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BGH - Entscheidung vom 16.05.2019

V ZB 27/17

Normen:
AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1

BGH, Beschluss vom 16.05.2019 - Aktenzeichen V ZB 27/17

DRsp Nr. 2019/14192

Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Verhaftung zum Zwecke der Sicherung der Abschiebung; Erforderlichkeit der Zustimmung der Staatsanwaltschaft für die Abschiebung eines Ausländers bei Erhebung einer öffentlichen Klage oder Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens

Ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, darf grundsätzlich nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft abgeschoben werden. Fehlt dieses Einvernehmen, scheidet die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung eines Ausländers aus. Sind mehrere Ermittlungsverfahren anhängig, müssen alle beteiligten Staatsanwaltschaften zustimmen.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss des Landgerichts Kleve - 3. Zivilkammer - vom 11. Januar 2017 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Normenkette:

AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1;

Gründe

I.

Der Betroffene ist kosovarischer Staatsangehöriger. Er wurde 1993 in Deutschland geboren und im Jahr 2000 gemeinsam mit seiner Familie abgeschoben. Am 11. Dezember 2014 reiste er erneut in das Bundesgebiet ein und stellte einen Asylantrag, der unter Androhung der Abschiebung als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde.

Am 26. September 2016 hat das Amtsgericht antragsgemäß Abschiebehaft bis zum 10. Oktober 2016 angeordnet. Nach der am 5. Oktober 2016 erfolgten Abschiebung hat das Landgericht die nunmehr auf Feststellung der Rechtswidrigkeit gerichtete Beschwerde am 11. Januar 2017 zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde will der Betroffene weiterhin die Rechtswidrigkeit seiner Inhaftierung feststellen lassen. Die beteiligte Behörde beantragt die Zurückweisung des Rechtsmittels.

II.

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung und Zurückverweisung an das Beschwerdegericht.

1. Im Ausgangspunkt rechtsfehlerfrei sieht das Beschwerdegericht den Haftantrag als zulässig an. Ausführungen dazu, ob das nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft vorliegt, muss der Haftantrag nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung dann enthalten, wenn sich aus dem Antrag selbst oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne weiteres ergibt, dass ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig ist (vgl. Senat, Beschluss vom 13. September 2018 - V ZB 145/17, juris Rn. 15 mwN). Daran gemessen ist der Haftantrag nicht zu beanstanden. Soweit dargelegt wird, dass sich der Betroffene am 26. Januar 2016 mit einem gefälschten bulgarischen Pass ausgewiesen hatte, war eine Erklärung der Staatsanwaltschaft Kassel vom 3. Februar 2016 beigefügt. Hiernach sollte das Verfahren gemäß § 154b Abs. 3 StPO eingestellt werden, sobald die Abschiebung vollzogen ist; insoweit bestand also Einvernehmen mit der Abschiebung. Ohnehin handelt es sich bei einer solchen Urkundenfälschung (§ 267 Abs. 1 StGB ) um ein Begleitdelikt, für das es gemäß § 72 Abs. 4 Satz 5 AufenthG eines Einvernehmens nicht bedarf; der erforderliche inhaltliche Zusammenhang mit einem Delikt nach § 95 AufenthG (vgl. Senat, Beschluss vom 19. Juli 2018 - V ZB 179/15, InfAuslR 2018, 415 Rn. 10 ff.) ist bei der Verwendung eines gefälschten Passes gegeben. Weitere Ermittlungsverfahren sind weder aus dem Haftantrag noch aus den beigefügten Unterlagen ersichtlich.

2. Die angefochtene Entscheidung kann aber deshalb keinen Bestand haben, weil der Haftrichter und das Beschwerdegericht in der Sache nicht - wie nach § 26 FamFG geboten - anhand der Ausländerakte ausreichend geprüft haben, ob § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG einer Abschiebung des Betroffenen entgegenstand.

a) Ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, darf nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG - von den Ausnahmen gemäß § 72 Abs. 4 Sätze 3 bis 5 AufenthG abgesehen - nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft abgeschoben werden. Fehlt dieses Einvernehmen, scheidet die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung eines Ausländers aus. Dabei ist es für die - im Rechtsbeschwerdeverfahren nur auf entsprechende Rüge zu berücksichtigende - Verletzung der genannten Rechtsnorm unerheblich, aus welchen Gründen das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft fehlt. Da es eine Haftvoraussetzung darstellt, kommt es insoweit allein auf die objektive Rechtslage an. Sind mehrere Ermittlungsverfahren anhängig, müssen alle beteiligten Staatsanwaltschaften zustimmen (vgl. Senat, Beschluss vom 19. Juli 2018 - V ZB 179/15, InfAuslR 2018, 415 Rn. 7 mwN).

b) Die Haftanordnung verhält sich zur Frage des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft oder dessen Entbehrlichkeit nicht. Das Beschwerdegericht befasst sich lediglich mit dem bei der Staatsanwaltschaft Kassel geführten Ermittlungsverfahren wegen Urkundenfälschung und geht insoweit rechtsfehlerfrei von dem Einvernehmen der Staatsanwaltschaft aus. Ob weitere Ermittlungsverfahren geführt wurden, hätte jedoch anhand der über den Betroffenen geführten Ausländerakte geprüft werden müssen (vgl. Senat, Beschluss vom 13. September 2018 - V ZB 231/17, FGPrax 2019, 41 Rn. 5 mwN). Diese Prüfung hätte - wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt - ergeben, dass im Zusammenhang mit der Festnahme des Betroffenen am 26. September 2016 ein Ermittlungsverfahren wegen räuberischer Erpressung eingeleitet worden ist (Ausländerakte Bl. 54). Das am 3. Februar 2016 erteilte Einvernehmen der Staatsanwaltschaft Kassel konnte sich hierauf nicht beziehen. Weiter rügt die Rechtsbeschwerde zutreffend, dass der Ausländerakte zufolge bei der Staatsanwaltschaft Gießen ein Verfahren wegen Betruges gemäß §§ 263 , 248a StGB geführt wurde (Ausländerakte Bl. 87 f.). Ob insoweit das Einvernehmen vorlag bzw. ob das Verfahren bei Anordnung der Haft noch nicht abgeschlossen war, ist ebenfalls nicht ermittelt worden.

3. Im Übrigen ist der Beschluss aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden; von einer näheren Begründung wird abgesehen (§ 74 Abs. 7 FamFG ).

III.

Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben (§ 74 Abs. 5 FamFG ). Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden. Die ergänzenden Angaben der beteiligten Behörde in ihrer Erwiderung auf die Rechtsbeschwerde können im Rechtsbeschwerdeverfahren nach § 74 Abs. 3 Satz 4 FamFG i.V.m. § 559 ZPO nicht berücksichtigt werden. Infolgedessen sind weitere Sachverhaltsermittlungen erforderlich. Die Sache ist daher an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG ). Dieses wird aufzuklären haben, ob das Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaften mit der Abschiebung des Betroffenen vorlag. Die gebotene Gewährung des rechtlichen Gehörs zu den von dem Beschwerdegericht zu treffenden Feststellungen kann dadurch erfolgen, dass dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt wird (Senat, Beschluss vom 13. September 2018 - V ZB 231/17, juris Rn. 6 mwN).

Vorinstanz: AG Kassel, vom 26.09.2016 - Vorinstanzaktenzeichen 700 XIV 701/16
Vorinstanz: LG Kassel, vom 11.01.2017 - Vorinstanzaktenzeichen 3 T 613/16