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BSG - Entscheidung vom 30.10.2019

B 14 AS 164/19 B

Normen:
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3
SGG § 62
GG Art. 103 Abs. 1

BSG, Beschluss vom 30.10.2019 - Aktenzeichen B 14 AS 164/19 B

DRsp Nr. 2020/1501

Leistungen nach dem SGB II Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren Verbot von Überraschungsentscheidungen

Die Beschwerden der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 12. März 2019 - L 14 AS 504/16 - werden zurückgewiesen.

Die Anträge der Kläger zu 1. bis 4., ihnen für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde vor dem Bundessozialgericht Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwältin H. beizuordnen, werden abgelehnt.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Normenkette:

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 ; SGG § 62 ; GG Art. 103 Abs. 1 ;

Gründe:

I

Die Kläger begehren vom beklagten Jobcenter höhere Leistungen nach dem SGB II . Das angerufene SG hat die Klagen abgewiesen. Das LSG - 10. Senat - hat mit Beschluss vom 24.7.2017 - L 10 AS 504/16 - ihre Berufungen zurückgewiesen. Auf die Nichtzulassungsbeschwerden der Kläger hat das BSG mit Beschluss vom 25.4.2018 den Beschluss des LSG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Der 14. Senat des LSG hat mit Beschluss vom 12.3.2019 - L 14 AS 504/16 - die Berufungen der Kläger erneut zurückgewiesen.

In ihren gegen die Nichtzulassung der Revision in der Entscheidung des LSG gerichteten Beschwerden rügen die Kläger als Verfahrensmangel einen Entzug des gesetzlichen Richters sowie einen Verstoß gegen ihren Anspruch auf rechtliches Gehör und erheben eine Grundsatzrüge.

Das BSG hat eine Auskunft der Präsidentin des LSG mit den Geschäftsverteilungsplänen der Jahre 2018 und 2019 als Anlage eingeholt. Im Rahmen ihrer Stellungnahmen zu dieser Auskunft haben die Kläger zu 1. bis 4. PKH und die Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigen beantragt.

II

Die Beschwerden der Kläger sind zurückzuweisen, weil sie teils unzulässig und teils unbegründet sind.

Die Revision kann nur aus den in § 160 Abs 2 SGG genannten Gründen - grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, Abweichung (Divergenz), Verfahrensmangel - zugelassen werden. In der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde muss die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des LSG abweicht oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG ). Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG erfordern diese Vorschriften, dass der Zulassungsgrund schlüssig dargetan wird (vgl nur Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 7. Aufl 2016, IX, RdNr 177 ff mwN). Andernfalls ist die Beschwerde schon als unzulässig zu verwerfen.

1. Die Rüge, die Kläger seien ihrem gesetzlichen Richter entzogen worden, weil der 14. Senat des LSG über ihre Berufungen nach der Zurückverweisung der Sache entschieden habe, ist unbegründet.

Die Zuständigkeit der Spruchkörper innerhalb eines Gerichts im Hinblick auf die bei diesem Gericht anhängigen Verfahren ergibt sich aus dem vom Präsidium des Gerichts zu beschließenden Geschäftsverteilungsplan (GVPl) des Gerichts (vgl § 202 Satz 1 SGG iVm § 21e GVG ).

Der GVPl des LSG für das Jahr 2018 regelt, soweit vorliegend relevant:

"III. Verteilung der Geschäfte auf die Senate

… 10. Senat 1. Streitverfahren mit dem Registerzeichen "AS" mit den Endziffern 2, und 3, soweit sie nicht wegen Sachzusammenhangs oder früherer Befassung dem 8. Senat oder 14. Senat zugewiesen sind. 2. Streitverfahren mit dem Registerzeichen "AS" mit der Endziffer 1, die nach dem 31. Dezember 2011 eingegangen sind, soweit die Verfahren nicht wegen Sachzusammenhangs oder früherer Befassung dem 8. Senat oder 14. Senat zugewiesen sind.

… 14. Senat 1. Streitverfahren mit dem Registerzeichen "AS" mit den Endziffern 4, 5 und 6, soweit sie nicht wegen Sachzusammenhangs oder früherer Befassung dem 8. Senat oder 10. Senat zugewiesen sind. …

IV. Allgemeine Bestimmungen zur Zuordnung von Rechtstreitigkeiten nach III. sowie der Geschäftsverteilung nach III. vorgehende Sondervorschriften (Sachzusammenhang und frühere Befassung)

1. Soweit für ein Registerzeichen mehrere Senate zuständig sind, fallen Verfahren, zu denen bereits ein Verfahren mit identischen Hauptbeteiligten anhängig ist, unabhängig von der Endziffer in die Zuständigkeit des Senates, der für das zuerst anhängig gewordene Verfahren zuständig ist. Maßgeblich für die Beteiligtenidentität ist das Rubrum der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung; spätere Beteiligtenwechsel berühren die Zuständigkeit des Senates nicht mehr. …

2. Soweit für ein Registerzeichen mehrere Senate zuständig sind, werden Verfahren, die bereits bei einem Senat anhängig waren und wiedereingetragen werden, unabhängig von der Endziffer dem Senat zugewiesen, der für die frühere Endziffer zuständig ist, es sei denn, die Sachzusammenhangsklausel unter Nr. 1 führt zur Zuständigkeit eines anderen Senats. Bei einem Übergang der Ursprungsendziffer auf einen anderen Senat bestimmt diese nicht nur für zukünftig wiederaufgenommene Verfahren, sondern auch für bereits wiederaufgenommene Verfahren die Zuständigkeit. …"

Der GVPl des LSG für das Jahr 2019 enthält dieselben Regelungen, abgesehen von der Formulierung hinsichtlich der Zuständigkeit des 10. Senats, diese lautet: "1. Streitverfahren mit dem Registerzeichen "AS" mit den Endziffern 1, 2 und 3, soweit sie nicht wegen Sachzusammenhangs oder früherer Befassung dem 8. Senat oder 14. Senat zugewiesen sind."

Ausgehend von diesen Regelungen ist die Zuständigkeit des 14. Senats des LSG für die ursprünglich im 10. Senat des LSG unter dem Aktenzeichen - L 10 AS 504/16 - anhängig gewesene Sache nicht zu beanstanden. Denn der vom 10. Senat des LSG in dieser Sache ergangene Beschluss vom 24.7.2017 wurde vom BSG mit Beschluss vom 25.4.2018 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.

Im Jahr 2018 war nach den dargestellten Regelungen des GVPl des LSG für Verfahren mit der Endziffer 4 nicht mehr der 10., sondern der 14. Senat zuständig.

Nach den allgemeinen Bestimmungen des GVPl unter IV Nr 2 im ersten Satz umfasste diese Zuständigkeit nicht nur neueingehende Verfahren, sondern auch Verfahren, die bereits bei einem Senat anhängig waren und wiedereingetragen werden - unabhängig von der jetzigen, möglicherweise anderen Endziffer. Diese in dem GVPl eines Gerichts nicht unübliche Regelung über die Zuständigkeitswahrung wird im GVPl des LSG wie folgt modifziert:

Es gibt einen Vorrang der Sachzusammenhangsklausel am Ende des Satzes 1 der Nr 2, die vorliegend nicht einschlägig ist.

In Satz 2 der Nr 2 wird angeordnet: Bei einem Übergang der Ursprungsendziffer auf einen anderen Senat bestimmt diese die Zuständigkeit nicht nur für zukünftig wiederaufgenommene Verfahren, sondern auch für bereits wiederaufgenommene Verfahren.

Diese letzte Modifikation kann dazu führen, dass für ein Verfahren mit einer bestimmten Endziffer X, das von dem damals zuständigen Senat entschieden wurde, wenn es am LSG wieder anhängig wird, zB nach einer Zurückverweisung seitens des BSG , nunmehr ein anderer Senat zuständig wird, wenn die Zuständigkeit für diese Endziffer X im Laufe der Zwischenzeit von dem ehemals zuständigen Senat an einen anderen Senat gewechselt hat.

Dies ist vorliegend geschehen, weil der 14. Senat erst zum 1.1.2018 eröffnet und ihm die Zuständigkeit für die Verfahren mit der Endziffer 4 des Registerzeichens "AS" ab diesem Zeitpunkt übertragen wurde, wie sich aus dem Antwortschreiben der Präsidentin des LSG auf die Anfrage des Senats vom 19.7.2019 ergibt.

Aus den Regelungen über die Zuständigkeiten der einzelnen Senate im GVPl des LSG unter III. folgt nichts anderes. Die in diesen Regelungen enthaltene Wendung "wegen Sachzusammenhangs oder früherer Befassung" bezieht sich auf die dargestellten Regelungen in den allgemeinen Bestimmungen des GVPl unter IV. Die Wendung und ihre Schlüsselbegriffe "Sachzusammenhang" und "frühere Befassung" sind ohne die allgemeinen Bestimmungen nicht verständlich, weil unklar bleibt, wann und unter welchen Voraussetzungen ein Sachzusammenhang oder eine frühere Befassung vorliegen. Demgemäß stehen beide Regelungen entgegen der Ansicht der Kläger in ihrem am 16.9.2019 beim BSG eingegangenen Schreiben nicht in einem Widerspruch zueinander, sondern ergänzen sich. Bei einer Übertragung der Zuständigkeit für eine Endziffer zB vom 10. auf den 14. Senat wird ein Verfahren mit dieser Endziffer, selbst wenn es vom 10. Senat entschieden worden war, zu einem Verfahren, bei dem von einer früheren Befassung des 14. Senats auszugehen ist. Demgemäß ist das ursprünglich im 10. Senat unter dem Aktenzeichen - L 10 AS 504/16 - anhängig gewesene Verfahren der Kläger gegen das beklagte Jobcenter nach seiner Zurückverweisung vom BSG an das LSG im Jahr 2018 beim 14. Senat einzutragen gewesen, weil der 14. Senat mittlerweile die Zuständigkeit für Verfahren mit dem Registerzeichen "AS" und der Endziffer 4 übernommen hatte, einschließlich der wiedereinzutragenden Verfahren.

Dem steht nicht entgegen, dass vorliegend das zurückverwiesene Verfahren dieselbe Endziffer erhielt, wie das frühere Verfahren, weil im Rahmen von Wiederaufnahmeverfahren andere Regelungen im Rahmen der Aktenzeichenvergabe möglich sind, sodass die Regelung über die frühere Befassung im Rahmen der Verteilung der Geschäfte auf die Senate nicht grundsätzlich leerläuft.

2. Die Rüge, das LSG habe den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör verletzt, weil es in seinen Entscheidungsgründen "die Problematik der Wasserabrechnung" nicht erwogen habe, ist unzulässig, weil sie den sich aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG ergebenden Darlegungsanforderungen nicht gerecht wird.

Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG , § 62 SGG ) soll nach ständiger Rechtsprechung verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl BVerfGE 84, 188 , 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht in seine Erwägung miteinbezogen wird (vgl BVerfGE 22, 254 , 262; 267, 274; 96, 205, 216 f).

Die erste Variante einer "klassischen" Überraschungsentscheidung wird von den Klägern nicht behauptet.

Dass das LSG ihr Vorbringen zur "Problematik der Wasserabrechnung" völlig übergangen habe, ist der Beschwerdebegründung nicht zu entnehmen. In ihr wird vielmehr ausgeführt, das LSG habe die Übernahme der Wasserrechnung im Tatbestand angeführt, indes die nur teilweise Übernahme der Wasserabrechnung in den Entscheidungsgründen nicht erwogen. Lediglich im Hinblick auf die Frage des Bestehens einer Bedarfsgemeinschaft habe das LSG auf die erstinstanzliche Entscheidung Bezug genommen.

Angesicht der Ausführungen des LSG zur Wasserrechnung im Tatbestand und der in der Beschwerdebegründung auf S 9 wiedergegebenen Aussage aus den Entscheidungsgründen des LSG, das SG habe "die Klage zu Recht abgewiesen, weil unter keinem denkbaren Gesichtspunkt höhere Leistungen beansprucht werden könnten", wäre näher auszuführen gewesen, wieso die Bezugnahme des LSG auf die Entscheidungsgründe des SG nicht auch die Entscheidung hinsichtlich der Wasserrechnung umfasst.

3. Die erhobene Grundsatzrüge ist ebenfalls unzulässig.

Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache erfordert zunächst die Formulierung einer bestimmten abstrakten Rechtsfrage, der in dem Rechtsstreit eine grundsätzliche, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung beigemessen wird ( BSG vom 22.8.1975 - 11 BA 8/75 - BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11). Die abstrakte Rechtsfrage ist klar zu formulieren, um an ihr die weiteren Voraussetzungen für die begehrte Revisionszulassung nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG prüfen zu können (Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 7. Aufl 2016, IX, RdNr 181). Des Weiteren ist die Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage sowie deren Klärungsfähigkeit und Entscheidungserheblichkeit im konkreten Rechtsstreit darzutun (vgl Krasney/Udsching, aaO, IX, RdNr 63 ff).

Die Kläger haben folgende Rechtsfrage formuliert: "Darf eine Nebenkostennachforderung im Fälligkeitsmonat um Abschläge gekürzt werden, die vom SGB II -Leistungsträger in deren Fälligkeitsmonat bereits als Bedarf anerkannt und gezahlt, aber vom Leistungsträger an das Versorgungsunternehmen nicht weitergeleitet worden sind, mit der Folge, dass nur die Differenz zwischen dem Nachzahlungsbetrag und den nicht weitergeleiteten Abschlägen den Bedarf i.S.d. § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II darstellt, oder verstößt diese Kürzung gegen das sog. Saldierungsverbot und das Fälligkeitsprinzip?" Schon die Formulierung der Frage ist nicht nachvollziehbar, da in den weiteren Darlegungen nicht ausgeführt wird, wieso der Leistungsträger den von ihm gezahlten Betrag an das Versorgungsunternehmen nicht weitergeleitet haben soll.

Selbst wenn von einem Schreibfehler bei der Formulierung der Rechtsfrage ausgegangen und eine Nichtweiterleitung durch den Leistungsempfänger angenommen wird, mangelt es an Ausführungen dazu, wieso diese Frage im vorliegenden Verfahren klärungsbedürftig, klärungsfähig und entscheidungserheblich sein soll und wieso es auf den weiteren Streit hinsichtlich des Bestehens einer Bedarfsgemeinschaft nicht ankommen soll. Zwar geht das SGB II vom Individualanspruch aus (vgl nur BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, jeweils RdNr 12 ff), aber das Bestehen oder Nichtbestehen einer Bedarfsgemeinschaft kann für die Zuordnung von Bedarfen und die Zurechnung von zu berücksichtigendem Einkommen und Vermögen von Bedeutung sein (vgl insbesondere § 9 Abs 2 SGB II ). Zudem erscheint angesichts der angesprochenen "Weiterleitungsproblematik" eine Differenzierung zwischen den verschiedenen Leistungsempfängern und Klägern möglich, zu denen in der Beschwerdebegründung ebenfalls nichts ausgeführt wird.

4. Die am 16.9.2019 eingegangenen PKH-Anträge der Kläger zu 1. bis 4. sind gemäß § 73a SGG iVm § 114 ZPO abzulehnen, weil ihre beabsichtigte Rechtsverfolgung nach den obigen Ausführungen zu diesem Zeitpunkt keine hinreichende Aussicht auf Erfolg mehr geboten hat. Denn zu diesem Zeitpunkt lag die Auskunft der Präsidentin des LSG mit den maßgeblichen GVPl als Anlage vor. Die Anträge der Kläger zu 1. bis 4. auf Beiordnung einer Rechtsanwältin (§ 73a SGG iVm § 121 ZPO ) sind abzulehnen, weil die Kläger zu 1. bis 4. keinen Anspruch auf PKH haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 , 193 SGG .

Vorinstanz: LSG Mecklenburg-Vorpommern, vom 12.03.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 14 AS 504/16
Vorinstanz: SG Neubrandenburg, vom 08.04.2016 - Vorinstanzaktenzeichen 11 AS 2205/11