Kontakt : 0221 / 93 70 18 - 0
Wir durchsuchen unsere Datenbank

BGH - Entscheidung vom 09.01.2019

5 StR 466/18

Normen:
StGB § 21
StGB § 63 S. 1

BGH, Urteil vom 09.01.2019 - Aktenzeichen 5 StR 466/18

DRsp Nr. 2019/2259

Erfüllung der Voraussetzungen des § 21 StGB in einem Fall der verminderten Einsichtsfähigkeit; Absehen von einer Unterbringung nach § 63 StGB aufgrund des Nichtvorliegens einer erheblichen Tat im Sinne von § 63 S. 1 StGB ; Bestehen einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades bzgl. der Begehung schwerwiegender Taten; Leiden an einer paranoiden Psychose

Eine erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit ist strafrechtlich erst dann von Bedeutung, wenn sie das Fehlen der Einsicht zur Folge hat, während die Schuld des Angeklagten nicht gemindert wird, wenn er ungeachtet seiner erheblich verminderten Einsichtsfähigkeit das Unrecht seines Tuns zum Tatzeitpunkt tatsächlich eingesehen hat. Die Voraussetzungen des § 21 StGB sind in den Fällen der verminderten Einsichtsfähigkeit nur dann zu bejahen, wenn die Einsicht gefehlt hat und dies dem Täter vorzuwerfen ist.

Tenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 14. Mai 2018 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Normenkette:

StGB § 21 ; StGB § 63 S. 1;

Gründe

Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt. Das hiergegen gerichtete Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft, das vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat mit der Sachrüge Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der seit mindestens 2011 an einer paranoiden Psychose leidende Beschuldigte im September 2017 nach einem misslungenen Selbsttötungsversuch für die Dauer von zwei Wochen gemäß § 12 HmbPsychKG in einer geschlossenen Station für psychisch Kranke in H. untergebracht.

a) Fünf Tage nach seiner Aufnahme trank er ca. eine Flasche Korn, die von einem Mitpatienten eingeschmuggelt worden war. Er geriet in Streit mit einer Mitpatientin. Als eine Pflegerin schlichtend eingriff und den Beschuldigten aufforderte, auf sein Zimmer zu gehen, stritt er sich mit dieser, sagte: „Ich stech‘ dich ab“, lachte sie aus und kündigte an, ihr ins Gesicht zu spucken. Eine weitere Pflegerin kam dazu, um beide voneinander zu trennen. Dabei entwickelte sich ein Gerangel. Der Beschuldigte ging schließlich hinter der einen Pflegerin her. Als diese sich zu ihm umdrehte, spuckte er ihr ins Gesicht und schlug ihr zunächst mit der flachen Hand, dann mit der Faust ins Gesicht. Länger anhaltende Schmerzen erlitt sie hierdurch nicht.

Wegen des Übergriffs wurde die Fixierung des Beschuldigten angeordnet. Ihm gelang es, zuvor aus seinem Zimmer ein Einhandmesser mit einer ca. zehn Zentimeter langen Klinge sowie eine Dose mit Reizgas zu nehmen und in seinen Hosenbund zu stecken. Nach dem Fixieren von Händen und Füßen äußerte er, er werde die zuvor verletzte Pflegerin und eine anwesende weitere Pflegerin abstechen. Er befreite seine linke Hand aus der Fixierung, ergriff sein Messer, schnitt die Fixiergurte für die rechte Hand und die Füße auf und wollte die Station verlassen. Dabei hielt er das Messer und das Reizgasspray sichtbar in den Händen. Einen Pfleger forderte er auf, die Tür zu öffnen, was dieser aus Angst vor einer Eskalation tat.

b) Von herbeigerufenen Polizeibeamten wurde der Beschuldigte in einem nahegelegenen Wohngebiet angetroffen. Er stand mittig auf der Fahrbahn und hielt Messer und Spray weiterhin in der Hand. Als er der Polizisten gewahr wurde, die „Stehen bleiben, Polizei“ gerufen hatten, betätigte er einmal das Pfefferspray in Richtung von zwei Beamtinnen. Diese mussten zu seiner Verfolgung durch den Sprühnebel laufen, wodurch eine von ihnen einen eineinhalb Stunden andauernden Hustenanfall erlitt. Der Beschuldigte sprühte ein zweites Mal in Richtung der anderen Polizistin, die hierdurch Schmerzen in den Augen verspürte, ließ dann Messer und Spray fallen und sich festnehmen. Er wurde zurück auf seine Station gebracht und dort erneut fixiert. Auf ihn wirkte im Tatzeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration von etwa 2,6 g/l ein.

c) Nach diesem Vorfall blieb der Beschuldigte weiterhin in der Klinik in einer geschlossenen Station. Nach ca. zwei Monaten Aufenthalt erhielt er erstmals Ausgang in den Hof der Klinik. Dort konsumierte er Alkohol, den er auf die Station geschmuggelt hatte. Absprachewidrig begab er sich in einen nahegelegenen Supermarkt, kaufte dort ein Küchenmesser mit ca. zehn Zentimeter langer Klinge und wollte mit einem vor dem Krankenhaus haltenden Taxi zu einer Bank fahren. Ein hinzugekommener Pfleger überredete ihn, wieder zurück ins Krankenhaus zu gehen. Als sie dieses erreichten, zog der Beschuldigte das noch verpackte Messer aus seiner Jacke und öffnete die Verpackung, wobei er sich an der Hand verletzte. Er hielt die Klinge nun in Richtung des Pflegers und eines Wachmanns und sagte: „Bleibt alle weg!“ Damit wolle er sie daran hindern, seine Flucht zu unterbinden. Als er wieder Richtung Parkplatz ging, redete der Pfleger auf ihn ein, was ihn schließlich dazu veranlasste, das Messer wegzuwerfen. Die Blutalkoholkonzentration betrug dabei 1,5 Promille.

2. Das Landgericht hat angenommen, die drei festgestellten Taten seien „im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit nach § 21 StGB“ begangen worden. Der Beschuldigte leide seit mindestens 2011 an einer paranoiden Psychose, die auch Grund für seine Alkoholabhängigkeit sei. In allen drei Fällen sei es zu einer „erheblichen Einschränkung der Einsichtsfähigkeit in das Unrecht der Tat“ gekommen. An einer Unterbringung nach § 63 StGB hat sich die Strafkammer gehindert gesehen, weil es sich bei den Anlasstaten nicht um erhebliche Taten im Sinne von § 63 Satz 1 StGB handele und keine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehe, dass der Beschuldigte schwerwiegendere Taten begehen werde.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet.

1. Das Landgericht hat zu Unrecht die Voraussetzungen des § 21 StGB bejaht.

a) Eine erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit ist strafrechtlich erst dann von Bedeutung, wenn sie das Fehlen der Einsicht zur Folge hat, während die Schuld des Angeklagten nicht gemindert wird, wenn er ungeachtet seiner erheblich verminderten Einsichtsfähigkeit das Unrecht seines Tuns zum Tatzeitpunkt tatsächlich eingesehen hat. Die Voraussetzungen des § 21 StGB sind in den Fällen der verminderten Einsichtsfähigkeit nur dann zu bejahen, wenn die Einsicht gefehlt hat und dies dem Täter vorzuwerfen ist (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 26. Mai 2015 – 3 StR 143/15 mwN).

b) Dies hat das Landgericht ersichtlich nicht bedacht, denn es stellt wiederholt allein darauf ab, dass bereits die bloße Verminderung der Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten zur Anwendung von § 21 StGB führe. Dieser unzutreffende Ausgangspunkt der Schuldfähigkeitsbestimmung hat auch Auswirkungen auf die Prüfung der Voraussetzungen des § 63 StGB , nämlich des für die Anordnung erforderlichen Zustands bei Tatbegehung und der Gefährlichkeitsprognose.

2. Die an sich rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum Tatgeschehen können nicht bestehen bleiben, weil sie den Beschuldigten belasten und er sie mangels Beschwer nicht mit einem Rechtsmittel angreifen konnte (vgl. auch BGH, Urteil vom 7. Februar 2012 – 1 StR 542/11, NStZ-RR 2012, 355 , 357).

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Bei sicherem Ausschluss von Schuldunfähigkeit ist das Sicherungsverfahren nach § 416 StPO in das Strafverfahren überzuleiten. Das Sicherungsverfahren ist nach Wortlaut und Sinn des § 413 StPO für lediglich vermindert Schuldfähige nicht vorgesehen (BGH, Urteil vom 28. Oktober 1982 – 4 StR 472/82, BGHSt 31, 132 , 136).

b) Bezüglich der Gefährlichkeitsprognose wird zu bedenken sein, dass der Einsatz eines Pfeffersprays gegenüber Menschen in aller Regel eine erhebliche Tat im Sinne von § 63 Satz 1 StGB darstellt (vgl. näher BGH, Urteil vom 26. Juli 2018 – 3 StR 174/18). Dies wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass sich ein solcher Angriff – wie nach den bisher getroffenen Feststellungen – gegen Polizeibeamte im öffentlichen Straßenraum richtet. Bei geringfügigeren Übergriffen innerhalb einer Betreuungseinrichtung stellt der Bundesgerichtshof zwar darauf ab, dass im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose aggressives Verhalten gegenüber damit erfahrenem Personal nicht ohne weiteres dem Verhalten in Freiheit gleichgestellt werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Februar 2011 – 4 StR 635/10, NStZ-RR 2011, 202 mwN). Auch bei der Gewichtung von Bedrohungen und einfachen körperlichen Attacken gegen Polizeibeamte ist in den Blick zu nehmen, dass Angriffe gegen Personen, die professionell mit derartigen Konfliktsituationen umgehen, dafür entsprechend geschult sind und in der konkreten Situation über besondere Hilfs- und Schutzmittel verfügen, möglicherweise weniger gefährlich sind (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Februar 2017 – 4 StR 565/16, NStZ-RR 2017, 308 , 309 mwN). Nach den bisherigen Feststellungen ist allerdings nicht ersichtlich, dass sich die betroffenen Polizeibeamtinnen wirksam gegen die Pfeffersprayattacken hätten wehren können.

Schließlich ist zu beachten, dass die vom Sachverständigen und der Strafkammer als eher für wahrscheinlich gehaltene Eigengefährdung durchaus auch mit einer erheblichen Fremdgefährdung einhergehen kann, selbst wenn ein nicht schuldfähig Handelnder mögliche Folgen für Dritte ausblendet (vgl. insoweit BGH, Urteil vom 10. Dezember 2009 – 4 StR 435/09, NStZ-RR 2010, 105 ). Nach den bisherigen Feststellungen wollte sich der Beschuldigte Anfang September 2017 in einem Kellerraum des Klinikums H. durch Entzünden eines Einweggrills – und damit auch unter möglicher Gefährdung Dritter – selbst töten.

Von Rechts wegen

Vorinstanz: LG Hamburg, vom 14.05.2018