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BVerwG - Entscheidung vom 05.12.2019

4 B 22.19

Normen:
VwGO § 108
VwGO § 133 Abs. 3 S. 3

BVerwG, Beschluss vom 05.12.2019 - Aktenzeichen 4 B 22.19

DRsp Nr. 2020/1138

Anforderungen an die Darlegung einer Divergenz für die Revisionszulassung; Wirkungen des Gebots der Rücksichtnahme im Anwendungsbereich verschiedener Rechtsvorschriften; Berücksichtigung von Vorbelastungen zur Bestimmung der Zumutbarkeit von Immissionen; Voraussetzungen einer Überraschungsentscheidung

Die bloße Möglichkeit einer Abweichung, die nicht im Revisionsverfahren, sondern erst im Wege der weiteren Sachaufklärung festgestellt werden könnte, genügt nicht für eine Revisionszulassung wegen Divergenz nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO .

Tenor

Nachdem der Beigeladene seine Nichtzulassungsbeschwerde zurückgenommen hat, wird das Beschwerdeverfahren insoweit eingestellt.

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. Februar 2019 wird zurückgewiesen.

Die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens und die außergerichtlichen Kosten des Klägers tragen die Beklagte zu 2/3 und der Beigeladene zu 1/3. Im Übrigen trägt jeder seine außergerichtlichen Kosten selbst.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15 000 € festgesetzt.

Normenkette:

VwGO § 108 ; VwGO § 133 Abs. 3 S. 3;

Gründe

1. Der Beigeladene hat seine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. Februar 2019 mit Schriftsatz vom 9. Juli 2019 zurückgenommen. Das Beschwerdeverfahren ist deshalb in entsprechender Anwendung der § 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.

2. Die auf die Zulassungsgründe nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 und 3 VwGO gestützte Beschwerde der Beklagten bleibt ohne Erfolg.

a) Eine Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ) ist nicht nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dargelegt. Hierzu ist erforderlich, dass die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz des revisiblen Rechts benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (BVerwG, Beschlüsse vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 und vom 13. Juli 1999 - 8 B 166.99 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 2 VwGO Nr. 9).

Die Beklagte macht eine Abweichung vom Senatsurteil vom 27. Juni 2017 - 4 C 3.16 - (BVerwGE 159, 187 ) geltend. Sie entnimmt dieser Entscheidung den Rechtssatz, dass zur Bestimmung der Zumutbarkeit von Immissionen auch etwaige Vorbelastungen schutzmindernd zu berücksichtigen seien, die durch eine schon bestehende emittierende Nutzung in einem Gebiet vorhanden sind. Im Umfang dieser Vorbelastung seien Immissionen zumutbar, auch wenn sie sonst in einem vergleichbaren Gebiet nicht hinnehmbar wären (a.a.O. Rn. 13). Abweichend von dieser Rechtsprechung sei das Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen, dass ein Vorhaben bereits dann das Gebot der Rücksichtnahme verletze, wenn die Baugenehmigung nicht hinreichend sicherstelle, dass die durch Richtlinien vorgegebenen Immissionsrichtwerte nicht überschritten werden.

Mit diesem Vortrag ist eine Divergenz nicht dargelegt. Denn die gegenübergestellten Entscheidungen sind nicht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift ergangen. Das Senatsurteil vom 27. Juni 2017 (a.a.O.) hatte die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit eines Außenbereichsvorhabens nach § 35 BauGB zum Gegenstand, während das vom Oberverwaltungsgericht zu beurteilende Vorhaben des Beigeladenen an § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB zu messen ist. Dass bei beiden Normen das Gebot der Rücksichtnahme zu beachten ist, genügt nicht für die Annahme einer Divergenz. Denn das Gebot der Rücksichtnahme ist kein generelles Rechtsprinzip des öffentlichen Baurechts und verkörpert auch keine allgemeine Härteregelung, die über den speziellen Vorschriften des Städtebaurechts steht. Es ist vielmehr Bestandteil einzelner gesetzlicher Vorschriften des Baurechts und als solches etwa in den Tatbestandsmerkmalen des § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 und § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB enthalten (BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2017 - 4 C 3.16 - BVerwGE 159, 187 Rn. 10).

Im Übrigen hat das Oberverwaltungsgericht keine Feststellungen zur Vorbelastung getroffen. Es ist damit offen, ob das angegriffene Urteil auf der geltend gemachten Abweichung beruht. Die bloße Möglichkeit einer Abweichung, die nicht im Revisionsverfahren, sondern erst im Wege der weiteren Sachaufklärung festgestellt werden könnte, genügt aber nicht für eine Revisionszulassung nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. April 1971 - 4 B 61.70 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 76 S. 22).

b) Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ) lassen sich dem Beschwerdevortrag ebenfalls nicht entnehmen.

Nach Auffassung der Beklagten hätte das Oberverwaltungsgericht die Beteiligten zur Vermeidung einer unzulässigen Überraschungsentscheidung darüber aufklären müssen, dass und warum es von seiner in anderen Verfahren vertretenen Rechtsauffassung abweichen will. Damit ist eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht dargelegt. Eine Entscheidung stellt eine unzulässige Überraschungsentscheidung dar, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Mai 1983 - 4 C 20.83 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 135 S. 24 und Beschlüsse vom 23. Dezember 1992 - 5 B 80.91 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 241 S. 91 sowie vom 13. Januar 2014 - 4 BN 37.13 - juris Rn. 11). Das Gericht muss die Beteiligten aber grundsätzlich nicht vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Streitstoffes hinweisen, weil sich die tatsächliche und rechtliche Würdigung regelmäßig erst auf Grund der abschließenden Beratung nach der mündlichen Verhandlung ergibt (BVerwG, Urteil vom 31. Juli 2013 - 6 C 9.12 - NVwZ 2013, 1614 Rn. 38 m.w.N.). Das gilt auch dann, wenn sich das Gericht zuvor bereits in Eilverfahren zu den entscheidungserheblichen Fragen geäußert hat. Denn das Gericht entscheidet in der Hauptsache anhand anderer Prüfungsmaßstäbe und gegebenenfalls auch in anderer Besetzung ohne Bindung an seine vorangegangene Beurteilung in Eilverfahren (BVerwG, Beschluss vom 13. Januar 2014 - 4 BN 37.13 - juris Rn. 12 m.w.N.). Erst recht gilt es, wenn die Entscheidungen in Verfahren anderer Beteiligter ergangen sind, die sich in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht von dem Verfahren des Klägers unterscheiden können.

Gemessen hieran ist eine unzulässige Überraschungsentscheidung nicht dargetan. Dass das Oberverwaltungsgericht entscheidungserhebliche rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte nicht erörtert hätte, behauptet die Beklagte selbst nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und Abs. 3 , § 155 Abs. 2 , § 159 Satz 1 VwGO , § 100 ZPO , die Streitwertfestsetzung stützt sich auf § 47 Abs. 1 und 3 , § 52 Abs. 1 GKG .

Vorinstanz: OVG Nordrhein-Westfalen, vom 14.02.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 2 A 2584/14