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BGH - Entscheidung vom 11.07.2019

V ZB 28/18

Normen:
GG Art. 2 Abs. 2 S. 2
AufenthG § 62 Abs. 3 S. 3

BGH, Beschluss vom 11.07.2019 - Aktenzeichen V ZB 28/18

DRsp Nr. 2019/13912

Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen (hier: Abschiebungshaft); Ernstliches Betreiben der Abschiebung durch die zuständige Behörde; Beschränkung der Abschiebungshaft auch während des Laufs der Drei-Monats-Frist des § 62 Abs. 3 S. 3 AufenthG auf das unbedingt erforderliche Maß

Das Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen ist auch in Abschiebungshaftsachen zu beachten. Die Sicherungshaft darf deshalb nur aufrechterhalten oder verlängert werden, wenn die Behörde die Abschiebung des Betroffenen ernstlich und mit der größtmöglichen Beschleunigung betreibt. Fehlt es daran, stellt sich die Haft als ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Freiheitsgrundrecht dar und ist aufzuheben.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der beteiligten Behörde wird der Beschluss der 8. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom 17. Januar 2018 im Kostenpunkt aufgehoben, soweit dem Landkreis Hildesheim mehr als 75 % der außergerichtlichen Kosten des Betroffenen der ersten und zweiten Instanz auferlegt worden sind. Der Betroffene trägt 25 % seiner außergerichtlichen Kosten der ersten und zweiten Instanz selbst.

Die Beteiligten tragen ihre außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens selbst.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Normenkette:

GG Art. 2 Abs. 2 S. 2; AufenthG § 62 Abs. 3 S. 3;

Gründe

I.

Der Betroffene, ein malischer Staatsangehöriger, reiste im Februar 2016 in das Bundesgebiet ein und stellte einen Asylantrag, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 24. Oktober 2016 als unzulässig ablehnte, da er bereits in Italien internationalen Schutz erhalten hatte. Seine „Abschiebung“ nach Italien wurde angedroht. Eine für den 10. Juli 2017 geplante Rücküberstellung scheiterte, weil der Betroffene nicht in der ihm zugewiesenen Unterkunft angetroffen wurde. Am 7. Dezember 2017 wurde er von der Polizei festgenommen.

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht am 8. Dezember 2017 Sicherungshaft bis längstens 4. März 2018 angeordnet. Die begleitete Rücküberstellung des Betroffenen auf dem Luftweg nach Italien ist für den 28. Februar 2018 terminiert worden. Auf seine Beschwerde hat das Landgericht den Beschluss des Amtsgerichts aufgehoben und festgestellt, dass die Haftanordnung vom 8. Dezember 2017 ihn in seinen Rechten verletzt hat. Dagegen richtet sich die am 14. Februar 2018 bei dem Bundesgerichtshof eingegangene Rechtsbeschwerde der beteiligten Behörde, mit der sie zunächst beantragt hat, den Beschluss des Landgerichts abzuändern und die Beschwerde gegen die Haftanordnung zurückzuweisen. Nachdem der Zeitraum, für den das Amtsgericht die Haft angeordnet hatte, während des Rechtsbeschwerdeverfahrens abgelaufen ist, beantragt sie jetzt, dem Betroffenen die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Der Betroffene beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen.

II.

Das Beschwerdegericht meint, das Beschleunigungsgebot sei verletzt. Es könne nicht festgestellt werden, dass eine begleitete Rücküberstellung nicht vor dem 28. Februar 2018 durchführbar gewesen wäre. Es fehle an ausreichenden Anknüpfungstatsachen. Der Hinweis der Behörde auf die Vorlaufzeit von zehn bis zwölf Wochen für Abschiebungen nach Italien sei nicht ausreichend. Im Grundsatz sei davon auszugehen, dass mehrmals täglich eine Vielzahl von Flügen von Deutschland nach Italien durchgeführt würde. Über die Sicherheitsbegleitung hinaus seien keine vorbereitenden Maßnahmen erforderlich gewesen. Die Verzögerung beruhe danach wesentlich auf der Auslastung der für die Durchführung der Abschiebung zuständigen staatlichen Stellen, welche der Betroffene nicht hinzunehmen habe. Zwar sei grundsätzlich nachvollziehbar, dass derzeit viele Personen abgeschoben werden sollten. Dass angesichts der guten Flugverbindungen zwischen Deutschland und Italien eine Abschiebung des Betroffenen allein deshalb nicht zu einem früheren Zeitpunkt möglich sei, ergebe sich daraus aber nicht ohne Weiteres. Überdies habe die Behörde das behauptete Missverhältnis zwischen der Vielzahl der begleiteten Abschiebungen nach Italien und den zur Verfügung stehenden Flugplätzen nicht weiter dargetan.

III.

1. a) Die Rechtsbeschwerde der Behörde ist zulässig. Sie ist nach § 70 Abs. 3 Satz 3 FamFG ohne Zulassung durch das Beschwerdegericht statthaft, weil sie sich gegen einen eine freiheitsentziehende Maßnahme ablehnenden Beschluss richtet (vgl. Senat, Beschluss vom 29. Juni 2017 - V ZB 84/17, FGPrax 2017, 231 Rn. 4). Die beteiligte Behörde hat die Rechtsbeschwerde auf die die Haft aufhebende Entscheidung des Beschwerdegerichts beschränkt. Das betrifft den Haftzeitraum vom 17. Januar 2018 bis 4. März 2018. Gegen die Feststellung, dass die Haftanordnung den Betroffenen in dem Zeitraum ab dem 8. Dezember 2017 in seinen Rechten verletzt hat, wendet sich die beteiligte Behörde nicht. Eine solche Rechtsbeschwerde wäre auch unzulässig (vgl. Senat, Beschluss vom 29. Juni 2017 - V ZB 64/17, juris Rn. 4; Beschluss vom 12. Juli 2018 - V ZB 48/18, juris Rn. 8).

b) Die Rechtsbeschwerde ist nicht dadurch unzulässig geworden, dass der Zeitraum, für den das Amtsgericht die Haft angeordnet hat, während des Rechtsbeschwerdeverfahrens abgelaufen ist. Das schließt zwar eine Sachentscheidung über die Haftanordnung aus; mangels Feststellungsinteresses kann die beteiligte Behörde die Rechtsbeschwerde auch nicht mit einem Feststellungsantrag analog § 62 FamFG aufrechterhalten. Sie kann das Rechtsmittel aber - wie hier geschehen - auf den Kostenpunkt beschränken und das Verfahren in diesem beschränkten Umfang fortführen (vgl. Senat, Beschluss vom 31. Januar 2013 - V ZB 22/12, BGHZ 196, 118 Rn. 6 ff.; Beschluss vom 7. Juni 2018 - V ZB 237/17, InfAuslR 2018, 368 Rn. 4).

2. Die Entscheidung über die Kosten ist, soweit die Hauptsache erledigt ist, gemäß § 83 Abs. 2 i.V.m. § 81 Abs. 1 Satz 1 FamFG nach billigem Ermessen zu treffen (vgl. Senat, Beschluss vom 19. Dezember 2013 - V ZB 145/13, juris Rn. 5). Eine Entscheidung über die Kosten zugunsten des Rechtsbeschwerdeführers hat danach zu ergehen, wenn sein Rechtsmittel ohne die Erledigung der Hauptsache begründet gewesen wäre (Senat, Beschluss vom 19. Dezember 2013 - V ZB 145/13, aaO). Wie über das Rechtsmittel der beteiligten Behörde bezogen auf den Zeitraum ab der Haftaufhebung bis zum Ablauf der angeordneten Haft (17. Januar 2018 bis 4. März 2018) ohne das erledigende Ereignis entschieden worden wäre, ist offen. Auf der Grundlage der Feststellungen des Beschwerdegerichts kann ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot weder bejaht noch verneint werden. Es entspricht deshalb billigem Ermessen, dass die Beteiligten insoweit ihre außergerichtlichen Kosten selbst tragen.

a) Im Ausgangspunkt zutreffend geht das Beschwerdegericht allerdings davon aus, dass das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG abzuleitende Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen (BVerfGE 46, 194 , 195; BVerfG, Beschluss vom 13. Oktober 2016 - 2 BvR 1275/16, juris Rn. 43) auch in Abschiebungshaftsachen zu beachten ist (Senat, Beschluss vom 25. März 2010 - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175 Rn. 22; Beschluss vom 2. März 2017 - V ZB 138/16, InfAuslR 2017, 289 Rn. 12). Die Abschiebungshaft muss auch während des Laufs der Drei-Monats-Frist des § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt und die Abschiebung ohne unnötige Verzögerung betrieben werden; dies ergibt sich einfachgesetzlich schon daraus, dass die Haft gemäß § 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG auf die kürzest mögliche Dauer zu beschränken ist. Die Sicherungshaft darf deshalb nur aufrechterhalten oder verlängert werden, wenn die Behörde die Abschiebung des Betroffenen ernstlich betreibt, und zwar - gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - mit der größtmöglichen Beschleunigung (st. Rspr. vgl. nur Senat, Beschluss vom 10. Juni 2010 - V ZB 204/09, NVwZ 2010, 1172 Rn. 21; Beschluss vom 1. März 2012 - V ZB 206/11, FGPrax 2012, 133 Rn. 15; Beschluss vom 11. Oktober 2012 - V ZB 104/12, juris Rn. 7; Beschluss vom 17. Oktober 2013 - V ZB 172/12, InfAuslR 2014, 52 Rn. 12 f.). Fehlt es daran, stellt sich die Haft als ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen dar und ist aufzuheben.

b) Richtig ist auch, dass Verstöße gegen das Beschleunigungsgebot durch die die Abschiebung vollziehende Bundesbehörde den für die Anträge auf Abschiebungshaft zuständigen Ausländerbehörden der Länder und der Kreise zuzurechnen sind (vgl. Senat, Beschluss vom 7. April 2011 - V ZB 111/10, NVwZ 2011, 1214 Rn. 13; Beschluss vom 30. Juni 2011 - V ZB 274/10, FGPrax 2011, 315 Rn. 25; Beschluss vom 17. Oktober 2013 - V ZB 172/12, InfAuslR 2014, 52 Rn. 15). Ein solcher Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot durch die Bundesbehörde kann sich aus der unzureichenden Ausstattung mit Personal ergeben. Angesichts der wertsetzenden Bedeutung des Freiheitsgrundrechts (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ) vermag eine nicht nur ganz kurzfristige Überlastung der zuständigen Stellen einen weiteren Vollzug der Haft selbst dann nicht zu legitimieren, wenn sie auf einem außerordentlichen Geschäftsanfall beruht (vgl. BVerfG, NJW 2003, 2895 , 2896 zur Untersuchungshaft; Senat, Beschluss vom 16. Februar 2012 - V ZB 320/10, InfAuslR 2012, 225 Rn. 17). Der Ausländerbehörde nicht zuzurechnen ist dagegen die Bearbeitung durch die ausländischen Behörden (vgl. Senat, Beschluss vom 20. September 2018 - V ZB 102/16, juris Rn. 22; Beschluss vom 29. Juni 2017 - V ZB 40/16, InfAuslR 2017, 450 Rn. 22). Auf das Verfahren der ausländischen Stellen haben die deutschen Dienststellen nämlich keinen Einfluss.

c) Die getroffenen Feststellungen tragen jedoch nicht die Annahme des Beschwerdegerichts, das Beschleunigungsgebot sei verletzt. Das Beschwerdegericht meint, für die Feststellung, dass eine frühere Abschiebung des Betroffenen nach Italien nicht möglich gewesen wäre, fehlten die erforderlichen Anknüpfungstatsachen, und der Vortrag der beteiligten Behörde sei nicht ausreichend. In dieser Situation durfte es nicht ohne weitere Sachaufklärung davon ausgehen, dass die Verzögerung der Abschiebung wesentlich auf der Auslastung der für die Durchführung der Abschiebung zuständigen deutschen Stellen beruht und deshalb das Beschleunigungsgebot nicht gewahrt ist. Im Rahmen der Amtsermittlung nach § 26 FamFG hätte es vielmehr bei der beteiligten Behörde nachfragen müssen, warum die Abschiebung des Betroffenen trotz der guten Flugverbindungen zwischen Deutschland und Italien eine Vorlaufzeit von zehn bis zwölf Wochen benötigte. Das hat das Beschwerdegericht verfahrensfehlerhaft unterlassen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass bei der gebotenen Nachfrage die beteiligte Behörde den von dem Beschwerdegericht vermissten Sachvortrag zu den Kapazitäten der Fluggesellschaften und der zeitlichen Vorgabe der italienischen Behörden für Abschiebeflüge, wie in der Rechtsbeschwerdeschrift geschehen, gehalten hätte mit der Folge, dass die Haftanordnung aufrechterhalten worden wäre.

d) Die von dem Beschwerdegericht als Tatsacheninstanz (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Oktober 2013 - V ZB 127/12, FGPrax 2014, 39 Rn. 8) auf einer zureichenden Tatsachengrundlage (§ 26 FamFG ) vorzunehmende Prüfung kann von dem Senat als Rechtsbeschwerdegericht nicht nachgeholt werden. Eine Zurückverweisung an das Beschwerdegericht kommt nicht in Betracht, da nach Erledigung der Hauptsache nur noch über die Kosten zu entscheiden ist (vgl. Senat, Beschluss vom 7. Juni 2018 - V ZB 237/17, InfAuslR 2018, 368 Rn. 7).

3. Bei der danach zu treffenden Kostenentscheidung ist zu berücksichtigen, dass es hinsichtlich des Haftzeitraums vom 8. Dezember 2017 bis zum 17. Januar 2018, der nicht Gegenstand der Rechtsbeschwerde ist, bei der Kostenentscheidung des Beschwerdegerichts bleibt, wonach der Landkreis Hildesheim die außergerichtlichen Kosten des Betroffenen der ersten und zweiten Instanz trägt. Das führt zu einer Verteilung der außergerichtlichen Kosten der ersten und zweiten Instanz im Verhältnis von 75 % zu 25 %.

4. Hat sich die Hauptsache erledigt, muss im Rechtsbeschwerdeverfahren eine Entscheidung über die Gerichtskosten für alle Rechtszüge ergehen, selbst wenn und soweit sie nur klarstellende Bedeutung hat (Senat, Beschluss vom 7. November 2013 - V ZB 111/12, juris Rn. 5). Gemäß § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2 , § 83 Abs. 2 FamFG werden Gerichtskosten in allen Instanzen nicht erhoben.

5. Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG .

Vorinstanz: AG Hannover, vom 08.12.2017 - Vorinstanzaktenzeichen 43 XIV 186/17
Vorinstanz: LG Hannover, vom 17.01.2018 - Vorinstanzaktenzeichen 8 T 4/18