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BSG - Entscheidung vom 30.07.2019

B 13 R 180/18 B

Normen:
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3

BSG, Beschluss vom 30.07.2019 - Aktenzeichen B 13 R 180/18 B

DRsp Nr. 2019/13144

Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren Voraussetzungen einer Überraschungsentscheidung Formgerechte Rüge einer Überraschungsentscheidung

1. Eine Überraschungsentscheidung liegt nur dann vor, wenn sich das Gericht ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte.2. Eine entsprechende Rüge ist nur dann schlüssig bezeichnet, wenn im Einzelnen vorgetragen wird, aus welchen Gründen auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter aufgrund des bisherigen Prozessverlaufs nicht damit rechnen musste, dass das Gericht seine Entscheidung auf einen bestimmten Gesichtspunkt stützen wird.

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 7. März 2018 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Normenkette:

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 ;

Gründe:

I

Im Streit steht ein Kostenerstattungsbegehren des Klägers für eine 2008 durchgeführte und "selbstbeschaffte" Rehabilitationsmaßnahme - über einen bereits anerkannten Betrag hinaus. Im erstinstanzlichen Verfahren hat der Kläger teilweise obsiegt (Urteil vom 11.1.2011). Das LSG hat das Urteil des SG auf die Berufung der Beklagten aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen (Urteil vom 7.3.2018).

Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde an das BSG . Er macht Divergenz zwischen der Entscheidung des LSG und der herrschenden Rechtsprechung und Literatur geltend (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG ). Ferner rügt er Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG ) in der Gestalt des Verstoßes des LSG gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze bei der Würdigung der Ermessensgesichtspunkte der Beklagten sowie eine Verletzung rechtlichen Gehörs.

II

Die Beschwerde des Klägers ist als unzulässig zu verwerfen.

Das BSG darf gemäß § 160 Abs 2 SGG die Revision gegen eine Entscheidung des LSG nur dann zulassen, wenn

- die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1) oder

- die angefochtene Entscheidung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht (Nr 2) oder

- bestimmte Verfahrensmängel geltend gemacht werden (Nr 3).

Dass der Kläger die Entscheidung des LSG inhaltlich für unrichtig hält, kann dagegen nicht zur Zulassung der Revision führen (stRspr, vgl zB BSG Beschluss vom 25.7.2011 - B 12 KR 114/10 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 22 RdNr 4; BVerfG Beschluss vom 6.5.2010 - 1 BvR 96/10 - SozR 4-1500 § 178a Nr 11 RdNr 28 mwN).

Der Kläger hat in der Begründung des Rechtsmittels entgegen § 160a Abs 2 S 3 SGG keinen der von ihm benannten Zulassungsgründe hinreichend dargelegt oder bezeichnet.

1. Die Darlegungen des Klägers in der Beschwerdeschrift zum Zulassungsgrund der Divergenz entsprechen nicht den Anforderungen an die Begründung einer derartigen Rüge.

Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG bedeutet Widerspruch im Rechtssatz, also das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die zwei Urteilen zugrunde gelegt sind. Zur ordnungsgemäßen Darlegung einer Divergenz sind ein oder mehrere entscheidungstragende Rechtssätze aus dem Berufungsurteil und zu demselben Gegenstand gemachte und fortbestehende aktuelle abstrakte Aussagen aus einer Entscheidung des BSG , des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG einander gegenüberzustellen; zudem ist näher zu begründen, weshalb diese nicht miteinander vereinbar sind und inwiefern die Entscheidung des LSG auf der Abweichung beruht (stRspr, vgl BSG Beschluss vom 29.3.2007 - B 9a VJ 5/06 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 17; BSG Beschluss vom 19.7.2012 - B 1 KR 65/11 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 34 RdNr 21). Nicht ausreichend ist es hingegen, wenn die fehlerhafte Anwendung eines als solchen nicht in Frage gestellten höchstrichterlichen Rechtssatzes durch das Berufungsgericht geltend gemacht wird (bloße Subsumtionsrüge), denn nicht die Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall, sondern nur eine Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen ermöglicht die Zulassung der Revision wegen Divergenz (vgl BSG Beschluss vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 72 f; BSG Beschluss vom 24.4.2015 - B 13 R 37/15 B - Juris RdNr 6).

Der Kläger bezeichnet als Rechtssatz des LSG "Die Erstattung kommt aber nur in dem Umfang in Betracht, in dem Leistungen vom Rehabilitationsträger bei rechtmäßiger Entscheidung hätten erbracht werden müssen." Dabei beziehe sich das LSG auf die Leistungserbringung nach § 31 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB VI aF und beschränke den Umfang des Erstattungsanspruchs auf die in § 31 Abs 3 SGB VI aF vorgesehenen "7,5% der Haushaltsansätze im Kalenderjahr". Das LSG habe dazu in Abgrenzung zum SG ausgeführt, eine Regel, wonach die dem Reha-Träger bei rechtzeitiger Leistungserbringung entstandenen Kosten die Obergrenze für die Kostenerstattung bildeten, da die Vorschrift des § 15 SGB IX aF sonst wirkungslos wäre, würde diese gesetzlich vorgesehene Kostendeckelung ignorieren. Nach den Darlegungen des Klägers in der Beschwerdebegründung steht diese Einschränkung der Erstattungsleistung durch das LSG der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur zur Höhe des Erstattungsanspruchs nach § 15 SGB IX aF entgegen. Hieraus ergebe sich auch die Abweichung von der Rechtsprechung des BSG . Zum Beleg benennt er alsdann zahlreiche Fundstellen für Entscheidungen des BSG und Literatur, die seine Auffassung bestätigten. Damit hat er jedoch zumindest keinen abstrakten Rechtssatz aus einer oder mehreren Entscheidungen des BSG herausgearbeitet, dessen Aussage den eingangs benannten Ausführungen des LSG entgegenstehen könnten. Er behauptet lediglich, dass das LSG in seinem Urteil eine andere Auffassung als die "herrschende Meinung" vertrete, ohne darzulegen, von welcher abstrakten Aussage aus einer Entscheidung des BSG die benannten Sätze des LSG abweichen sollen. Letztlich bestreitet er unter Zitierung der Entscheidungen und Literaturfundstellen auch lediglich die materiell-rechtliche Richtigkeit der Urteilsgründe des LSG. Dies belegt er durch Rückgriff auf die Gesetzesbegründung und den Sinn und Zweck des § 15 SGB IX aF sowie die Darlegung, dass die Beklagte sich widersprüchlich erhalten habe, um schlussendlich zu dem Ergebnis zu gelangen, der Umfang der entstandenen Kosten könne ihm (dem Kläger) nicht vorgeworfen werden.

2. Auch die gerügten Verfahrensfehler legt er nicht mit der erforderlichen Begründung dar.

a) Soweit er die seiner Ansicht nach fehlerhafte Einschätzung der Ermessensausübung der Beklagten durch das LSG rügt und darlegt, eine andere Entscheidung als die Ermessensreduzierung auf Null wäre in dem zu entscheidenden Fall gar nicht möglich gewesen, rügt er keinen Fehler des Verfahrens, sondern der Anwendung materiellen Rechts. Dies stellt keinen Verfahrensfehler iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG dar. Denn zu den Verfahrensmängeln zählen nur Verstöße gegen das Prozessrecht einschließlich der Vorschriften, auf die das SGG unmittelbar oder mittelbar verweist. Rügefähig sind folglich nur Fehler, die dem Gericht auf dem Weg zu seiner Entscheidung unterlaufen sind (error in procedendo; vgl BSG Beschluss vom 26.1.2012 - B 5 R 334/11 B - Juris RdNr 16 mwN; s auch BSG Beschluss vom 21.11.2018 - B 13 R 280/17 B - Juris RdNr 5).

b) Auch seine Darlegungen zur Rüge einer Verletzung des rechtlichen Gehörs genügen nicht den Anforderungen an die hinreichende Bezeichnung eines Verfahrensmangels.

Der Kläger sieht sein Recht auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG ; Art 103 Abs 1 GG ) dadurch verletzt, dass das LSG sich im angegriffenen Urteil - ohne dies vorher anzukündigen - auf die Argumentation der Beklagten zur Berechnung der Leistung in dem Bescheid vom 27.1.2012 gestützt habe.

Damit hat der Kläger eine Gehörsverletzung aufgrund einer Überraschungsentscheidung entgegen § 160a Abs 2 S 3 SGG nicht hinreichend schlüssig und nachvollziehbar dargebracht. Eine allgemeine Verpflichtung des Gerichts, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Tatsachen- und Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern, gibt es nicht. Sie wird weder durch den allgemeinen Anspruch auf rechtliches Gehör aus § 62 SGG bzw Art 103 Abs 1 GG noch durch die Regelungen zu richterlichen Hinweispflichten (§ 106 Abs 1 bzw § 112 Abs 2 S 2 SGG ) begründet. Denn die tatsächliche und rechtliche Würdigung ergibt sich regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung (vgl BSG Beschluss vom 11.4.2019 - B 13 R 74/18 B; BSG Beschluss vom 24.1.2018 - B 13 R 377/15 B - Juris RdNr 19; BSG Urteil vom 17.4.2013 - B 9 SB 3/12 R - Juris RdNr 44; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 590 mwN).

Von einer Überraschungsentscheidung kann nur ausgegangen werden, wenn sich das Gericht ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (stRspr, vgl zB BVerfG [Kammer] Beschluss vom 5.4.2012 - 2 BvR 2126/11 - NJW 2012, 2262 - Juris RdNr 18 mwN). Die Rüge des Verfahrensmangels einer Überraschungsentscheidung ist deshalb nur dann schlüssig bezeichnet, wenn im Einzelnen vorgetragen wird, aus welchen Gründen auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter aufgrund des bisherigen Prozessverlaufs nicht damit rechnen musste, dass das Gericht seine Entscheidung auf einen bestimmten Gesichtspunkt stützt. Daran fehlt es hier.

Zwar führt der Kläger aus, dass der Bescheid der Beklagten vom 27.1.2012 im ganzen Verfahren keine Rolle gespielt habe. Weder legt er jedoch dar, wieso dies nicht der Fall war, noch belegt er dessen Bedeutungslosigkeit. Denn er bringt - insoweit wirkt sich die fehlende zusammenhängende Sachverhaltsdarstellung aus - nicht dar, dass dieser Bescheid nicht streitgegenständlich, also angefochten war. Zumindest erwähnt er ihn in der fragmentarischen Darstellung des Verfahrensverlaufs auf eine Weise, die nahelegt, er habe zur Prüfung des LSG gestanden und beschreibt auch seinen Inhalt. Somit wird zum einen deutlich, dass der Kläger ihn und die dort von der Beklagten vertretene Rechtsauffassung zur Kenntnis genommen haben muss. Aus welchem Grunde er sodann in seinem rechtlichen Gehör verletzt worden ist und er als rechtskundig vertretener Beteiligter nicht damit rechnen musste, dass das LSG sich mit der dortigen Argumentation auseinander zu setzen haben werde, erschließt sich aus den Ausführungen der Beschwerdebegründung nicht. Dass diese Auseinandersetzung auch dazu führen kann, der von der Beklagten vertretenen Rechtsauffassung zu folgen, bedarf keines besonderen Hinweises des LSG. Es genügt auch nicht, wenn der Kläger vorbringt, das SG habe eine andere Auffassung vertreten und die Beklagte habe ihre Auffassung aus dem benannten Bescheid in der Berufungserwiderung nicht wiederholt, um davon ausgehen zu können, dass das LSG verpflichtet gewesen sein könnte, auf eine ins Verfahren eingeführte Wertung der Rechtslage als eine neue hinzuweisen, um dem Kläger die Möglichkeit zur Wahrung des rechtlichen Gehörs zu verschaffen. Insoweit wird in der Beschwerdeschrift keine besondere Situation beschrieben, die zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung ausnahmsweise eines vorherigen Hinweises des Gerichts auf seine Rechtsauffassung geboten hätte. Im Kern rügt der Kläger auch hier im Übrigen die seiner Auffassung nach inhaltliche Unrichtigkeit der Entscheidung des LSG, wenn er darbringt, "... die von der Beklagten vorgelegten Zahlen der Berechnung nach § 31 Abs 3 SGB VI aF (sind) streitig gewesen und fußen sowieso auf dem falschen Berechnungsjahr .... Daher durfte diese Berechnung gar nicht dem LSG Urteil zu Grunde gelegt werden".

3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG ).

Die Verwerfung der unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG .

Vorinstanz: LSG Rheinland-Pfalz, vom 07.03.2018 - Vorinstanzaktenzeichen 4 R 278/15
Vorinstanz: SG Speyer, vom 12.02.2015 - Vorinstanzaktenzeichen 16 R 785/12