BSG, Beschluss vom 30.04.2019 - Aktenzeichen B 9 SB 76/18 B
Feststellung eines höheren Grades der Behinderung Grundsatzrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren Keine Zuerkennung eines GdB wegen Adipositas per magna Berücksichtigung von Folge- und Begleitschäden
1. Eine Adipositas allein bedingt keinen GdB, deren Folge- und Begleitschäden können aber dies gleichwohl.2. Die funktionellen Auswirkungen einer Adipositas per magna sind nicht nur bei Einschätzung eines aus anderen Gesundheitsstörungen folgenden GdB (erhöhend) zu berücksichtigen, sondern auch insoweit, als sie zu einer für die Zuerkennung des Merkzeichens G relevanten erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen.3. Ob eine Erhöhung des GdB und/oder die Zuerkennung des Merkzeichens G bei Adipositas per magna in Betracht kommt, ist eine Frage des Einzelfalls.
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 20. November 2018 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I
Der Kläger begehrt in der Hauptsache die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 anstelle von zuletzt 30. Diesen Anspruch hat das LSG verneint (Urteil vom 20.11.2018). Für die bestehende Adipositas allein sei nach Teil B 15.3 der Anl zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung ( VersMedV ) kein GdB zu vergeben. Nur Folge- und Begleitschäden (insbesondere am kardiopulmonalen System oder am Stütz- und Bewegungsapparat) könnten die Annahme eines GdB begründen. Gleiches gelte für die besonderen funktionalen Auswirkungen einer Adipositas per magna. Die Einzel-GdB-Werte betrügen für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule 30, für die Funktionsbehinderung der Schultergelenke 10, für das Schlafapnoe-Syndrom 20 und für die Hypertonie 10. Die GdB-Werte für das Schlafapnoe-Syndrom sowie für die Schultergelenke und die Hypertonie könnten den im Vordergrund stehenden GdB von 30 für den Wirbelsäulenschaden nicht erhöhen.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er macht als Zulassungsgrund die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.
II
Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig. Seine Begründung vom 3.3.2019 genügt nicht der gesetzlich vorgeschriebenen Form, weil der von ihm allein geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG ) nicht in der hierfür erforderlichen Weise dargelegt worden ist (§ 160a Abs 2 S 3 SGG ).
Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG , wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss daher, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (zum Ganzen vgl Senatsbeschluss vom 31.1.2018 - B 9 V 63/17 B - Juris RdNr 6; Senatsbeschluss vom 30.11.2017 - B 9 V 35/17 B - Juris RdNr 4). Diese Anforderungen erfüllt die Beschwerdebegründung nicht.
Der Kläger hält die Fragen für grundsätzlich bedeutsam,
"ob einer Entscheidung des EuGH eine Bindungswirkung zukommt, welche die VersMedV außer Kraft setzt,
und ob bei der Beurteilung, ob krankhafte Adipositas einen GdB bedingt, eine Entscheidung im Einzelfall erforderlich ist."
Der Senat lässt dahingestellt, ob der Kläger damit überhaupt hinreichend bestimmte Rechtsfragen iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG bezeichnet hat (zu den Anforderungen BSG Beschluss vom 17.1.2019 - B 13 R 180/17 B - Juris RdNr 8). Soweit der Kläger die Frage nach der Bindungswirkung einer Entscheidung des EuGH aufwirft, weist er zwar auf ein Urteil des EuGH vom 18.12.2014 ( C-354/13 - Juris) hin. Er setzt sich jedoch nicht mit dem Inhalt dieser Entscheidung auseinander und zeigt hiervon ausgehend nicht auf, ob und inwieweit ihr überhaupt eine "Bindungswirkung" zukommen kann, welche die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" der VersMedV als Maßstab für die Feststellung des GdB "außer Kraft setzen" kann.
Anlass hierzu hätte schon deshalb bestanden, weil die vom Kläger zitierte Vorabentscheidung des EuGH im Rahmen eines Rechtstreits in Dänemark wegen einer Kündigung erging. Der Kläger sah in der Kündigung eine Diskriminierung wegen seines Übergewichts. Hierzu hat der EuGH in seiner Entscheidung vom 18.12.2014 zunächst klargestellt, dass weder das Unionsrecht noch das abgeleitete Unionsrecht ein allgemeines Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas als solcher in Beschäftigung und Beruf enthalte. Zu den Grundrechten als integraler Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts gehöre ua das allgemeine Diskriminierungsverbot. Weder der Vertrag über die Europäische Union noch der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union ( AEUV ) enthielten aber eine Bestimmung, die eine Diskriminierung wegen Adipositas als solche verbiete. Ebenso wenig sei Adipositas in der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl EG Nr L 303, 16) als Diskriminierungsgrund aufgeführt. Nach der Rechtsprechung des EuGH dürfe der Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG auch nicht in entsprechender Anwendung über die Diskriminierungen wegen der in Art 1 der Richtlinie abschließend aufgezählten Gründe hinaus ausgedehnt werden (aaO, Juris RdNr 32 - 36).
Die Richtlinie 2000/78/EG sei aber dahin auszulegen, dass die Adipositas eines Arbeitnehmers eine "Behinderung" iS der Richtlinie darstelle, wenn sie eine Einschränkung mit sich bringe, die ua auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen von Dauer zurückzuführen sei, die ihn in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern könne. Der Begriff "Behinderung" sei so zu verstehen, dass er nicht nur die Unmöglichkeit erfasse, eine berufliche Tätigkeit auszuüben, sondern auch eine Beeinträchtigung der Ausübung einer solchen Tätigkeit. Eine andere Auslegung sei mit dem Ziel der Richtlinie 2000/78/EG unvereinbar, die insbesondere Menschen mit Behinderung Zugang zur Beschäftigung oder die Ausübung eines Berufs ermöglichen solle. Für den Anwendungsbereich der Richtlinie je nach Ursache der Behinderung zu differenzieren, würde außerdem ihrem Ziel, die Gleichbehandlung zu verwirklichen, widersprechen. Der Begriff "Behinderung" iS der Richtlinie 2000/78/EG hänge nicht davon ab, inwieweit der Betreffende gegebenenfalls zum Auftreten seiner Behinderung beigetragen habe. Die Adipositas als solche sei allerdings keine "Behinderung" iS der Richtlinie 2000/78/EG , weil sie ihrem Wesen nach nicht zwangsläufig eine der beschriebenen Einschränkungen zur Folge habe. Die Adipositas eines Arbeitnehmers falle aber unter den Begriff "Behinderung", wenn der Arbeitnehmer aufgrund seiner Adipositas an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, gehindert wäre, und zwar aufgrund eingeschränkter Mobilität oder dem Auftreten von Krankheitsbildern, die ihn an der Verrichtung seiner Arbeit hinderten oder zu einer Beeinträchtigung der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit führten (aaO, Juris RdNr 58 - 64).
Selbst wenn nach dieser EuGH-Entscheidung eine Adipositas eine Behinderung iS des § 1 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz darstellen könnte (so Lingscheid, jurisPR-ArbR 6/2015 Anm 2 D), zeigt der Kläger nicht auf, ob, aus welchem Grund und inwieweit dieses im Vorabentscheidungsverfahren nach Art 267 AEUV ergangene Urteil des EuGH zur Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG überhaupt eine "Bindungswirkung" für Gerichte über die dort konkret beantworteten vier Fragen hinaus in dem Sinne entfalten kann, welche die in der Anl 2 zur VersMedV enthaltenen "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" und hier insbesondere die Regelungen zur GdB-Bemessung bei Adipositas unter B 15.3 "außer Kraft setzen" könnten. Substantiierte Ausführungen hierzu enthält die Beschwerdebegründung nicht.
Soweit der Kläger die Frage aufwirft, ob die Beurteilung eines GdB bei krankhafter Adipositas eine Einzelfallentscheidung erfordere, hat er deren Klärungsbedürftigkeit nicht aufgezeigt. Denn er setzt sich schon nicht mit dem Regelungsgehalt der einschlägigen Bestimmung in B 15.3 der Anl 2 zur VersMedV auseinander. Danach bedingt die Adipositas allein zwar keinen GdB. Deren Folgen- und Begleitschäden können aber die Annahme eines GdB begründen. Gleiches gilt für die besonderen funktionellen Auswirkungen einer Adipositas per magna. In diesem Zusammenhang sei zudem darauf hingewiesen, dass der Senat mit Urteil vom 24.4.2008 (B 9/9a SB 7/06 R - SozR 4-3250 § 146 Nr 1) entschieden hat, dass die funktionellen Auswirkungen einer Adipositas per magna nicht nur bei Einschätzung eines aus anderen Gesundheitsstörungen folgenden GdB (erhöhend) zu berücksichtigen sind, sondern auch insoweit, als sie zu einer für die Zuerkennung des Merkzeichens G relevanten erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen (aaO, RdNr 14). Ob nach diesen Maßstäben eine Erhöhung des GdB und/oder die Zuerkennung des Merkzeichens G bei einem stark übergewichtigen Antragsteller in Betracht kommt, kann stets nur im Einzelfall beurteilt werden.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG ).
Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG .