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BGH - Entscheidung vom 12.12.2019

V ZR 69/19

Normen:
GG Art. 103 Abs. 1
BGB § 105 Abs. 2

Fundstellen:
FamRZ 2020, 527

BGH, Beschluss vom 12.12.2019 - Aktenzeichen V ZR 69/19

DRsp Nr. 2020/1688

Bewilligung der Löschung des Wohnungsrechts; Würdigung der Ausführungen des Sachverständigen ohne erneute Anhörung zur Geschäftsunfähigkeit

1. Wenn sich das Berufungsgericht von der Richtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung nicht zu überzeugen vermag, ist es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet. Hierzu bedarf es bei einem Sachverständigenbeweis einer erneuten Anhörung des Sachverständigen durch das Berufungsgericht immer dann, wenn es dessen Ausführungen abweichend von der Vorinstanz würdigen will, insbesondere ein anderes Verständnis der Ausführungen des Sachverständigen zugrunde legen und damit andere Schlüsse aus diesen ziehen will als der Erstrichter. 2. Die Annahme einer Geschäftsunfähigkeit nach § 105 Abs. 2 BGB ist kein medizinischer Befund, sondern eine Rechtsfolge, deren Voraussetzungen das Gericht unter kritischer Würdigung des Sachverständigengutachtens festzustellen hat.

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 12. März 2019 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an einen anderen Zivilsenat des Berufungsgerichts zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens beträgt 21.000 €.

Normenkette:

GG Art. 103 Abs. 1 ; BGB § 105 Abs. 2 ;

Gründe

I.

Die Klägerin ist Alleinerbin ihrer im September 2007 verstorbenen Mutter. Zum damaligen Zeitpunkt war die Klägerin 27 Jahre alt. In dem Testament hatte die Erblasserin den Beklagten, der ihr Bruder und Onkel der Klägerin ist, zum Testamentsvollstrecker eingesetzt und bestimmt, dass die Testamentsvollstreckung mit dem 30. Lebensjahr der Klägerin (Oktober 2009) enden solle. Zum Nachlass gehört u.a. das Elternhaus der Verstorbenen. Auf Veranlassung des Beklagten fanden sich am 2. Februar 2008 ein Notar und jedenfalls die Parteien in dem Haus ein. Anlässlich dieser Zusammenkunft unterzeichnete die Klägerin eine auf Geheiß des Beklagten von dem Notar vorbereitete Erklärung, in der sie dem Beklagten an dem gesamten Grundbesitz, auf dem sich das Haus befindet, unter Ausschluss des Eigentümers ein unentgeltliches lebenslanges Wohnungsrecht bewilligte und die Eintragung in das Grundbuch beantragte. Die Eintragung erfolgte im September 2010.

Das Landgericht hat den Beklagten zur Bewilligung der Löschung des Wohnungsrechts verurteilt. Das Oberlandesgericht hat die Klage abgewiesen. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde will die Klägerin die Zulassung der Revision erreichen. Der Beklagte beantragt die Zurückweisung des Rechtsmittels.

II.

Nach Ansicht des Berufungsgerichts steht der Klägerin ein Anspruch auf Berichtigung des Grundbuchs gemäß § 894 BGB nicht zu. Sie habe dem Beklagten wirksam ein Wohnungsrecht eingeräumt. Die Voraussetzungen für eine Nichtigkeit ihrer Willenserklärung gemäß § 105 Abs. 1 BGB i.V.m. § 104 Nr. 2 , § 105 Abs. 2 BGB habe sie nicht nachgewiesen. Eine Bindung an die Feststellungen des Landgerichts, das sich für die von ihm bejahte vorübergehende Störung der Geistestätigkeit der Klägerin auf das gerichtliche Sachverständigengutachten stütze, bestehe nicht. Denn das Landgericht nehme zu Unrecht an, dass die Ausführungen des Sachverständigen den Schluss auf eine Nichtigkeit der Willenserklärung nach § 105 Abs. 2 BGB zuließen.

III.

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet. Sie rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht entgegen § 529 Abs. 1 Nr. 1 , §§ 398 , 402 ZPO den gerichtlichen Sachverständigen nicht erneut angehört hat, obwohl es dessen Ausführungen anders gewürdigt hat als das Landgericht. Dadurch hat es den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG ) in entscheidungserheblicher Weise verletzt (vgl. BGH, Beschluss vom 6. März 2019 - IV ZR 128/18, NJW-RR 2019, 665 Rn. 5 f.).

1. Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung die von dem Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Solche Zweifel können sich auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht, wie hier, das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als das Gericht der Vorinstanz. Wenn sich das Berufungsgericht von der Richtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung nicht zu überzeugen vermag, ist es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet. Hierzu bedarf es bei einem Sachverständigenbeweis einer erneuten Anhörung des Sachverständigen durch das Berufungsgericht immer dann, wenn es dessen Ausführungen abweichend von der Vorinstanz würdigen will, insbesondere ein anderes Verständnis der Ausführungen des Sachverständigen zugrunde legen und damit andere Schlüsse aus diesen ziehen will als der Erstrichter (Senat, Urteil vom 5. November 2010 - V ZR 102/09, NJW-RR 2011, 633 Rn. 22 mwN; BGH, Beschluss vom 6. März 2019 - IV ZR 128/18, NJW-RR 2019, 665 Rn. 7).

2. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeerwiderung steht der Geltendmachung eines Gehörsverstoßes nicht entgegen, dass die Klägerin vor dem Berufungsgericht eine erneute Anhörung des Sachverständigen nicht beantragt hat (allgemein zum Subsidiaritätsgrundsatz vgl. BGH, Beschluss vom 26. September 2017 - VI ZR 81/17, NJW-RR 2018, 404 Rn. 8 mwN). Die Parteien dürfen davon ausgehen, dass das Berufungsgericht, wenn es sich von der Richtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung nicht zu überzeugen vermag, von sich aus seiner Verpflichtung gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu erneuter Tatsachenfeststellung nachkommt, ohne dass es eines Hinweises durch die Parteien bedarf.

3. Das Berufungsgericht hat die Ausführungen des Sachverständigen abweichend vom dem Landgericht gewürdigt, ohne den Sachverständigen erneut anzuhören.

a) Nach Ansicht des Landgerichts lagen bei der Klägerin im Zeitpunkt der Unterschriftsleistung die Voraussetzungen des § 105 Abs. 2 BGB vor; diese Norm stellt eine im Zustand vorübergehender Störung der Geistestätigkeit abgegebene Willenserklärung derjenigen eines Geschäftsunfähigen gleich (BGH, Urteil vom 17. Februar 1992 - II ZR 100/91, NJW 1992, 1503 , 1504). Das Landgericht stützt seine Auffassung, dass aufgrund dieser Störung die freie Willensbestimmung der Klägerin vorübergehend ausgeschlossen gewesen sei (vgl. BGH, Urteil vom 2. Oktober 1970 - V ZR 125/68, WM 1970, 1366 , 1367), auf die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen. Danach steht für das Landgericht fest, dass die Klägerin nach dem Tod ihrer Mutter an einer schwerwiegenden Depression, Zwangs- und wahnhaften Angststörungen gelitten habe und ihre Alltagsfähigkeit aufgrund dessen deutlich eingeschränkt gewesen sei. Das Krankheitsbild allein habe zwar nicht die Geschäftsunfähigkeit der Klägerin zu begründen vermocht. Aufgrund des Sachverständigengutachtens sah das Landgericht es jedoch als erwiesen an, dass die Klägerin in der konkreten Situation ihren Entschluss, die Bewilligung zu unterschreiben, nicht von vernünftigen Erwägungen abhängig gemacht habe, sondern nur, um der sie massiv verängstigenden Situation zu entkommen. Diese situative Wahrnehmung durch die Klägerin sei auf ihre grundsätzliche krankhafte Verarbeitung der Beziehung zu dem Onkel zurückzuführen. Ein solches im hohen Grade irrationales, durch den Fluchttrieb gesteuertes Verhalten stehe der Annahme einer unter Bildung eines freien Willens abgegebenen Erklärung entgegen.

b) Demgegenüber meint das Berufungsgericht, das Sachverständigengutachten böte keine Grundlage für die Annahme einer vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit der Klägerin i.S.d. § 105 Abs. 2 BGB . Mehr als dass die Klägerin bei der Unterschriftsleistung vor dem Notar „innerlich aufgewühlt“ gewesen sei, habe der Sachverständige nicht feststellen können. Aus den übrigen Umständen ließen sich ebenfalls keine Anhaltspunkte gewinnen, die die Feststellung einer Geschäftsunfähigkeit der Klägerin zum damaligen Zeitpunkt überzeugend stützen könnten.

c) Damit würdigt das Berufungsgericht die Feststellungen des Sachverständigen anders als das Landgericht.

Grundlage der Schlussfolgerungen des Sachverständigen, auf die sich das Landgericht zur Begründung des Vorliegens einer für die Klägerin massiv verängstigenden Situation stützt, sind die im Rahmen der Anamnese von dem Sachverständigen erhobenen Angaben der Klägerin, sie habe die Situation als bedrohlich empfunden und ihr durch Unterschriftsleistung entkommen wollen. Rechtsfehlerhaft nimmt das Berufungsgericht an, diese Angaben der Klägerin im Rahmen der Exploration durch den Sachverständigen seien unbeachtlich, weil der Beklagte erstinstanzlich bestritten habe, dass er die Beklage zur Unterschrift gedrängt und die Klägerin sich nicht in der Lage gefühlt habe, das Schriftstück nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass sich auf der von dem Berufungsgericht in Bezug genommenen Seite 23 der Gerichtsakte - worauf die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht hinweist - kein Bestreiten des Beklagten befindet, verkennt das Berufungsgericht, dass es sich bei den von der Klägerin im Rahmen der Anamnese gegenüber dem Sachverständigen geschilderten psychischen Empfindungen und ihrer Wahrnehmung der Situation nicht um dem Bestreiten zugängliche Tatsachen handelt, sondern lediglich um die subjektive Einschätzung der Situation durch die Klägerin. Das Berufungsgericht durfte daher die hierauf basierenden Feststellungen des Sachverständigen nicht als unbeachtlich behandeln. Die von der Beweiswürdigung des Landgerichts abweichende Auffassung des Berufungsgerichts, das Sachverständigengutachten böte keine Grundlage für die Annahme einer Störung der freien Willensbestimmung der Klägerin, beruht damit letztlich auf einer nur unvollständigen Berücksichtigung der Ausführungen des Sachverständigen.

Soweit die Beschwerdeerwiderung unter Hervorhebung einzelner Äußerungen des Sachverständigen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts verteidigt, vermag dies nichts daran zu ändern, dass das Berufungsgericht den - zudem nur unvollständig berücksichtigten - Feststellungen des Sachverständigen ein anderes Verständnis beigelegt hat als das Landgericht, das sich zur Begründung der von ihm bejahten Geschäftsunfähigkeit der Klägerin gemäß § 105 Abs. 2 BGB ausdrücklich auf die Ausführungen des Sachverständigen gestützt hat. Eine von dem Landgericht abweichende Bewertung der gutachterlichen Feststellungen durfte das Berufungsgericht aber nur vornehmen, wenn es sich zuvor durch Anhörung des Sachverständigen eine vollständige Tatsachengrundlage verschafft hat. Im Übrigen steht entgegen der Ansicht der Beschwerdeerwiderung der Umstand, dass der Sachverständige eine hundertprozentige Wahrscheinlichkeit der Geschäftsunfähigkeit „als zuverlässiger Sachverständiger nicht aussprechen“ konnte, der Annahme einer Geschäftsunfähigkeit nach § 105 Abs. 2 BGB nicht entgegen. Denn die Geschäftsunfähigkeit nach dieser Vorschrift ist kein medizinischer Befund, sondern eine Rechtsfolge, deren Voraussetzungen das Gericht unter kritischer Würdigung des Sachverständigengutachtens festzustellen hat (vgl. Senat, Urteil vom 18. Mai 2001 - V ZR 126/00, juris Rn. 9).

IV.

1. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 Abs. 7 ZPO ). Dabei hat der Senat entsprechend § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO von der Möglichkeit der Zurückverweisung der Sache an einen anderen Spruchkörper des Berufungsgerichts Gebrauch gemacht (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 1. Februar 2007 - V ZR 200/06, NJW-RR 2007, 1221 Rn. 12). Dieser wird nach Anhörung des Sachverständigen und unter Berücksichtigung des gesamten Sachverständigengutachtens zu prüfen haben, ob aufgrund einer vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit die freie Willensbestimmung der Klägerin im Zeitpunkt der Unterschriftsleistung ausgeschlossen war (§ 105 Abs. 2 BGB ).

2. Andere Zulassungsgründe liegen nicht vor. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 4 Satz 2 ZPO abgesehen.

Vorinstanz: LG Stade, vom 17.04.2018 - Vorinstanzaktenzeichen 4 O 145/16
Vorinstanz: OLG Celle, vom 12.03.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 4 U 65/18
Fundstellen
FamRZ 2020, 527