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BSG - Entscheidung vom 06.05.2019

B 8 SO 2/19 B

Normen:
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3

BSG, Beschluss vom 06.05.2019 - Aktenzeichen B 8 SO 2/19 B

DRsp Nr. 2019/9416

Anspruch auf Leistungen der Kraftfahrzeughilfe Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren Keine Verpflichtung zu Ermittlungen ohne konkrete Anhaltspunkte

1. Auch unter verfassungsrechtlichen Erwägungen gibt es keine Verpflichtung zu Ermittlungen ohne konkrete Anhaltspunkte auf Behauptungen "auf's Geratewohl".2. Darin liegt keine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 8. August 2018 - L 9 SO 46/14 - wird als unzulässig verworfen.

Der Antrag der Klägerin, ihr Prozesskostenhilfe für das Verfahren der Beschwerde gegen das bezeichnete Urteil zu gewähren, wird abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Normenkette:

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 ;

Gründe:

I

Im Streit ist ein Anspruch der Klägerin auf Leistungen der Kraftfahrzeughilfe.

Die 1962 geborene Klägerin, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - ( SGB II ) bezieht, ist wesentlich behindert, ua ist sie wegen einer Querschnittslähmung rollstuhlpflichtig; bei ihr sind ein Grad der Behinderung von 100 und die Merkzeichen "G", "aG", "H", "B" und "RF" festgestellt. Bis November 2011 erhielt sie eine monatliche "Betriebskostenhilfe" für ihr Kraftfahrzeug (Kfz) als Leistung der Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - ( SGB XII ). Ihre Anträge auf Übernahme der Kosten für die Anschaffung von Allwetterreifen (einschließlich der Entsorgungskosten für die Altreifen), auf Weiterbewilligung der Betriebskostenhilfe und auf Übernahme von Reparaturkosten lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 23.12.2011; Widerspruchsbescheid vom 29.2.2012). Die Klägerin sei nicht auf das Kfz angewiesen, sondern die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei möglich und zumutbar. Während das Sozialgericht Lübeck ( SG ) die angefochtenen Bescheide aufgehoben und den Beklagten zur Leistung verurteilt hat (Urteil vom 4.7.2014), hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 8.8.2018). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ua ausgeführt, die Klägerin könne im Regelfall zumutbar öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Der Senat habe von weiteren Beweiserhebungen absehen können.

Die Klägerin macht mit ihrer Beschwerde Verfahrensmängel geltend (ua Verstoß gegen § 103 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) und beantragt zugleich die Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) zur Durchführung des Verfahrens der Beschwerde sowie die Beiordnung von Rechtsanwalt P. Sie habe folgenden Beweisantrag gestellt, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt sei:

"Für die Tatsache, dass die Klägerin nicht in der Lage war, einen Schieberollstuhl ohne Assistenz außerhalb der Häuslichkeit zu nutzen, wird Beweis angeboten durch den Hausarzt Dr. G. S. [Adresse wird nachgereicht]."

Dieser Antrag sei so zu verstehen gewesen, dass sie Beweis für die Tatsache habe antreten wollen, dass sie nicht in der Lage gewesen sei, einen Schieberollstuhl ohne Assistenz außerhalb der Häuslichkeit für die gesamte Dauer ihrer Termine zu nutzen. Das LSG habe für kurze Strecken hingegen das eigenständige Handhaben des Schieberollstuhls angenommen, für längere Strecken auf die Assistenz verwiesen. Diese stünde ihr jedoch nur für 28 Stunden zur Verfügung. Die Beweiserhebung hätte ergeben, dass sie bei allen Terminen außerhalb der Häuslichkeit ohne eigenes Kfz auf die Unterstützung durch die Assistenz angewiesen sei, nach Ermittlung der Bedeutung, Dauer und Häufigkeit der Veranstaltungen, dass die dafür zur Verfügung stehenden 28 Stunden Assistenz nicht reichten und das Urteil daher wahrscheinlich anders ausgefallen wäre.

Zudem habe sie "hilfsweise beantragt zum Beweis der Tatsache, dass im streitgegenständlichen Zeitraum häufige Probleme bei der Beförderung von Personen mit Rollstuhl zu verzeichnen waren Frau S. H. (Adresse wird nachgereicht)". Frau H. hätte bei ihrer Vernehmung diese erheblichen Probleme bestätigt, sodass sie nicht weiter auf die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel hätte verwiesen werden können. Außerdem rügt sie die Verletzung rechtlichen Gehörs, weil der Inhalt der Haltestellenaushänge, die das LSG in seiner Entscheidung aufgeführt habe, nicht Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sei.

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil der Zulassungsgrund des Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG ) nicht in der gebotenen Weise bezeichnet worden ist. Der Senat konnte deshalb über die Beschwerde ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter nach § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 SGG entscheiden.

Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 SGG und 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24 , 36). Wer sich - wie hier - auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG stützt, muss daher ua einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen, die Rechtsauffassung des LSG wiedergeben, aufgrund der bestimmte Tatsachen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen und die von dem betreffenden Beweisantrag berührten Tatumstände darlegen, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten (vgl zB BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 mwN). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.

Hinsichtlich des ersten Beweisantrags räumt die Klägerin selbst ein, dass eine am Wortlaut orientierte Auslegung - wovon auch das LSG ausgegangen ist - ihrem eigenen Vortrag widerspreche, so "nicht gemeint" und anders auszulegen gewesen sei. Insoweit ergänzt die Klägerin deshalb ihren Antrag um die Worte "für die gesamte Dauer ihrer Termine". Die Erläuterungen der Klägerin lassen aber nicht erkennen, weshalb das LSG den Beweisantrag anders hätte auslegen müssen, obwohl die Tatsachenbehauptung, die Merkmal eines Beweisantrags ist, nur ungenau bzw unvollständig beschrieben wird. Die Klägerin legt auch nicht hinreichend dar, dass die Entscheidung des LSG darauf beruht, dass es dem Beweisantrag nicht gefolgt ist. Zur ordnungsgemäßen Darlegung der Entscheidungserheblichkeit der unter Beweis gestellten Tatsache hinsichtlich der Benutzung des Schieberollstuhls für bestimmte Termine bzw längere Strecken hätte die Klägerin nicht nur vortragen müssen, dass sie nicht in der Lage gewesen sei, einen solchen außerhalb der Häuslichkeit zu bewegen, sondern auch, warum die ihr bewilligten Assistenzleistungen (persönliches Budget) nicht genügten, damit den behaupteten Teilhabebedarf bei einer im Übrigen möglichen Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel abzudecken. Dazu hätte sie insbesondere im Einzelnen darlegen müssen, wofür sie die Budgetleistungen verwendet hat, woran es aber fehlt; insoweit behauptet die Klägerin nur, diese seien ungenügend. Soweit sie ausführt, sie benötige Assistenz nicht nur für das Zurücklegen der Wege, sondern auch während der Veranstaltungen selbst, erschließt sich schon nicht der Bezug auf die behauptete Notwendigkeit der Kfz-Hilfe, denn dieser Bedarf dürfte nach dem eigenen Vortrag der Klägerin unabhängig davon bestehen, ob sie mit dem Kfz oder öffentlichen Verkehrsmitteln zu einer Veranstaltung gelangt.

Die an die Darlegung eines Verfahrensmangels gestellten Anforderungen kann die Klägerin auch nicht dadurch "umgehen", dass sie zugleich die fehlende Amtsermittlung des LSG zu den von ihr besuchten Veranstaltungen, Terminen und ihrer Zeitdauer sowie die nicht mit der Nichtzulassungsbeschwerde angreifbare Beweiswürdigung (§ 128 SGG ) des LSG ("nicht nachvollziehbar") rügt. Jedenfalls im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde hätte sie, um dem Gericht die Prüfung zu ermöglichen, ob auf dem behaupteten Verfahrensfehler die Entscheidung des LSG beruht, hierzu im Einzelnen vortragen müssen. Die allein beispielhafte und wenig konkrete Beschreibung einiger Aktivitäten genügt hierfür nicht.

Soweit die Klägerin weiter vorträgt, sie hätte beantragt, zu Problemen der Beförderung von Rollstuhlfahrern im öffentlichen Nahverkehr Zeugenbeweis zu erheben, ist bereits zweifelhaft, ob es sich überhaupt um einen formgerechten Beweisantrag handelt, denn es dürfte schon an einer hinreichend bestimmten Tatsachenbehauptung fehlen. Doch kann das dahinstehen, weil die Klägerin jedenfalls nicht schlüssig aufgezeigt hat, warum sich das LSG ausgehend von seiner hier allein maßgeblichen Rechtsauffassung zu einer entsprechenden Beweiserhebung bzw weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer/Schmidt, SGG , 12. Aufl 2017, § 160 RdNr 18d mwN), wenn es - wie hier - für seine Beurteilung selbst bei Wahrunterstellung der von der Klägerin behaupteten Umstände nicht zu einer für sie günstigen Entscheidung gelangt ist, weil die Beantwortung der Beweisfrage keine Aussage über die persönliche Situation der Klägerin zulässt. Zu Ermittlungen ohne konkrete Anhaltspunkte auf Behauptungen "aufs Geratewohl" besteht im Übrigen auch unter verfassungsrechtlichen Erwägungen keine Verpflichtung (BVerfG [Kammer] Beschluss vom 9.10.2007 - 2 BvR 1268/03 - juris RdNr 19; BSG Beschluss vom 28.2.2018 - B 13 R 279/16 B - juris RdNr 21). Eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung liegt darin nicht (vgl hierzu BSG Beschluss vom 28.5.2008 - B 12 KR 2/07 B - juris RdNr 11 mwN). Weshalb dies hier nicht gelten soll, erläutert die Klägerin nicht.

Soweit die Klägerin darüber hinaus die Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG , Art 103 Grundgesetz [GG]) bzw einer Überraschungsentscheidung wegen nicht in die mündliche Verhandlung eingebrachter Inhalte von Haltestellenaushängen rügt, vermag auch dieser Vortrag die Zulassung der Revision nicht zu begründen. Denn die Klägerin hätte sich nicht auf den Vortrag beschränken dürfen, das LSG habe die Haltestellenaushänge im Tatbestand des Urteils nicht erwähnt und sie seien nicht zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden. Vielmehr hätte sie unter Bezugnahme auf den Gang des erst- und zweitinstanzlichen Verfahrens und das Vorbringen der Beteiligten darlegen müssen, dass die Entscheidung des LSG nach dem bisherigen Sach- und Streitstand von keiner Seite als möglich vorausgesehen werden konnte. Daran fehlt es gänzlich. Sie legt auch hier nicht schlüssig dar, was sie ohne den behaupteten Verstoß gegen das rechtliche Gehör vorgetragen hätte und inwieweit dieser Vortrag Einfluss auf die Entscheidung des LSG gehabt hätte. Soweit die Klägerin allgemein eine Hinweispflicht des Gerichts annimmt, verkennt sie im Übrigen, dass es einen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene, bestimmte Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern, nicht gibt (vgl BSG Beschluss vom 24.9.2003 - B 8 KN 6/02 B - juris; Beschluss vom 28.2.1991 - 2 BU 191/90 - juris; Beschluss vom 12.6.1990 - 2 BU 227/89 - juris).

Der Antrag auf Bewilligung von PKH ist abzulehnen. Denn PKH ist nur zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Zivilprozessordnung [ZPO]). An der erforderlichen Erfolgsaussicht fehlt es - wie ausgeführt - hier. Mit der Ablehnung von PKH entfällt zugleich die Beiordnung eines Rechtsanwalts im Rahmen der PKH (§ 73a Abs 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO ).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG .

Vorinstanz: LSG Schleswig-Holstein, vom 08.08.2018 - Vorinstanzaktenzeichen L 9 SO 46/14
Vorinstanz: SG Lübeck, vom 04.07.2014 - Vorinstanzaktenzeichen S 31 SO 64/12