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BGH - Entscheidung vom 09.10.2019

4 StR 367/19

Normen:
StPO § 349 Abs. 2
StGB § 64

BGH, Beschluss vom 09.10.2019 - Aktenzeichen 4 StR 367/19

DRsp Nr. 2019/15973

Revisionsrechtliche Überprüfung der Nichtanordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt bei einer Verurteilung wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung; Vorliegen einer Gefahr der zukünftigen Begehung erheblicher rechtswidriger und auf den Hang zurückzuführender Straftaten

Die Gefahr der zukünftigen Begehung erheblicher rechtswidriger und auf den Hang zurückzuführender Straftaten setzt eine naheliegende Wahrscheinlichkeit voraus. Eine bloße Wiederholungsmöglichkeit genügt nicht. Für die Rückfallgefahr können sich Anhaltspunkte etwa aus der Persönlichkeit des Täters, seinem bisherigen Rauschmittelkonsum, seinem Vorleben und seinen Vorstrafen ergeben.

Tenor

1.

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 28. März 2019 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit von der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2.

Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Normenkette:

StPO § 349 Abs. 2 ; StGB § 64 ;

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung unter Einbeziehung einer anderweitig erkannten Strafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt und die Einziehung von "Wertersatz" in Höhe von 80 Euro angeordnet. Von einer Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB hat es abgesehen.

Gegen seine Verurteilung wendet sich der Angeklagte mit seiner allgemein auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO .

1. Die Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Begründung, mit der das Landgericht die Annahme der Gefahr zukünftiger hangbedingt begangener rechtswidriger Taten des Angeklagten und eine hinreichend konkrete Aussicht für einen Behandlungserfolg verneint hat, beruht auf durchgreifenden Rechtsfehlern. Sie enthält Lücken und ist widersprüchlich.

a) Das Landgericht hat - der Sachverständigen folgend - zutreffend einen Hang des Angeklagten im Sinne des § 64 StGB bejaht. Der Angeklagte leidet nach den Urteilsfeststellungen - derzeit abstinent - an einer Kokainabhängigkeit und betreibt Cannabismissbrauch. Er konsumiert seit 2004 Kokain. Zu Abstinenzen kam es lediglich im Zeitraum von 2006 bis 2008 und während der Inhaftierung des Angeklagten in den Jahren 2011 bis 2013 aus Anlass seiner ersten Verurteilung wegen Raubes. Nach seiner Entlassung aus der Haft im Jahr 2013 konsumierte der Angeklagte zunächst kein Kokain mehr, gelegentlich aber Marihuana. In der Folge steigerte er den Konsum von Kokain jedoch von einem zunächst seltenen, bis zum Jahr 2015 - im Zusammenhang mit der Trennung und Scheidung von seiner Ehefrau - zu einem massiven Missbrauch der Droge. Sein im Jahr 2017 unternommener Versuch, den Kokainkonsum einzustellen, scheiterte, weil sich der Angeklagte von den Eltern seiner Partnerin unter Druck gesetzt fühlte. Erst nach der abgeurteilten Tat vom 5. Oktober 2017, bei der er einen Taxifahrer zur Beschaffung von Geld für den Ankauf weiteren Kokains unter Vorhalt eines Messers zur Herausgabe von 80 Euro Bargeld zwang, stellte der Angeklagte den Konsum von Kokain ein, raucht stattdessen jedoch regelmäßig Marihuana, um kokainabstinent zu bleiben.

b) Vor dem Hintergrund dieses Suchtverhaltens vermag die Begründung, mit der das Landgericht die Annahme der Gefahr zukünftiger hangbedingt begangener rechtswidriger Taten des Angeklagten verneint hat, nicht zu tragen.

aa) Die Gefahr der zukünftigen Begehung erheblicher rechtswidriger und auf den Hang zurückzuführender Straftaten setzt eine naheliegende Wahrscheinlichkeit voraus. Eine bloße Wiederholungsmöglichkeit genügt nicht. Für die Rückfallgefahr können sich Anhaltspunkte etwa aus der Persönlichkeit des Täters, seinem bisherigen Rauschmittelkonsum, seinem Vorleben und seinen Vorstrafen ergeben. Für die Frage der Wiederholungsgefahr ist eine umfassende Gesamtabwägung erforderlich (vgl. BGH, Urteil vom 11. Dezember 1990 - 1 StR 611/90, BGHR StGB § 64 Abs. 1 Gefährlichkeit 3; Beschluss vom 13. Dezember 2018 - 3 StR 386/18, Rn. 11, insofern nicht abgedruckt in NStZ 2019, 400 ; MüKo-StGB/van Gemmeren, 3. Aufl., § 64 Rn. 55 mwN).

bb) Das Landgericht hat ausgeführt, zwar sei im Fall eines Rückfalls des Angeklagten in den Kokainkonsum mit erneuten Beschaffungstaten, die mit der Anlasstat vergleichbar seien, zu rechnen. Die Annahme einer erneuten Kokainrückfälligkeit lasse sich jedoch nicht tragfähig begründen. Der Angeklagte sei zwar in Lebenskrisen infolge seiner dann eintretenden Resignation rückfallgefährdet. Er lebe aber bereits seit mehr als einem Jahr kokainabstinent. Neben früheren, längerfristigen Kokainabstinenzen komme nunmehr hinzu, dass der Angeklagte "aufgrund seiner Kinder und angesichts der in Rede stehenden Tat" motiviert sei, weiterhin abstinent zu leben. Seine über viele Jahre gelebte Straffreiheit belege eine Abnahme seiner Straffälligkeit.

Diese Begründung erweist sich als lückenhaft. Das Landgericht hat wesentliche prognoserelevante Gesichtspunkte außer Betracht gelassen. Es hat nicht berücksichtigt, dass sich die Lebenssituation des Angeklagten seit der Begehung der hier abgeurteilten Tat jedenfalls nicht vorteilhaft verändert hat. Verantwortung für seine Kinder hatte der Angeklagte schon zum Zeitpunkt der Anlasstat zu tragen. Gleichwohl beging er diese, gegenüber früherer Straffälligkeit in ihrem Schweregrad deutlich gesteigerte Tat, um sich Geld für den Erwerb weiteren Kokains zu beschaffen. Auch die Vollstreckung einer ersten Freiheitsstrafe wegen Raubes bis zum Jahr 2013 konnte den Angeklagten nicht davon abhalten, erneut zunächst gelegentlich, ab 2015 sogar massiv Kokain zu konsumieren. Darüber hinaus hat das Landgericht bei seiner Prognoseentscheidung den wesentlichen Umstand gänzlich außer Acht gelassen, dass es dem Angeklagten auch nach der abgeurteilten Tat nicht gelungen ist, von Betäubungsmitteln abzulassen. Denn seit Einstellung seines Kokainkonsums raucht der Angeklagte nunmehr regelmäßig Marihuana, um von Kokain abstinent zu bleiben. Sein Versuch, die Abkehr von Kokain durch einen regelmäßigen Missbrauch von Cannabis sicherzustellen, weist - vom Landgericht unbeachtet - auf die nur geringe Belastbarkeit der aktuellen Kokainabstinenz des Angeklagten hin.

c) Zum anderen erweist sich die Begründung des Landgerichts, mit der es das Bestehen einer hinreichend konkreten Behandlungsaussicht beim Angeklagten verneint hat, als widersprüchlich.

Das Landgericht hat - der Sachverständigen folgend - die fehlende Aussicht auf einen Behandlungserfolg des Angeklagten damit begründet, er könne derzeit von Kokain abstinent leben und sei auch aufgrund dessen nicht motiviert, eine Behandlung anzutreten. Ohnehin handele es sich bei Kokain um "eine Substanz, bei der es vor allem um die persönliche Entscheidung gehe, das Mittel nicht mehr zu konsumieren und die Umgebung, in der der Konsum stattfinde, (...) zu ändern". Die letztgenannte Erwägung steht jedoch in einem nicht aufgelösten Widerspruch zu der - ebenfalls auf die Sachverständige gestützten - Feststellung des Landgerichts, nach welcher der Angeklagte, der seine Abstinenz durch das Rauchen von Marihuana zu sichern versucht, an einer (psychischen) Kokainabhängigkeit leidet; dies ist mit der Annahme einer "persönlichen Entscheidung" des Angeklagten zur Abstinenz nicht zu vereinbaren. Dies gilt erst recht mit Blick darauf, dass das Landgericht - zudem unter Bezugnahme auf die Sachverständige - selbst an anderer Stelle ausgeführt hat, die Behandlung der Kokainabhängigkeit des Angeklagten, die bislang zu keinem Zeitpunkt erfolgt sei, sei nach dessen Haftentlassung "sinnvoll und notwendig". Schließlich lässt sich die bereits im Urteil erteilte Zustimmung des Landgerichts, die Vollstreckung der Strafe gemäß § 35 BtMG zurückzustellen, mit der Annahme einer fehlenden bzw. nicht zu weckenden Therapiebereitschaft des Angeklagten nicht in Einklang bringen (vgl. BGH, Beschluss vom 5. April 2016 - 3 StR 554/15, NStZ-RR 2016, 209 ). Die erteilte Zustimmung lässt zudem besorgen, dass das Landgericht das Rangverhältnis verkannt hat, demzufolge die Unterbringung nach § 64 StGB der Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG vorgeht (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 5. April 2016 - 3 StR 554/15, NStZ-RR 2016, 209 mwN).

2. Über die Frage der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt muss deshalb neu verhandelt und entschieden werden. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert die Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht (vgl. BGH, Urteil vom 10. April 1990 - 1 StR 9/90, BGHSt 37, 5 ). Der Beschwerdeführer hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht auch nicht von seinem Rechtsmittelangriff ausgenommen (vgl. BGH, Urteil vom 7. Oktober 1992 - 2 StR 374/92, BGHSt 38, 362 ).

Vorinstanz: LG Essen, vom 28.03.2019