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BGH - Entscheidung vom 22.08.2019

V ZB 11/16

Normen:
AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 3
AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1

BGH, Beschluss vom 22.08.2019 - Aktenzeichen V ZB 11/16

DRsp Nr. 2019/15892

Verlängerung der Haft zur Sicherung der Rücküberstellung eines Asylbewerbers; Abschiebung eines Asylbewerbers im Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft

Ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, darf grundsätzlich nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft abgeschoben werden. Fehlt dieses Einvernehmen, scheidet nicht nur die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung eines Ausländers, sondern auch ihre Verlängerung aus. Sind mehrere Ermittlungsverfahren anhängig, müssen alle beteiligten Staatsanwaltschaften zustimmen.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 34. Zivilkammer des Landgerichts Köln vom 4. Januar 2016 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Normenkette:

AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 ; AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1;

Gründe

I.

Der Betroffene, ein somalischer Staatsangehöriger, reiste im März 2014 mit dem Schiff nach Malta und stellte dort einen Asylantrag. Am 15. Januar 2015 reiste er von Malta über die Schweiz nach Deutschland und wurde am selben Tag in einem Linienbus auf dem Weg von München nach Frankfurt am Main von der Polizei festgenommen. Am 11. Februar 2015 stellte er bei der Zentralen Ausländerbehörde der Stadt B. einen Asylantrag. Er wurde daraufhin der Gemeinde L. im Kreis D. zugewiesen. Am 2. März 2015 richtete das zuständige Bundesamt ein Übernahmeersuchen nach der Dublin-III-Verordnung an Malta, worauf die dortigen Behörden nicht reagierten. Mit Bescheid vom 7. April 2015 lehnte das Bundesamt den Antrag des Betroffenen als unzulässig ab und ordnete seine Rücküberstellung nach Malta an. Dieser Bescheid wurde am 28. Mai 2015 bestandskräftig.

Gegen den Betroffenen wurde am 31. Mai 2015 im Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft H. im Wege polizeilicher Vorermittlungen ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet. Nach der Ausländerakte des Betroffenen war die Polizei in der Nacht von Anwohnern verständigt worden, weil aus einer Gruppe, zu der der Betroffene gehörte, heraus die Außenspiegel von zwei Pkw abgetreten worden waren. Die Polizei legte den Vorgang der Staatsanwaltschaft H. vor, wo er als Ermittlungsvorgang erfasst wurde.

Am 6. November 2015 wurde gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung seiner Rücküberstellung nach Malta bis zum 4. Dezember 2015 angeordnet. Ein für den 26. November 2015 vorgesehener Rücküberstellungsversuch scheiterte an der lautstarken Weigerung des Betroffenen und der dadurch ausgelösten Weigerung des Piloten, ihn mitzunehmen.

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht die Sicherungshaft durch Beschluss vom 2. Dezember 2015 bis zum 15. Januar 2016 verlängert. Die Beschwerde des Betroffenen ist erfolglos geblieben. Mit der Rechtsbeschwerde möchte der Betroffene nach seiner Rücküberstellung nach Malta am 13. Januar 2016 festgestellt wissen, dass die Verlängerung der Sicherungshaft rechtswidrig war.

II.

Nach Ansicht des Beschwerdegerichts lagen die Voraussetzungen für die Verlängerung der angeordneten Haft zur Sicherung der Rücküberstellung des Betroffenen nach Malta vor. Der Verlängerungsantrag der beteiligten Behörde genüge den gesetzlichen Anforderungen. Der Haftgrund gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AufenthG sei weiterhin gegeben. Der Betroffene habe mit seinem Verhalten den ersten Rücküberstellungsversuch vereitelt. Es sei nunmehr eine begleitete Rücküberstellung erforderlich, deren Organisation und Durchführung sechs Wochen benötigten.

Das erforderliche Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaften Aachen und Paderborn läge vor. Eines Einvernehmens auch der Staatsanwaltschaft H. bedürfe es nicht. Dieses Verfahren betreffe eine Tat mit geringem Unrechtsgehalt im Sinne von § 72 Abs. 4 Satz 5 AufenthG und löse die Notwendigkeit eines Einvernehmens dieser Staatsanwaltschaft nicht aus.

III.

Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung nicht stand. Die Haft zur Sicherung der Rücküberstellung nach Malta durfte gegen den Betroffenen nur verlängert werden, wenn das gegen ihn bei der Staatsanwaltschaft H. anhängige Ermittlungsverfahren wegen Sachbeschädigung entweder bereits abgeschlossen war oder ein allgemeines Einvernehmen der Staatsanwaltschaft oder der zuständigen Generalstaatsanwaltschaft für derartige Straftaten vorlag.

1. Ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, darf nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG - von den Ausnahmen gemäß § 72 Abs. 4 Satz 3 bis 5 AufenthG in der hier noch maßgeblichen, bis zum 20. August 2019 geltenden Fassung (fortan: aF) abgesehen - nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft abgeschoben werden. Fehlt dieses Einvernehmen, scheidet nicht nur die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung eines Ausländers, sondern auch ihre Verlängerung aus. Dabei ist es für die - im Rechtsbeschwerdeverfahren nur auf entsprechende Rüge zu berücksichtigende - Verletzung der genannten Rechtsnorm unerheblich, aus welchen Gründen das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft fehlt. Da es eine Haftvoraussetzung darstellt, kommt es insoweit allein auf die objektive Rechtslage an. Wenn mehrere Ermittlungsverfahren anhängig sind, müssen alle beteiligten Staatsanwaltschaften zustimmen. Diese Grundsätze gelten auch für die Anordnung von Haft zur Sicherung der Zurückschiebung, an deren Stelle in ihrem Anwendungsbereich die Haft zur Sicherung der Rücküberstellung nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung getreten ist (zum Ganzen: Senat, Beschluss vom 19. Juli 2018 - V ZB 179/15, InfAuslR 2018, 415 Rn. 7).

2. Das danach grundsätzlich erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft H. wegen des dort anhängigen Ermittlungsverfahrens wegen Sachbeschädigung ist, anders als das Beschwerdegericht meint, nicht nach Maßgabe des § 72 Abs. 4 Sätze 3 bis 5 AufenthG aF entbehrlich.

a) Danach bedarf es des an sich nach Satz 1 der Vorschrift erforderlichen Einvernehmens der Staatsanwaltschaft nicht, wenn nur ein geringes Strafverfolgungsinteresse besteht. Dies ist nach Satz 4 der hier noch maßgeblichen früheren Fassung der Vorschrift der Fall, wenn die Erhebung der öffentlichen Klage oder die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen einer Straftat nach § 95 AufenthG oder nach § 9 FreizügG/EU und begleitender Straftaten nach dem Strafgesetzbuch mit geringem Unrechtsgehalt erfolgt ist. Nach § 72 Abs. 4 Satz 5 AufenthG aF sind das u.a. Straftaten nach § 303 StGB , es sei denn, dieses Strafgesetz wird durch verschiedene Handlungen mehrmals verletzt oder es wird ein Strafantrag gestellt.

b) Die Erhebung der öffentlichen Klage oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren betreffen eine im Sinne von § 72 Abs. 4 Sätze 4 und 5 AufenthG aF „begleitende“ Straftat nach dem Strafgesetzbuch mit geringem Unrechtsgehalt, wenn zwischen der Straftat mit geringem Unrechtsgehalt nach § 72 Abs. 4 Satz 5 AufenthG aF und einer Straftat nach § 95 dieses Gesetzes oder § 9 FreizügigG/EU ein inhaltlicher Zusammenhang besteht. Das hat der Senat in seinem Beschluss über die Anordnung und Aufrechterhaltung der mit den im vorliegenden Verfahren zu überprüfenden Gerichtsentscheidungen verlängerten Sicherungshaft gegen den Betroffenen vom 19. Juli 2018 ( V ZB 179/15, InfAuslR 2018, 415 Rn. 10 ff.) im Einzelnen erläutert. Hierauf wird Bezug genommen.

c) Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft H. war deshalb nur entbehrlich, wenn das Ermittlungsverfahren wegen der Sachbeschädigung bei Verlängerung der Haft durch das Amtsgericht am 2. Dezember 2015 oder, mit Wirkung dann allerdings nur noch für die Zukunft, bei Aufrechterhaltung der Haftverlängerung durch das Beschwerdegericht abgeschlossen worden war oder zu diesen Zeitpunkten ein generelles Einvernehmen der Staatsanwaltschaft H. oder der zuständigen Generalstaatsanwaltschaft für derartige Delikte vorlag. Das ist nicht festgestellt.

IV.

1. Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben (§ 74 Abs. 5 FamFG ). Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, da weitere Sachverhaltsermittlungen erforderlich sind. Die Sache ist daher an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG ).

2. Die gebotene Gewährung des rechtlichen Gehörs zu den von dem Beschwerdegericht zu treffenden Feststellungen kann dadurch erfolgen, dass dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt wird. Einer persönlichen Anhörung des Betroffenen zu der Frage, ob das strafrechtliche Ermittlungsverfahren am 2. Dezember 2015 oder am 4. Januar 2016 eingestellt worden war oder ob zu diesen Zeitpunkten ein generelles Einvernehmen für Verfahren dieser Art vorlag, bedarf es nicht (Senat, Beschluss vom 19. Juli 2018 - V ZB 179/15, InfAuslR 2018, 415 Rn. 16). Sollte sich ergeben, dass das Verfahren zu den genannten Zeitpunkten noch anhängig war und ein generelles Einvernehmen der Staatsanwaltschaft nicht vorlag, wäre die Verlängerung der Haft von Anfang an rechtswidrig, was auf den zulässigen Antrag des Betroffenen gemäß § 62 FamFG festzustellen wäre.

3. Sollte sich herausstellen, dass das Ermittlungsverfahren abgeschlossen war oder ein generelles Einvernehmen vorlag, wäre die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen. Denn die Verlängerung der Haft und ihre Aufrechterhaltung durch das Beschwerdegericht beruhen auf einem zulässigen Haftantrag und sind im Übrigen nicht zu beanstanden. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.

4. Bei der neuen Entscheidung wird unabhängig vom Ausgang des Verfahrens zu berücksichtigen sein, dass Dolmetscherkosten bei Betroffenen, die, wie der Betroffene hier, der deutschen Sprache nicht mächtig sind, nach § 81 Abs. 1 Satz 2 FamFG i.V.m. Art. 6 Abs. 3 Buchstabe e EMRK analog nicht zu erheben sind (Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323 Rn. 21).

Vorinstanz: AG Köln, vom 02.12.2015 - Vorinstanzaktenzeichen 507b XIV (B) 9/15
Vorinstanz: LG Köln, vom 04.01.2016 - Vorinstanzaktenzeichen 34 T 252/15