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BGH - Entscheidung vom 14.05.2019

X ZR 94/18

Normen:
ZPO § 178 Abs. 1
ZPO § 180
BGB § 242 Cd
ZPO § 178 Abs. 1
ZPO § 180
BGB § 242 (Cd)
ZPO § 178
ZPO § 181
BGB § 242
GG Art. 103 Abs. 1

Fundstellen:
DZWIR 2020, 84
FamRZ 2019, 1795
MDR 2019, 1275
MDR 2019, 1433
NJW 2019, 2942
WM 2019, 1926

BGH, Beschluss vom 14.05.2019 - Aktenzeichen X ZR 94/18

DRsp Nr. 2019/12744

Bewusste und zielgerichtete Herbeiführung eines Irrtums durch den Zustellungsadressat über seinen tatsächlichen Lebensmittelpunkt mit Berufen auf die Fehlerhaftigkeit einer Ersatzzustellung an diesem scheinbaren Wohnsitz als unzulässige Rechtsausübung; Erfordernis der Sicherstellung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und die Beachtung der gesetzlichen Schranken für eine wirksame Ersatzzustellung

a) Es kann eine unzulässige Rechtsausübung darstellen, wenn der Zustellungsadressat, der einen Irrtum über seinen tatsächlichen Lebensmittelpunkt bewusst und zielgerichtet herbeigeführt hat, sich auf die Fehlerhaftigkeit einer Ersatzzustellung an diesem scheinbaren Wohnsitz beruft.b) Dabei erfordern es die Sicherstellung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und die Beachtung der gesetzlichen Schranken für eine wirksame Ersatzzustellung grundsätzlich, dass der Zustellungsadressat bei dem Gericht oder einem Verfahrensbeteiligten bewusst einen Irrtum über seinen tatsächlichen Lebensmittelpunkt als Voraussetzung für eine Zustellung an dem betreffenden Ort hervorgerufen hat.c) Fehlt es an einem solchen Verfahrensbezug des bewusst hervorgerufenen Anscheins einer Wohnung, darf es dem Zustellungsadressaten regelmäßig nur dann versagt werden, sich auf die Unwirksamkeit der Ersatzzustellung zu berufen, wenn er diesen Anschein zumindest insofern zielgerichtet herbeigeführt hat, als er Auswirkungen seines Handelns auf eine Zustellung in einem anhängigen oder möglicherweise bevorstehenden Verfahren in Kauf genommen hat oder sich ihm solche Auswirkungen zumindest aufdrängen mussten (Fortführung von BGH, Urteil vom 16. Juni 2011 - III ZR 342/09, BGHZ 190, 99 ).

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten wird der Beschluss des 4. Zivilsenats des Kammergerichts vom 22. März 2018 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 30.997 € festgesetzt.

Normenkette:

ZPO § 178 ; ZPO § 181 ; BGB § 242 ; GG Art. 103 Abs. 1 ;

Gründe

I. Das klagende deutsche Luftverkehrsunternehmen beförderte den als plastischer Chirurg tätigen Beklagten in den Jahren 2013 und 2014 auf insgesamt 14 nationalen und internationalen Flügen. Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Zahlung der Flugpreise in Anspruch. Sie behauptet, ihre Beförderungsleistungen seien nicht bezahlt worden. Der Beklagte habe sie dadurch erschlichen, dass die Flugtickets durch Legenden gebucht und die Flugpreise mit verfälschten Prämienmeilen aus verschiedenen osteuropäischen Staaten ausgeglichen worden seien.

In der Klageschrift ist als Anschrift des Beklagten eine Berliner Adresse mit dem Zusatz "c/o D. " angegeben; die Klageschrift ist vom Postzusteller am angegebenen Ort in den zur Wohnung D. gehörenden Briefkasten eingelegt worden. Mit Versäumnisurteil im schriftlichen Vorverfahren hat das Landgericht den Beklagten antragsgemäß zur Zahlung von 30.997 € nebst Zinsen verurteilt: das Versäumnisurteil ist dem Beklagten am 1. Oktober 2015 auf dieselbe Weise zugestellt worden. Nach entsprechender Vertretungsanzeige sind dem Beklagten ferner am 30. Oktober 2015 die Klage und am 2. November 2015 das Versäumnisurteil durch Zustellung an seinen Prozessbevollmächtigten übermittelt worden.

Das Landgericht hat den am 3. November 2015 eingegangenen Einspruch verworfen. Die Berufung des Beklagten hat das Berufungsgericht durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.

II. Die Beschwerde des Beklagten ist begründet. Die Zurückweisung der Berufung beruht auf einer Verletzung des Anspruchs des Beklagten auf rechtliches Gehör.

1. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, das Landgericht habe den Einspruch des Beklagten gegen das Versäumnisurteil zu Recht als verfristet verworfen. Es habe zutreffend angenommen, dass Klage und Versäumnisurteil dem Beklagten durch Einlegung in den Briefkasten der Wohnung D. wirksam zugestellt worden seien. Ob der Beklagte dort gewohnt habe, könne offenbleiben. Ihm sei es jedenfalls nach Treu und Glauben verwehrt, sich auf die Unwirksamkeit der Ersatzzustellung zu berufen. Zwar genüge der bloße, dem Empfänger zurechenbare Rechtsschein einer Wohnung für eine ordnungsgemäße Zustellung nicht. Der Beklagte habe aber bewusst und zielgerichtet einen Irrtum über seinen tatsächlichen Lebensmittelpunkt herbeigeführt. Nach den Bedingungen des Miles&More-Programms sei gerade ein Wohnsitz in einem der teilnehmenden Länder erforderlich und seien Angaben zur Person korrekt und wahrheitsgemäß zu machen. Dagegen habe der Beklagte verstoßen, indem er am 1. November 2014 gegenüber der Miles & More GmbH die Berliner Anschrift mit dem Zusatz "bei D. " angegeben habe, obwohl er nach eigenem Vorbringen seit Mai 2014 in Moskau wohne.

2. Dies hält der durch die zulässige Nichtzulassungsbeschwerde veranlassten Überprüfung auf eine Gehörsverletzung nicht stand. Die Feststellungen des Berufungsgerichts rechtfertigen die Verwerfung des Einspruchs gegen das Versäumnisurteil nicht; damit ist dem Beklagten die wirksame Möglichkeit einer Überprüfung des Versäumnisurteils auf dessen sachliche Richtigkeit genommen und sein Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG ) verletzt.

a) Liegen die Voraussetzungen für eine Ersatzzustellung einer Klage oder eines Versäumnisurteils nicht vor, wird der Beklagte durch die Annahme einer wirksamen Zustellung in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (vgl. BGH, Urteil vom 29. März 2017 - VIII ZR 11/16, BGHZ 214, 294 Rn. 53; Urteil vom 16. Juni 2011 - III ZR 342/09, BGHZ 190, 99 Rn. 14). Entsprechendes gilt für ein Urteil, mit dem der Einspruch des Beklagten gegen ein solches Versäumnisurteil verworfen wird, und für eine Entscheidung des Berufungsgerichts, mit dem die Berufung des Beklagten gegen das den Einspruch verwerfende Urteil des Gerichts des ersten Rechtszuges zurückgewiesen wird. Denn durch derartige Entscheidungen wird die Verletzung des Anspruchs des Beklagten auf rechtliches Gehör perpetuiert (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Oktober 1987 - 1 BvR 198/87, NJW 1988, 2361 ).

b) Im Streitfall fehlt es, wie auch das Berufungsgericht nicht verkennt, an einer wirksamen Ersatzzustellung des Versäumnisurteils.

aa) Die Ersatzzustellung setzt voraus, dass die Wohnung oder der Geschäftsraum des Adressaten an dem Ort, an dem zugestellt werden soll, tatsächlich von dem Adressaten genutzt wird. Der bloße, dem Empfänger zurechenbare Rechtsschein, dieser unterhalte unter der jeweiligen Anschrift eine Wohnung oder Geschäftsräume, genügt für eine ordnungsgemäße Zustellung nicht. Nach den §§ 178 bis 181 ZPO kann nur in der Wohnung bzw. den Geschäftsräumen oder durch Einwurf in die hierzu gehörenden Postempfangsvorrichtungen zugestellt werden, nicht aber dort, wo lediglich der Anschein einer Wohnung oder eines Geschäftsraums besteht (BGHZ 190, 99 Rn. 13).

bb) Eine erweiternde Auslegung dieser Bestimmungen, nach der der vom Empfänger zurechenbar gesetzte Rechtsschein einer Wohnung oder eines Geschäftsraums genügt, scheidet aus. Wegen ihrer Bedeutung für die Wahrung des Grundrechts auf rechtliches Gehör und im Interesse der Rechtssicherheit haben die Zustellungsvorschriften formalen Charakter. Dieser verbietet es, über den Wortlaut der Bestimmungen hinausgehend eine Zustellung an dem Ort zuzulassen, an dem lediglich der (zurechenbare) Anschein einer Wohnung oder eines Geschäftsraums des Empfängers besteht. Da die Voraussetzungen, unter denen ein solcher Anschein und seine Zurechenbarkeit gegenüber dem Empfänger angenommen werden könnten, wesentlich von den konkreten Verhältnissen abhingen, würde ansonsten die rechtliche Beurteilung der einzelnen Zustellung mit Unsicherheiten belastet, die mit ihrem Zweck unvereinbar wären (BGHZ 190, 99 Rn. 14).

c) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist allerdings anerkannt, dass es eine unzulässige Rechtsausübung darstellt, wenn der Zustellungsadressat, der einen Irrtum über seinen tatsächlichen Lebensmittelpunkt bewusst und zielgerichtet herbeigeführt hat, sich auf die Fehlerhaftigkeit einer Ersatzzustellung an diesem scheinbaren Wohnsitz beruft (BGHZ 190, 99 Rn. 15; BGH, Beschluss vom 7. Oktober 2010 - V ZB 37/10, NJW-RR 2011, 233 Rn. 17; Beschluss vom 20. Oktober 2011 - V ZB 131/11, juris Rn. 11). Hierbei handelt es sich aber nicht um die Erleichterung einer wirksamen Zustellung im Wege der objektiven Zurechnung eines Rechtsscheins. Vielmehr wird dem Empfänger im Lichte des das gesamte Recht beherrschenden Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB ) unter engen - und deshalb verfassungsrechtlich unbedenklichen (BVerfG, Beschluss vom 15. Oktober 2009 - 1 BvR 2333/09, NJW-RR 2010, 421 Rn. 18) - Voraussetzungen lediglich versagt, sich auf die Unwirksamkeit einer Zustellung zu berufen.

Infolgedessen reicht die Hervorrufung des Anscheins einer Wohnung nicht schon dann aus, wenn sie nicht lediglich auf Nachlässigkeit beruht, sondern dem Zustellungsadressaten bewusst ist. Vielmehr erfordern es die Sicherstellung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und die Beachtung der gesetzlichen Schranken für eine wirksame Ersatzzustellung grundsätzlich, dass der Zustellungsadressat bei dem Gericht oder einem Verfahrensbeteiligten bewusst einen Irrtum über seinen tatsächlichen Lebensmittelpunkt als Voraussetzung für eine Zustellung an dem betreffenden Ort hervorruft. Fehlt es an einem solchen Verfahrensbezug des bewusst hervorgerufenen Anscheins einer Wohnung, darf es dem Zustellungsadressaten regelmäßig nur dann versagt werden, sich auf die Unwirksamkeit der Ersatzzustellung zu berufen, wenn er diesen Anschein zumindest insofern zielgerichtet herbeigeführt hat, als er Auswirkungen seines Handelns auf eine Zustellung in einem anhängigen oder möglicherweise bevorstehenden Verfahren in Kauf genommen hat oder sich ihm solche Auswirkungen zumindest aufdrängen mussten.

d) Nach diesen Maßstäben hat das Berufungsgericht auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen rechtsfehlerhaft angenommen, der Beklagte könne sich nicht auf die Unwirksamkeit der Zustellung berufen.

aa) Zwar mögen diese Feststellungen die Annahme rechtfertigen, der Beklagte habe gegenüber der Miles & More GmbH bewusst und zielgerichtet einen Irrtum über seinen tatsächlichen Lebensmittelpunkt erregt, indem er dieser gegenüber eine Berliner Anschrift mit dem Zusatz "bei D. " angegeben hat.

bb) Das Berufungsgericht hat aber keine Feststellungen dazu getroffen, ob und inwiefern sich ein Irrtum der Miles & More GmbH auf die Zustellung der Klage im vorliegenden Rechtsstreit ausgewirkt hat und ob der Beklagte Auswirkungen seines Handelns gegenüber der Miles & More GmbH auf diese Zustellung in Kauf genommen hat oder sich ihm solche Auswirkungen zumindest aufdrängen mussten.

Nach den von ihm in Bezug genommenen, aber in den Gründen nicht erörterten Feststellungen des Landgerichts hat der Beklagte auch der Klägerin dieselbe Anschrift, jedoch mit dem Zusatz "c/o D. ", mitgeteilt. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kann beiden Zusätzen nicht ohne weiteres die gleiche Bedeutung beigemessen werden. Auch wenn es üblich sein mag, auch den c/o-Zusatz bei Untermietern oder anderen Personen zu verwenden, die eine Wohnung mitbewohnen, kann dieser Zusatz - der, wie das Landgericht als allgemeinkundig angesehen hat, als "care of" gelesen wird - ebenso lediglich besagen, dass die betreffende Wohnung als postalische Adresse verwendet werden kann, weil dort eingehende Post an den Adressaten weitergeleitet werden wird.

Zwar hat sich das Berufungsgericht auch darauf gestützt, dass der Beklagte die entsprechenden Angaben gemacht habe, obwohl es für seine Teilnahmeberechtigung am Miles&More-Programm auf einen inländischen Wohnsitz angekommen sei und der Kunde in den Bedingungen des Prämienprogramms sowohl über die Definition eines Wohnsitzes als auch über das Erfordernis wahrheitsgemäßer Angaben belehrt worden sei. Es hat jedoch nicht festgestellt, dass und inwiefern hierdurch eine Fehlvorstellung der Klägerin verursacht worden ist und sich dem Beklagten entsprechende Auswirkungen auf eine Klagezustellung aufdrängen mussten. Dies liegt auch nicht auf der Hand, zumal der gegenüber der Klägerin selbst verwendete c/o-Zusatz wegen seiner fehlenden Eindeutigkeit zur Vortäuschung eines inländischen Wohnsitzes allenfalls eingeschränkt geeignet war und das Berufungsgericht das Vorbringen des Beklagten als zutreffend unterstellt, der Klägerin sei bekannt gewesen, dass er sich in Russland aufhalte.

3. Der angefochtene Beschluss ist hiernach aufzuheben, und die Sache ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde - an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 Abs. 7 ZPO ).

Vorinstanz: LG Berlin, vom 06.02.2017 - Vorinstanzaktenzeichen 28 O 256/15
Vorinstanz: KG, vom 22.03.2018 - Vorinstanzaktenzeichen 4 U 26/17
Fundstellen
DZWIR 2020, 84
FamRZ 2019, 1795
MDR 2019, 1275
MDR 2019, 1433
NJW 2019, 2942
WM 2019, 1926