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BGH - Entscheidung vom 04.06.2019

X ZR 22/18

Normen:
VO (EG) 261/2004 Art. 5 Abs. 1 Buchst. c)
VO (EG) 261/2004 Art. 5 Abs. 3
VO (EG) 261/2004 Art. 7 Abs. 1 S. 1 Buchst. c)

Fundstellen:
DAR 2020, 491
NJW 2019, 2606
NJW-RR 2019, 1018

BGH, Urteil vom 04.06.2019 - Aktenzeichen X ZR 22/18

DRsp Nr. 2019/9609

Reifenschaden an einem Flugzeug als außergewöhnlicher Umstand i.R.e. Anspruchs auf Ausgleichszahlung wegen erheblicher Verspätung des Rückfluges

Technische Defekte, wie sie beim Betrieb eines Flugzeugs typischerweise auftreten, begründen grundsätzlich keine außergewöhnlichen Umstände. Anderes ist dann der Fall, wenn die technischen Probleme auf ein Vorkommnis zurückzuführen sind, das vom Luftverkehrsunternehmen tatsächlich nicht zu beherrschen ist, wie die Beschädigung eines Reifens, die ausschließlich auf die Kollision mit einem Fremdkörper zurückzuführen ist.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart vom 21. Dezember 2017 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Normenkette:

VO (EG) 261/2004 Art. 5 Abs. 1 Buchst. c); VO (EG) 261/2004 Art. 5 Abs. 3; VO (EG) 261/2004 Art. 7 Abs. 1 S. 1 Buchst. c);

Tatbestand

Der Kläger begehrt aus eigenem und abgetretenem Recht eine Ausgleichszahlung nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c i.V.m. Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c der Fluggastrechteverordnung.

Der Kläger buchte bei einem Reiseunternehmen für sich, seine Ehefrau und die gemeinsame Tochter eine Pauschalreise. Der von der Beklagten durchgeführte Rückflug von Faro nach Stuttgart verzögerte sich um rund 18 Stunden. Grund dafür war nach dem Vorbringen der Beklagten ein Reifenschaden am Flugzeug, der beim vorangegangenen Flug durch einen metallischen Fremdkörper auf der Start- oder Landebahn verursacht worden sei.

Das Amtsgericht hat die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von 1.200 Euro nebst Verzugszinsen verurteilt. Die Berufung der Beklagten ist erfolglos geblieben. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Abweisung der Klage weiter. Der Kläger tritt dem Rechtsmittel entgegen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision hat Erfolg.

I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

Die Beschädigung eines Flugzeugreifens durch einen auf der Start- oder Landebahn liegenden Fremdkörper sei nicht als außergewöhnlicher Umstand anzusehen. Ein solches Ereignis liege nicht außerhalb der normalen Betriebstätigkeit eines Luftverkehrsunternehmens. Eine andere Beurteilung ergebe sich nicht daraus, dass das Reinigen der Fahrbahnen den jeweiligen Flughafenbetreibern obliege und daher von dem Luftverkehrsunternehmen nicht beherrschbar sei.

II. Dies hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.

1. Die getroffenen Feststellungen tragen nicht die Annahme, dass die Annullierung nicht auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht.

a) Außergewöhnliche Umstände, die nach Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechteverordnung einem Ausgleichsanspruch wegen Annullierung oder erheblicher Verspätung entgegenstehen können, sind nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union Umstände, die außerhalb dessen liegen, was üblicherweise mit dem Ablauf der Personenbeförderung im Luftverkehr verbunden ist oder verbunden sein kann. Dies sind Ereignisse, die nicht zum Luftverkehr gehören, sondern als jedenfalls in der Regel von außen kommende besondere Umstände dessen ordnungs- und planmäßige Durchführung beeinträchtigen oder unmöglich machen können. Umstände, die im Zusammenhang mit einem den Luftverkehr störenden Vorfall wie einem technischen Defekt auftreten, können nur dann als außergewöhnlich im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung qualifiziert werden, wenn sie auf ein Vorkommnis zurückgehen, das wie die in Erwägungsgrund 14 der Verordnung aufgezählten Ereignisse nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftverkehrsunternehmens und aufgrund seiner Natur oder Ursache von diesem tatsächlich nicht zu beherrschen ist (EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2008 - C-549/09, Slg. 2008 I-11061 = NJW 2009, 347 = RRa 2009, 35 Rn. 23 - Wallentin-Hermann/Alitalia; Urteil vom 19. November 2009 - C-402/07, Slg. 2009, I-10923 = NJW 2010, 43 = RRa 2009, 282 Rn. 70 - Sturgeon/Condor; Urteil vom 31. Januar 2013 - C-12/11, NJW 2013, 921 = RRa 2013, 81 Rn. 29 - McDonagh/Ryanair; Beschluss vom 14. November 2014 - C-394/14, RRa 2015, 15 Rn. 18 - Siewert/Condor; Urteil vom 17. September 2015 - C-257/14, NJW 2015, 3427 = RRa 2015, 287 Rn. 36 - van der Lans/KLM).

Der Bundesgerichtshof hat hieraus abgeleitet, dass technische Defekte, wie sie beim Betrieb eines Flugzeugs typischerweise auftreten, grundsätzlich keine außergewöhnlichen Umstände begründen, sondern Teil der normalen Tätigkeit des betroffenen Luftverkehrsunternehmens sind (BGH, Urteil vom 12. November 2009 - Xa ZR 76/07, NJW 2010, 1070 = RRa 2010, 34 Rn. 23; Urteil vom 21. August 2012 - X ZR 138/11, BGHZ 194, 258 Rn. 16; Urteil vom 24. September 2013 - X ZR 160/12, NJW 2014, 861 = RRa 2014, 25 Rn. 10; Urteil vom 12. Juni 2014 - X ZR 121/13, NJW 2014, 3303 = RRa 2014, 293 Rn. 11; Urteil vom 15. Januar 2019 - X ZR 15/18, NJW 2019, 1369 Rn. 12).

Technische Probleme können indessen außergewöhnliche Umstände begründen, soweit sie auf ein Vorkommnis zurückzuführen sind, das außerhalb des Rahmens der normalen Betriebstätigkeit des Luftverkehrsunternehmens liegt und von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen ist. Die Außergewöhnlichkeit der Umstände kann sich insoweit daraus ergeben, dass der technische Defekt bewirkt, dass der Luftverkehr oder die Betriebstätigkeit eines oder mehrerer Luftverkehrsunternehmen ganz oder teilweise zum Erliegen kommen, beispielsweise, weil die technischen Einrichtungen eines Flughafens versagen oder ein versteckter Fabrikationsfehler die gesamte oder einen wesentlichen Teil der Flotte des Luftverkehrsunternehmens betrifft (BGHZ 194, 258 Rn. 16; NJW 2019, 1369 Rn. 13).

Die Prüfung, ob ein technisches Problem auf ein Vorkommnis zurückzuführen ist, das nicht Teil der normalen Ausführung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens und von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen ist, obliegt dem nationalen Richter (EuGH, Slg. 2008 I-11061 = NJW 2009, 347 Rn. 27 - Wallentin-Hermann/Alitalia); sie ist grundsätzlich Aufgabe des Tatrichters (BGHZ 194, 258 Rn. 17; BGH, NJW 2014, 861 Rn. 11; BGH, NJW 2014, 3303 Rn. 11).

b) Nach diesen Maßstäben kann ein Reifenschaden an einem Flugzeug außergewöhnliche Umstände begründen.

aa) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist das vorzeitige, sogar unerwartete Auftreten von Mängeln an bestimmten Teilen eines konkreten Flugzeugs allerdings ein Vorkommnis, das grundsätzlich untrennbar mit dem System zum Betrieb des Flugzeugs verbunden ist (EuGH, NJW 2015, 3427 Rn. 41 f. - van der Lans/KLM; Urteil vom 4. Mai 2017 - C-315/15, NJW 2017, 2665 = RRa 2017, 174 Rn. 23 - Pesková/Travel Service). Angesichts der besonderen Bedingungen, unter denen der Luftverkehr durchgeführt wird, und des Maßes an technologischer Komplexität der Flugzeuge sehen sich die Luftfahrtunternehmen nämlich gewöhnlich dieser Art von Mängeln gegenüber (EuGH, Slg. 2008 I-11061 = NJW 2009, 347 Rn. 24 - Wallentin-Hermann/Alitalia; RRa 2015, 15 Rn. 19 - Siewert/Condor; NJW 2015, 3427 Rn. 37 und 42 - van der Lans/KLM).

Dies gilt grundsätzlich auch für Flugzeugreifen. Diese sind beim Start und bei der Landung sehr starken Belastungen und daher der ständigen Gefahr von Beschädigungen ausgesetzt. Dies rechtfertigt besonders strenge regelmäßige Kontrollen, die in den gängigen Betriebsbedingungen der Luftfahrtunternehmen enthalten sind (EuGH, Urteil vom 4. April 2019 - C-501/17, Rn. 19-23 - Germanwings GmbH/Pauels).

Der Gerichtshof hat jedoch entschieden, dass die Beschädigung eines Reifens, die ausschließlich auf die Kollision mit einem Fremdkörper zurückzuführen ist, in Ausnahme von diesem Grundsatz nicht als untrennbar mit dem System zum Betrieb des Flugzeugs verbunden angesehen werden kann. Angesichts der besonderen Zwänge, denen das Luftfahrtunternehmen beim Start und bei der Landung unterliegt, sowie des Umstands, dass die Instandhaltung des Rollfelds nicht in seine Zuständigkeit fällt, ist dieser Umstand darüber hinaus von ihm nicht tatsächlich beherrschbar (EuGH, Urteil vom 4. April 2019 - C-501/17, Rn. 24-26 - Germanwings GmbH/Pauels).

bb) Danach kann auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen nicht ausgeschlossen werden, dass die im Streitfall eingetretene Verspätung auf außergewöhnlichen Umständen beruht.

Nach dem Vorbringen der Beklagten, das der revisionsrechtlichen Beurteilung mangels abweichender Feststellungen der Vorinstanzen zugrunde zu legen ist, beruht die Verspätung auf der Beschädigung eines Flugzeugreifens auf der Start- oder Landebahn. Sofern sich dieses Vorbringen, für das die Darlegungs- und Beweislast bei der Beklagten liegt (vgl. EuGH, Urteil vom 4. April 2019 - C-501/17, Rn. 24 - Germanwings GmbH/Pauels), als zutreffend erweist, liegt ein außergewöhnlicher Umstand vor, der dem geltend gemachten Anspruch auf Ausgleichszahlung entgegenstehen kann.

2. Die angefochtene Entscheidung erweist sich nicht aus anderen Gründen als im Ergebnis zutreffend.

Auch wenn ein Reifen des für den Flug vorgesehenen Flugzeugs durch einen Gegenstand auf der Start- oder Landebahn beschädigt wurde, ist ein Anspruch auf Ausgleichszahlung allerdings nur dann ausgeschlossen, wenn sich eine erhebliche Verspätung durch zumutbare Maßnahmen nicht hätte vermeiden lassen. Eine abschließende Beurteilung dieser Frage ist aufgrund der bislang getroffenen Feststellungen jedoch ebenfalls nicht möglich.

Das Berufungsgericht hat offengelassen, ob die von der Beklagten angeführten Umstände, insbesondere das Ende der Arbeitszeit der Besatzung und das in Stuttgart bestehende Nachtflugverbot, einer Durchführung des Flugs noch am gleichen Tag im Wege standen und ob der Beklagten andere zumutbare Mittel zur Verfügung standen, um eine erhebliche Verspätung zu vermeiden.

Diesbezügliche Feststellungen wird das Berufungsgericht in der neu eröffneten Berufungsinstanz gegebenenfalls nachzuholen haben. Hierbei wird es an der Beklagten liegen, darzulegen und unter Beweis zu stellen, dass sie alle ihr zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel eingesetzt hat, um zu vermeiden, dass der Austausch des beschädigten Reifens nicht zu einer großen Verspätung des betreffenden Flugs führt (vgl. EuGH, Urteil vom 4. April 2019 - C-501/17, Rn. 33 - Germanwings GmbH/Pauels).

Von Rechts wegen

Verkündet am: 4. Juni 2019

Vorinstanz: AG Nürtingen, vom 28.06.2017 - Vorinstanzaktenzeichen 27 C 2754/16
Vorinstanz: LG Stuttgart, vom 21.12.2017 - Vorinstanzaktenzeichen 5 S 186/17
Fundstellen
DAR 2020, 491
NJW 2019, 2606
NJW-RR 2019, 1018