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BGH - Entscheidung vom 07.05.2019

5 StR 120/19

Normen:
StGB § 20
StGB § 21
StGB § 63

BGH, Beschluss vom 07.05.2019 - Aktenzeichen 5 StR 120/19

DRsp Nr. 2019/7572

Erforderlichkeit einer Gefährlichkeitsprognose für die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus; Unrechtseinsicht eines vermindert Schuldfähigen bei Vorliegen einer paranoiden Schizophrenie

Die für die Maßregelanordnung erforderliche Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln. Es stellt ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher Taten dar, wenn ein Täter trotz bestehenden Defekts über Jahre hinweg keine Straftaten begangen hat.

Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 3. Dezember 2018 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch haben die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen Bestand.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

Normenkette:

StGB § 20 ; StGB § 21 ; StGB § 63 ;

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf mehrerer vorsätzlicher Körperverletzungsdelikte freigesprochen und dessen Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die gegen das Urteil gerichtete Revision erzielt mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts weitgehenden Erfolg.

1. Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Hinsichtlich der ersten Anlasstat ist entsprechend den Ausführungen des Generalbundesanwalts schon nicht festgestellt, dass der aus Kamerun stammende und nach Diagnose des psychiatrischen Sachverständigen an einer paranoiden Schizophrenie leidende Angeklagte, wie es nach § 63 Satz 1 StGB erforderlich ist, zumindest im Zustand verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB ) gehandelt hat.

aa) Nach den Feststellungen des Landgerichts wurde der nicht im Besitz eines gültigen Fahrausweises befindliche Angeklagte am 16. August 2016 in der Berliner S-Bahn kontrolliert. Den Kontrolleuren erklärte er, dass er einen Anspruch auf ein Ticket vom Sozialamt habe. Außerdem sei es unwürdig, wenn ein Vater nicht mit der Bahn fahren dürfe. Er müsse seine Tochter aus dem Kindergarten abholen und werde weiterfahren. Der Aufforderung der Kontrolleure, die S-Bahn zu verlassen, kam er nicht nach. Einem die Kontrolleure unterstützenden Fahrgast versetzte er mehrere Faustschläge und Fußtritte. Außerdem beleidigte er ihn als "Motherfucker".

Das Landgericht hat - dem Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen folgend - angenommen, bei der Tat sei ein aus der paranoiden Schizophrenie entspringender "Größen- bzw. Sendungswahn" des Angeklagten handlungsleitend gewesen. Sein akutes psychotisches Erleben habe zu einem aggressiven Impulsdurchbruch geführt, aufgrund dessen die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten mindestens erheblich vermindert und nicht ausschließbar aufgehoben gewesen sei.

bb) Damit sind die Voraussetzungen der §§ 20 , 21 StGB nicht dargetan. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine verminderte Einsichtsfähigkeit strafrechtlich erst dann von Bedeutung, wenn sie das Fehlen der Unrechtseinsicht zur Folge hat; ein Täter, der trotz verminderter Einsichtsfähigkeit im konkreten Fall die Einsicht in das Unrecht der Tat gehabt hat, ist - sofern nicht seine Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt war - voll schuldfähig (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 25. Juli 2012 - 1 StR 332/12; vom 20. November 2012 - 1 StR 504/12, BGHR StGB § 63 Schuldunfähigkeit 5, jeweils mwN). Auf die Feststellung einer verminderten Einsichtsfähigkeit kann eine Unterbringung nach § 63 StGB deshalb nicht gestützt werden.

cc) Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, dass die durch den Sachverständigen diagnostizierte psychische Erkrankung bei der Tat überhaupt relevante Auswirkungen auf die Unrechtseinsicht des Angeklagten gehabt haben könnte. Ein psychotisches Erleben, etwa in Form imperativer Stimmen, aufgrund dessen sich der Angeklagte berechtigt gefühlt haben könnte, den Geschädigten zu schlagen, zu treten und zu beleidigen, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen. Er hat sich für sein Tun auch nicht etwa auf eine aus einer Überlegenheitsstellung herrührende Berechtigung berufen, vielmehr ausgeführt, sich gegen Bedrängungen gewehrt zu haben.

b) Es ist nicht hinreichend belegt, dass der Angeklagte bei der zweiten Anlasstat ohne Unrechtseinsicht gehandelt hat.

aa) Das Landgericht hat insoweit festgestellt: Am 14. Juli 2017 traf der Angeklagte in der Berliner S-Bahn zufällig die Geschädigte K. , mit der er 2012 eine kurzzeitige Beziehung geführt hatte. Er beschuldigte sie, ihm Jahre zuvor nach Paris gefolgt und seine Papiere gestohlen zu haben. Deren Lebensgefährte fragte ihn, was er wolle. Daraufhin versetzte ihm der Angeklagte einen Faustschlag ins Gesicht. Im weiteren Verlauf schlug er die Geschädigte K. und riss ihr mehrere Haarbüschel aus. Auch deren Lebensgefährten schlug er nochmals.

Der Sachverständige und sich ihm anschließend das Landgericht haben angenommen, dass aufgrund einer Exazerbation der paranoiden Schizophrenie und eines damit erneut einhergehenden Impulsdurchbruchs die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten aufgehoben gewesen sei. Dieser sei wahnhaft davon ausgegangen, dass die Geschädigte ihm Papiere entwendet und mit französischen Behörden gegen ihn konspiriert habe. Deren Lebensgefährten habe er als Komplizen in seine Wahnvorstellungen eingebunden.

bb) Abermals ergeben die Darlegungen des Landgerichts nicht, dass der Angeklagte sich wahnhaft legitimiert gefühlt haben könnte, der Geschädigten und deren Lebensgefährten gravierende körperliche Verletzungen zuzufügen. Damit steht nicht fest, dass er die Tat ohne Unrechtseinsicht begangen hat. Der vom Landgericht zugrunde gelegte "Impulsdurchbruch" würde eher für eine Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit sprechen. Mit der Frage einer Verminderung oder Aufhebung der Steuerungsfähigkeit befasst sich die Strafkammer aber wie schon bei der ersten Tat nicht. Eine eigenständige Beurteilung der Schuldfähigkeit ist dem Revisionsgericht verwehrt.

2. Auch der Freispruch war aufzuheben. Der Umstand, dass allein der Angeklagte Revision eingelegt hat, steht dem nicht entgegen. Wird die Anordnung einer Unterbringung nach § 63 StGB auf eine Revision des Angeklagten hin aufgehoben, hindert das Schlechterstellungsverbot des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO das neue Tatgericht nicht, an Stelle einer Unterbringung nunmehr eine Strafe zu verhängen (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO ).

3. Die Sache bedarf damit neuer Verhandlung und Entscheidung, naheliegend unter Hinzuziehung eines anderen psychiatrischen Sachverständigen. Für den Fall, dass auch das neue Tatgericht zur Erörterung der Voraussetzungen des § 63 StGB gelangt, wird es Folgendes zu beachten haben:

a) Die Diagnose einer paranoiden Schizophrenie und deren konkrete Auswirkungen auf die begangenen Taten werden eingehender abzuhandeln sein, als dies im angefochtenen Urteil geschehen ist. Wendungen wie etwa diejenige, die akute Psychose zu den Tatzeiten erweise sich maßgebend an einer durch Zeugen wahrgenommenen "durchgängigen körperlichen Angespanntheit des Angeklagten" (UA S. 14), genügen hierfür nicht. Die Entwicklung des Angeklagten in der Zeit der einstweiligen Unterbringung wird ebenfalls näher aufzuklären und zu erläutern sein.

b) Die für die Maßregelanordnung erforderliche Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln (vgl. BGH, Urteile vom 17. August 1977 - 2 StR 300/77, BGHSt 27, 246 , 248 f.; vom 17. November 1999 - 2 StR 453/99, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 27; Beschluss vom 8. Januar 2014 - 5 StR 602/13, NJW 2014, 565 , 566). Dabei stellt es nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher Taten dar, wenn ein Täter trotz bestehenden Defekts über Jahre hinweg keine Straftaten begangen hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. März 2009 - 2 StR 42/09, NStZ-RR 2009, 198 , 199; vom 13. Dezember 2011 - 5 StR 422/11, StV 2012, 209 Rn. 6; vom 4. Juli 2012 - 4 StR 224/12, StV 2013, 206 Rn. 11, jeweils mwN).

Vorliegend wird danach zu erörtern sein, dass der seit mehr als zehn Jahren an der Krankheit leidende Angeklagte im Inland unbestraft ist. Die näheren Umstände eines nach dessen eigenen Angaben in Frankreich begangenen Körperverletzungsdelikts vermochte das Landgericht nicht aufzuklären. Darüber hinaus wird zu berücksichtigen sein, dass zwischen den verfahrensgegenständlichen Taten ein nicht unerheblicher Zeitraum liegt, wobei sich die erste durch das angefochtene Urteil herangezogene Anlasstat bereits im Jahr 2016 ereignet hat.

4. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen haben Bestand. Neue Feststellungen sind möglich, sofern sie den bisherigen nicht widersprechen.

Vorinstanz: LG Berlin, vom 03.12.2018