran gebunden (§ 137 Abs. 1 , § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 560 ZPO ). Dies gilt im vorliegenden Fall jedoch deshalb nicht, weil die Auslegung der Vorinstanz gegen Bundesverfassungsrecht verstößt. Denn das vom Verwaltungsgerichtshof entwickelte Fehlerfolgenregime, das dazu führt, dass er auch einen unterstellten objektiven Rechtsverstoß nicht prüft (UA Rn. 26, 31 f.), greift, unabhängig davon, wie sein Anwendungsbereich im Einzelnen zu verstehen ist (a), in das Recht des Antragstellers aus Art. 19 Abs. 4 GG auf effektiven Rechtsschutz ein (b), ohne dass hierfür eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung gegeben ist (c).

a) Der Verwaltungsgerichtshof geht davon aus, dass geringfügige Kostenüberdeckungen von bis zu 12 % als unbeabsichtigte Folge prognostischer Unsicherheiten keine Verletzung des Art. 8 Abs. 2 Satz 2 KAG BY darstellen. Diese Toleranzschwelle soll allerdings nicht gelten für bewusst und gewollt herbeigeführte Kostenüberdeckungen. Dabei soll ein bewusster Verstoß dann vorliegen, wenn sich der Vorsatz des Satzungsgebers (zumindest auch) auf das Berechnungsergebnis in Gestalt der Erzielung eines Überschusses zu Lasten des Gebührenzahlers bezieht (UA Rn. 24); an anderer Stelle des Urteils wird insoweit eine "Benachteiligungsabsicht" des Satzungsgebers verlangt (UA Rn. 32).

Der Anwendungsbereich dieses Fehlerfolgenregimes bleibt in dem angefochtenen Urteil zum Teil unklar. Zwar wird der Bezugspunkt für die Berechnung der Toleranzschwelle - die kalkulierten Gesamtkosten - eindeutig benannt (aa), auch muss das subjektive Element durch den verwendeten Begriff der Benachteiligungsabsicht in einem engen Sinne verstanden werden (bb); offen bleibt aber, ob die Toleranzschwelle nur auf "echte Kalkulationsfehler" oder auch auf bloße Schätzungsabweichungen angewandt werden soll (cc).

aa) Der Verwaltungsgerichtshof zieht - ohne Begründung - als Maßstab für die Kostenüberschreitung nicht den prozentualen Anteil der fehlerhaft angesetzten Kosten an den zulässigerweise ansatzfähigen Gesamtkosten (so etwa OVG Münster, Urteil vom 19. Mai 1995 - 9 A 560/93 - StuGR 95, 315 <317>, vgl. hierzu Brüning, in: Driehaus, Kommunalabgabenrecht, Stand März 2019, Teil III § 6 Rn. 261, und OVG Schleswig, Urteil vom 24. Juni 1998 - 2 L 22/96 - juris Rn. 22), sondern den prozentualen Anteil der fehlerhaft angesetzten Kosten an den ursprünglich (und damit unter Umständen überhöht) ermittelten Gesamtkosten heran (ebenso OVG Saarlouis, Urteil vom 25. Mai 2009 - 1 A 325/08 - juris Rn. 217, kritisch zu diesem Ansatz Vetter, in: Christ/Oebbecke, Handbuch Kommunalabgabenrecht 2016, D Rn. 61): Der Antragsgegner habe in seiner auf vier Jahre angelegten Gebührenberechnung zu verteilende Kosten von insgesamt knapp 24 Mio. Euro ermittelt. Bezogen auf ein Jahr ergebe dies ein Volumen von nahezu 6 Mio. Euro. Die Toleranzschwelle von 12 % eröffne damit - auf vier Jahre gesehen - einen Spielraum von knapp 2,88 Mio. Euro bzw. pro Jahr eine Marge von knapp 720 000 Euro, innerhalb derer ungewollte Kostenüberdeckungen grundsätzlich als unschädlich hinzunehmen seien (UA Rn. 25).

Damit wählt das Gericht einen Maßstab, der die Toleranzschwelle von 12 % zugunsten des Antragsgegners weiter erhöht.

bb) Die vom Verwaltungsgerichtshof formulierte Ausnahme, wonach die Toleranzschwelle für bewusst und gewollt herbeigeführte Kostenüberdeckungen (mit "Benachteiligungsabsicht", vgl. UA Rn. 32) nicht gelten soll, kann den Anwendungsbereich des Fehlerfolgenregimes nicht beschränken. Denn dass ein Satzungsgeber mit "Benachteiligungsabsicht" Gesetzesverstöße begeht, dürfte höchst selten vorkommen und zudem vom Gebührenpflichtigen kaum nachzuweisen sein.

cc) In dem angefochtenen Urteil bleibt unklar, ob ihm die bisherige Rechtsprechung des Normenkontrollgerichts zugrunde liegt, die zwischen Prognoseungenauigkeiten einerseits und echten Kalkulationsfehlern bzw. bewusster Herbeiführung einer Kostenüberdeckung andererseits unterscheidet, und ob die Toleranzschwelle von 12 % für beide Arten von Abweichungen gelten soll.

Der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs lässt sich entnehmen, dass die Pflicht zum Ausgleich von Kostenüberdeckungen nur den "systemimmanenten Ungenauigkeiten" Rechnung tragen soll, während Überdeckungen, die sich aus einer vom Einrichtungsträger unterlassenen oder den Anforderungen des Art. 8 KAG BY nicht entsprechenden Gebührenkalkulation ergeben oder die bewusst herbeigeführt wurden, nicht erfasst werden (vgl. etwa Beschluss vom 13. Dezember 2012 - 20 ZB 12.1158 - juris Rn. 6 sowie Urteil vom 2. April 2004 - 4 N 00.1645 - juris Rn. 26). Solche Kalkulationsfehler führen vielmehr - vorbehaltlich der Toleranzschwelle - zur Nichtigkeit der Satzung (Stadlöder, in: Schieder/Happ, Bayerisches Kommunalabgabengesetz , Stand Dezember 2018, Erl. Art. 8 Rn. 13 m.w.N.).

Dieselbe Unterscheidung nimmt etwa auch das Oberverwaltungsgericht Münster vor. Eine Durchbrechung des Prinzips der Periodengerechtigkeit lasse sich nach der bestehenden gesetzlichen Regelung nur für rechtmäßige Kalkulationsentscheidungen rechtfertigen. Rechtswidrige Kalkulationen unterlägen unmittelbar der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle und ggf. inzidenten Verwerfung, bewirkten darüber hinaus aber keine Folgerungen für spätere Gebührenperioden (OVG Münster, stRspr, vgl. nur Beschluss vom 17. Januar 2011 - 9 A 693/09 - juris Rn. 15 und 17). Demgegenüber sieht die gesetzliche Regelung zur 5 %-Fehlertoleranz im Niedersächsischen Kommunalabgabengesetz in der Fassung vom 20. April 2017 (Nds. GVBl. S. 121) in § 2 Abs. 1 Satz 3 letzter Halbsatz ausdrücklich vor, dass auch Kalkulationsfehler auszugleichen sind.

Das vorliegende Normenkontrollurteil (UA Rn. 24) spricht zwar bei der Herleitung des Fehlertoleranzregimes von "prognostischen Unsicherheiten" und nimmt darüber hinaus ausdrücklich Bezug auf das Urteil vom 2. April 2004 - 4 N 00.165 -, aus dem sich eine Unterscheidung zwischen systemimmanenten Ungenauigkeiten und anderen Kalkulationsfehlern deutlich ergibt. Das spricht dafür, dass die Toleranzschwelle von 12 % nur für diese Situation gelten soll. Die konkrete Anwendung der Obersätze auf die streitgegenständliche Abfallsatzung sowie der zu Randnummer 24 des Urteils gebildete Leitsatz ("Kostenüberdeckungen als Folge einer fehlerhaften Gebührenkalkulation sind unzulässig, wenn sie eine Toleranzschwelle von 12 % überschreiten oder wenn sie bewusst zum Nachteil des Gebührenzahlers herbeigeführt wurden") sprechen jedoch dagegen. Auch das Rechtsgespräch in der Revisionsverhandlung hat insoweit keine Klarheit ergeben; beide Beteiligte haben das Urteil und die mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof dahin verstanden, dass die 12 %- Fehlertoleranzschwelle einheitlich für sämtliche Überdeckungen - mit Ausnahme der sehr eng verstandenen Verstöße mit Benachteiligungsabsicht - gelten soll.

b) Der Verwaltungsgerichtshof hat mit dem vorbeschriebenen Fehlerfolgenregime in das Recht des Antragstellers auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG ) eingegriffen.

Auch die Rechtssetzung durch die Exekutive in Form von Rechtsverordnungen und Satzungen ist Ausübung öffentlicher Gewalt und daher in die Rechtsschutzgarantie einbezogen. Dies schließt jedoch nicht aus, dass durch den Gesetzgeber eröffnete Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräume die Rechtskontrolle durch die Fachgerichte einschränken. Wann und in welchem Umfang dies der Fall ist, haben die Fachgerichte durch Auslegung der betreffenden gesetzlichen Regelung zu ermitteln (BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 2011 - 1 BvR 857/07 - BVerfGE 129, 1 <21 f>; Kammerbeschluss vom 14. April 2016 - 1 BvR 243/16 - juris Rn. 14 m.w.N.).

Wie ausgeführt, hat der Verwaltungsgerichtshof sich nicht auf die Annahme gerichtlich eingeschränkt überprüfbarer Spielräume beschränkt. Vielmehr hat er eine Fehlertoleranzschwelle entwickelt, die - bis zu der Schwelle von 12 % - zu einem völligen Ausfall des Rechtsschutzes führt.

Zwar ist Art. 19 Abs. 4 GG nur anwendbar, wenn die Verletzung eines subjektiven Rechts in Rede steht, denn die materiell geschützte Rechtsposition wird in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vorausgesetzt. Hier geht es aber um einen antragsberechtigten Antragsteller, der gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO geltend machen kann, durch die Anwendung der Satzung in seinen Rechten verletzt zu sein. Ebenso wenig steht entgegen, dass die Normenkontrolle als solche nicht durch die Rechtsschutzgarantie vorgegeben ist. Sieht das Prozessrecht - wie hier durch § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i.V.m. Art. 5 Satz 1 AGVwGO BY - Rechtsbehelfe vor, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle (BVerfG, Kammerbeschluss vom 30. Juni 2005 - 1 BvR 2615/04 - BVerfGK 5, 369 Rn. 17).

c) Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung ergibt sich weder durch eine spezielle gesetzliche Regelung (aa) noch durch die vom Verwaltungsgerichtshof vorgenommene Auslegung des Art. 8 Abs. 2 Satz 2 KAG BY (bb).

aa) Eine spezielle gesetzliche Regelung über die Unbeachtlichkeit von Kalkulationsmängeln, wie sie derzeit in Baden-Württemberg (§ 2 Abs. 2 Satz 1 KAG BW: Mängel sind unbeachtlich, wenn sie "nur zu einer geringfügigen Kostenüberdeckung führen") und Niedersachsen (§ 2 Abs. 1 Satz 3 KAG NI - Toleranzschwelle von 5 %) existieren, gibt es in Bayern nicht.

bb) Das vom Verwaltungsgerichtshof durch Auslegung des Art. 8 Abs. 2 Satz 2 KAG BY entwickelte Fehlerfolgenregime ist zwar nicht von vornherein wegen Fehlens einer speziellen Regelung unzulässig (1), wohl aber hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung, denn es schränkt die Rechtsschutzgarantie in unverhältnismäßigem Umfang ein (2).

(1) Das Fehlen einer gesetzlichen Regelung zu einer Toleranzschwelle für Kalkulationsfehler bedeutet - ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Gebührenkalkulationen - nicht, dass jeder Kalkulationsfehler automatisch zur Nichtigkeit einer Satzung führen muss.

Zwar ist es regelmäßig Sache des Gesetzgebers, die Unbeachtlichkeit von Rechtsverstößen anzuordnen und hierdurch Ausnahmen von dem Grundsatz, dass Rechtsfehler die Nichtigkeit einer Satzungsvorschrift zur Folge haben, vorzusehen. Ansonsten ist es den Verwaltungsgerichten verwehrt, von der (inzidenten) Feststellung der Unwirksamkeit einer als rechtswidrig erkannten Satzungsvorschrift oder einer daraus resultierenden Aufhebung von auf ihr beruhenden Verwaltungsakten abzusehen (BVerwG, Urteil vom 29. September 2004 - 10 C 3.04 - Buchholz 401.9 Beiträge Nr. 43 S. 8).

Eine Ausnahme von diesem Grundsatz hat das Bundesverwaltungsgericht allerdings für Mängel der Kostenkalkulation angenommen. Insoweit hat es bundesrechtlich nicht nur beanstandet, Gebührenregelungen insgesamt für nichtig zu erklären, ohne zu prüfen, ob und in welchem Umfang sich etwaige Kalkulationsfehler im Ergebnis auf die Gebührenhöhe ausgewirkt haben. Vielmehr hat es auch entschieden, dass das Landesrecht im Rahmen der Ausgestaltung des Kostendeckungsprinzips Prognosespielräume des kommunalen Satzungsgebers respektieren muss. Insofern ist zwar bundesrechtlich nicht ein bestimmter Prozentsatz vorgegeben, der vom Landesrecht als "Toleranzgrenze" anerkannt werden muss; eine Überschreitung von 1,2 %, wie sie im damaligen Fall zugrunde lag, hat das Gericht aber als "am untersten Rand" einer solchen Toleranzgrenze bewertet (BVerwG, Urteil vom 17. April 2002 - 9 CN 1.01 - BVerwGE 116, 188 , 192 f., 196 f.).

Der Senat hält an dieser Rechtsprechung fest, die letztlich darauf abzielt, einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG und dem durch Art. 28 Abs. 2 GG geschützten kommunalen Satzungsermessen zu finden. Zu berücksichtigen ist bei der Abwägung zudem der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit als Element der Rechtsstaatlichkeit. Es muss möglichst vermieden werden, dass eine allzu rigorose Kontrollpraxis der Gerichte, die nicht dem Schutz des Gebührenschuldners dient, weil dieser nur daran interessiert sein kann, nicht zu einer überhöhten Gebühr herangezogen zu werden, zu einem "unkalkulierbaren Wagnis" für die Satzungsgeber wird (BVerwG, Urteil vom 17. April 2002 - 9 CN 1.01 - BVerwGE 116, 188 <194>; vgl. zur dogmatischen Herleitung Oebbecke, NVwZ 2003, 1313 <1315 ff.> m.w.N. und Brüning, in: Driehaus, Kommunalabgabenrecht, Stand März 2019, Teil III § 6 Rn. 263; kritisch zu richterrechtlich entwickelten Fehlertoleranzen Lange, DVBl 2017, 928 <934>). Auch der Antragsteller hat sich im Übrigen nicht gegen eine Fehlertoleranzschwelle als solche, sondern lediglich gegen die in Rede stehende konkrete Ausgestaltung gewandt.

(2) Das vom Verwaltungsgerichtshof entwickelte Fehlerfolgenregime hält sich nicht in dem aufgezeigten Rahmen einer zulässigen Fehlertoleranzschwelle.

Sollte die Toleranzschwelle auch für Unwägbarkeiten und Prognoseunsicherheiten gelten, wäre dies im Grundsatz rechtfertigungsbedürftig. Denn eine Kostenüberdeckung, die auf einer unvorhersehbaren Abweichung zwischen den prognostizierten und den tatsächlich eingetretenen Verhältnissen beruht, was nach den Angaben des Antragsgegners in der Abfallwirtschaft häufig vorkommen soll, stellt gerade keinen Fehler dar, auf den eine Fehlertoleranzschwelle anzuwenden sein könnte. Vielmehr ist die Prognose in einem solchen Fall rechtmäßig. Sollte das angefochtene Urteil - wovon zumindest die Vertreterin des Antragsgegners in der Revisionsverhandlung ausgegangen ist - dahingehend zu verstehen sein, dass auch jede Prognoseabweichung, die über 12 % liegt, zur Unwirksamkeit der Satzung führt, dürfte dies einen unverhältnismäßigen Eingriff in das gemeindliche Satzungsermessen darstellen.

Für eine Anwendung auf echte Kalkulationsfehler ist die Fehlertoleranzschwelle von 12 % zu hoch. Sie stellt einen "Ausreißer" im Vergleich zu der von anderen Oberverwaltungsgerichten anerkannten Spanne von 3 - 5 % dar (vgl. zur Rechtslage in den verschiedenen Bundesländern Vetter, in: Christ/Oebbecke, Handbuch Kommunalabgabenrecht 2016, D Rn. 53 ff.). Für eine solche Höhe fehlt es mit Blick auf die mit der Fehlertoleranz verbundene Einschränkung der Rechtsschutzgarantie an einer nachvollziehbaren Rechtfertigung.

Soweit der Verwaltungsgerichtshof selbst von "geringfügigen Überschreitungen" spricht, überzeugt dies nicht. "Geringfügig" bedeutet unbedeutend, nicht ins Gewicht fallend. Das mag auf eine Fehlertoleranz in einer Größenordnung von bis zu 5 % zutreffen, nicht aber auf 12 %, zumal der Verwaltungsgerichtshof - wie oben unter a) beschrieben - die Toleranzschwelle durch das Abstellen auf die tatsächlich angesetzten Gesamtkosten faktisch noch weiter erhöht, ohne dies durch eine praktisch wirksame Ausnahme abzumildern.

(3) Im Hinblick darauf kann das angefochtene Urteil auch nicht deshalb im Ergebnis Bestand haben, weil die Kalkulation vom realen Betriebsergebnis nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs hier tatsächlich nur um 6,67 % abweicht (UA Rn. 36). Denn entscheidend ist, dass jedenfalls die vom Verwaltungsgerichtshof gefundene Auslegung des Art. 8 Abs. 2 Satz 2 KAG BY, wonach (auch rechtswidrige) Kostenüberdeckungen, soweit sie nicht bewusst und gewollt mit Benachteiligungsabsicht herbeigeführt wurden, bis zur Höhe von 12 % unschädlich sind, Bundesrecht verletzt. Von daher bedarf es einer neuen Auslegung der irrevisiblen landesrechtlichen Norm, die einerseits echte Kalkulationsfehler, andererseits bloße prognosebedingte Unwägbarkeiten in den Blick nimmt. Der Senat übt sein ihm nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 563 Abs. 4 ZPO zustehendes Ermessen dahin aus, dass er diese Auslegung dem Verwaltungsgerichtshof überlässt.

2. Der Verwaltungsgerichtshof ist ohne Verstoß gegen Bundesrecht zu dem Ergebnis gekommen, dass sich die Ausgleichspflicht des Art. 8 Abs. 6 Satz 2 KAG BY - unbeschadet weitergehender Ausgleichsrechte der Kommune - nur auf Kostenüberdeckungen aus dem unmittelbar vorhergehenden Bemessungszeitraum bezieht.

Nach § 8 Abs. 6 KAG BY können bei der Gebührenbemessung die Kosten für einen mehrjährigen Zeitraum berücksichtigt werden, der jedoch höchstens vier Jahre umfassen soll (Satz 1). Kostenüberdeckungen, die sich am Ende des Bemessungszeitraums ergeben, sind innerhalb des folgenden Bemessungszeitraums auszugleichen; Kostenunterdeckungen sollen in diesem Zeitraum ausgeglichen werden (Satz 2). Der Verwaltungsgerichtshof hat diese landesrechtliche Norm in dem vorbeschriebenen Sinne unter Hinweis auf den "klaren Wortlaut" ausgelegt und sich dabei ergänzend auf andere - gleichgerichtete - obergerichtliche Rechtsprechung sowie Nachweise aus dem Schrifttum gestützt (UA Rn. 38). Danach bleiben Kostenüberdeckungen, die nicht innerhalb der gesetzlichen Ausgleichspflicht ausgeglichen werden, nach einhelliger Auffassung nicht weiterhin ausgleichspflichtig. An diese willkürfreie Auslegung ist der Senat nach § 173 VwGO i.V.m. § 560 ZPO gebunden; sie verstößt weder gegen das Äquivalenzprinzip noch gegen Art. 19 Abs. 4 GG . Die zeitliche Beschränkung der Ausgleichspflicht steht weder außer Verhältnis zum abzugeltenden Vorteil noch schränkt sie den Rechtsschutz übermäßig ein; sie dient der Rechtssicherheit (ebenso Giebler, KStZ 2007, 167 <170 f.>).

Zwar ist das vom Antragsteller angeführte "erhebliche praktische Problem" bei der Anwendung der Vorschrift nicht zu leugnen. Denn die Kalkulation für den nächsten Bemessungszeitraum wird in der Regel zu einem Zeitpunkt erstellt, in dem die Betriebsabrechnungen, aus denen sich etwaige Kostenüberdeckungen ergeben, noch nicht vollständig vorliegen. Die Überschüsse können also regelmäßig erst nach Beginn des nächsten Bemessungszeitraums genau ermittelt werden. Dieser Schwierigkeit lässt sich aber mit Hilfe von Schätzungen für das letzte Jahr des Kalkulationszeitraums hinreichend begegnen. Da eine Schätzung der Tatsachenfeststellung zuzurechnen ist, unterliegt diese der vollen gerichtlichen Nachprüfung (vgl. genauer VG Regensburg, Beschluss vom 18. Dezember 2018 - RN 11 E 19.1906 - UA S 4 f.; vgl. zur Schätzung auch Stadlöder, in Schieder/Happ, Bayerisches Kommunalabgabengesetz , Stand Dezember 2018, Erl. Art. 8 Rn. 18 m.w.N sowie Gawel, Kommunale Steuer-Zeitschrift 2010, S. 201 <203>).

Dies hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof inzwischen bestätigt und klargestellt, dass keine Möglichkeit für einen Einrichtungsbetreiber bestehe, "sich der gesetzlichen Ausgleichsverpflichtung im Falle einer Überdeckung auf Dauer sanktionslos zu entziehen". Denn treffe eine Schätzung nicht zu, so ergäben sich wiederum Kostenüber- oder -unterdeckungen, die im dann nachfolgenden Kalkulationszeitraum auszugleichen seien; auch die Einhaltung dieser Verpflichtung sei gerichtlich voll überprüfbar (Beschluss vom 30. September 2019 - 4 CE 19.93 - juris Rn. 13).

3. Da sich das Urteil nicht aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 144 Abs. 4 VwGO ), ist das Verfahren zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (§ 137 Abs. 1 , § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO ). Der Verwaltungsgerichtshof wird - vorbehaltlich des Ergebnisses einer Neubestimmung der Fehlertoleranzgrenze (s.o. unter 1 c) bb) (3)) - die im angefochtenen Urteil aufgeworfene, aber offengelassene Frage, ob "die Praxis des Antragsgegners, die zum Ausgleich der aufgelaufenen Kostenüberdeckung in Ansatz gebrachte Sonderrücklage Gebühren (...) anhand kameraler Grundsätze zu ermitteln und - damit zusammenhängend - eine doppelte Refinanzierung der Investitionskosten zu erzielen", gegen die Vorgaben des Kommunalabgabenrechts verstößt (vgl. UA Rn. 27), zu beantworten haben.

Offen bleiben kann, ob der Verwaltungsgerichtshof im Zusammenhang mit den wiederholt angeforderten Ausschreibungs- und Vertragsunterlagen des Antragsgegners, die erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung und sogar nach der Hinterlegung des Tenors auf der Geschäftsstelle bei Gericht eingegangen sind, einen Verfahrensfehler begangen hat.

Beschluss:

Der Streitwert wird für das Revisionsverfahren auf 10 000 € festgesetzt (§ 39 Abs. 1 , § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1 GKG ).

Verkündet am 27. November 2019

Vorinstanz: VGH Bayern, vom 17.08.2017 - Vorinstanzaktenzeichen 4 N 15.1685
Fundstellen
BVerwGE 167, 117
DÖV 2020, 530
NVwZ 2020, 560