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BGH - Entscheidung vom 19.09.2019

V ZB 16/19

Normen:
GG Art. 2 Abs. 2
ZPO § 574 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
ZPO § 574 Abs. 3 S. 2
ZVG § 96

Fundstellen:
FamRZ 2020, 439

BGH, Beschluss vom 19.09.2019 - Aktenzeichen V ZB 16/19

DRsp Nr. 2020/154

Berücksichtigung einer Suizidgefahr im Rahmen der Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens; Nichtrealisierung der mit der Fortsetzung des Verfahrens verbundenen Lebens- oder Gesundheitsgefahr; Umfang der gerichtlichen Schutzpflicht gemäß Art. 2 Abs. 2 GG

Eine Zwangsversteigerung ist nicht ohne Weiteres einstweilen einzustellen oder aufzuheben, wenn die Fortführung des Verfahrens mit einer konkreten Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners oder eines nahen Angehörigen verbunden ist. Die Annahme, einer Suizidgefahr könne anders als durch Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens begegnet werden, setzt voraus, dass das Gericht die Geeignetheit der in Betracht gezogenen Maßnahmen sorgfältig geprüft und deren Vornahme sichergestellt hat. Kann indes die ernsthafte Gefahr einer Selbsttötung des Schuldners nicht ausgeschlossen werden, muss das Gericht - ungeachtet des ebenfalls schutzwürdigen Interesses der Gläubiger an der Fortsetzung des Verfahrens - dafür Sorge tragen, dass sich die mit der Fortsetzung des Verfahrens verbundene Lebens- oder Gesundheitsgefahr nicht realisiert.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Schuldnerin wird der Beschluss der 13. Zivilkammer des Landgerichts Kiel vom 7. Januar 2019 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Die Vollziehung des Zuschlagsbeschlusses des Amtsgerichts Kiel vom 24. August 2017 (Az. 22 K 50/15) wird bis zur erneuten Entscheidung über die Beschwerde der Schuldnerin ausgesetzt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 200.000 € für die anwaltliche Vertretung der Schuldnerin und 110.000 € für die anwaltliche Vertretung des Beteiligten zu 5.

Normenkette:

GG Art. 2 Abs. 2 ; ZPO § 574 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ; ZPO § 574 Abs. 3 S. 2; ZVG § 96 ;

Gründe

I.

Die Beteiligten zu 2 und 3 (Gläubiger) betreiben seit 2015 die Zwangsversteigerung des eingangs genannten Grundstücks der Beteiligten zu 1 (Schuldnerin), dessen Wert auf 200.000 € festgesetzt worden ist. Das Vollstreckungsgericht hat nach dem Versteigerungstermin vom 13. Juni 2017 dem Beteiligten zu 5 (Ersteher) auf dessen Meistgebot von 110.000 € am 24. August 2017 den Zuschlag erteilt. Dagegen hat die Schuldnerin sofortige Beschwerde eingelegt und diese mit einer bestehenden Suizidgefahr begründet. Das Landgericht hat ein Sachverständigengutachten eingeholt, die Entscheidung über die Beschwerde zunächst bis Mitte April 2018 zurückgestellt und eine Nachbegutachtung angeordnet. Mit Beschluss vom 7. Januar 2019 hat es die Beschwerde zurückgewiesen und die Rechtsbeschwerde zugelassen. Mit dieser will die Schuldnerin die Versagung des Zuschlags und die einstweilige Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens erreichen. Der Ersteher beantragt die Zurückweisung des Rechtsmittels.

II.

Das Beschwerdegericht meint, aufgrund der Nachbegutachtung sowie einer weiteren gutachterlichen Stellungnahme und mündlichen Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen sei dem Suizideinwand nicht das für die Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses und die Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens notwendige Gewicht beizumessen. Die Schuldnerin habe während des Beschwerdeverfahrens therapeutische Hilfe erhalten, so dass sie Interventions- und Hilfemöglichkeiten selbst formulieren könne und ein Suizideher unwahrscheinlich sei. Zudem erhalte sie eine antidepressive medikamentöse Behandlung. Aufgrund der Gesamtheit der Äußerungen der Schuldnerin gegenüber dem gerichtlichen Sachverständigen sei die Suizidalität nicht eindeutig zu beantworten. Die apodiktische und stringente Erklärung, sich „dann“ das Leben nehmen zu wollen, sei erstmals im Anhörungstermin vor Gericht am 31. August 2018 erfolgt. In diesem Termin könne es zu einer angstvoll besetzten Aktualisierung mit vegetativen Reaktionen gekommen sein. Insgesamt bestehe für den Fall der Bestätigung des Zuschlagsbeschlusses keine überwiegende Wahrscheinlichkeit eines Suizids. Es sei allenfalls von einer geringen Suizidgefahr auszugehen, der nötigenfalls durch das bestehende „Setting“ aus Anbindung an den Therapeuten und medikamentöser Behandlung im Falle einer erneuten konkreten Aktualisierung begegnet werden könne. Hiernach falle die Abwägung zugunsten der Gläubigerinteressen und damit für eine Fortsetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens aus.

III.

Die nach § 96 ZVG i.V.m. § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 , Abs. 3 Satz 2 ZPO statthafte und nach § 575 ZPO auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde der Schuldnerin gegen die Zurückweisung ihrer Zuschlagsbeschwerde ist begründet.

1. Richtig ist allerdings der Ausgangspunkt des Beschwerdegerichts. Einer Beschwerde gegen den Zuschlagsbeschluss nach § 100 Abs. 3 i.V.m. § 83 Nr. 6 ZVG ist stattzugeben, wenn wegen eines Vollstreckungsschutzantrags des Schuldners nach § 765a ZPO der Zuschlag wegen einer bereits mit dem Eigentumsverlust verbundenen konkreten Gefahr für das Leben des Schuldners oder eines nahen Angehörigen nicht hätte erteilt werden dürfen oder wenn die ernsthafte Gefahr einer Selbsttötung des Schuldners während des Beschwerdeverfahrens zu Tage getreten ist (st. Rspr., vgl. nur Senat, Beschluss vom 16. März 2017 - V ZB 150/16, NZM 2017, 454 Rn. 5 mwN; Beschluss vom 12. November 2014 - V ZB 99/14, NJW-RR 2015, 393 Rn. 6 mwN; Beschluss vom 24. November 2005 - V ZB 99/05, WM 2006, 813 , 815 f.). Das bedeutet jedoch nicht, dass die Zwangsversteigerung ohne Weiteres einstweilen einzustellen oder aufzuheben wäre, wenn die Fortführung des Verfahrens mit einer konkreten Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners oder eines nahen Angehörigen verbunden ist (Senat, Beschluss vom 15. Juli 2010 - V ZB 1/10, NJW-RR 2010, 1649 Rn. 11 f.; BGH, Beschluss vom 4. Mai 2005 - I ZB 10/05, BGHZ 163, 66 , 73). Vielmehr ist zur Wahrung der ebenfalls grundrechtlich geschützten Interessen des Vollstreckungsgläubigers und des Erstehers (Senat, Beschluss vom 28. Januar 2016 - V ZB 115/15, NJW-RR 2016, 336 Rn. 6) zu prüfen, ob der Lebens- oder Gesundheitsgefährdung auch anders als durch eine Einstellung oder Aufhebung der Zwangsversteigerung wirksam begegnet werden kann (Senat, Beschluss vom 9. Juni 2011 - V ZB 319/10, NZM 2011, 789 Rn. 9; Beschluss vom 7. Oktober 2010 - V ZB 82/10, NJW-RR 2011, 421 Rn. 29).

2. Die Annahme, einer Suizidgefahr könne anders als durch Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens begegnet werden, setzt allerdings voraus, dass das Gericht die Geeignetheit der in Betracht gezogenen Maßnahmen sorgfältig geprüft und deren Vornahme sichergestellt hat (vgl. BVerfG, NZM 2019, 793 Rn. 33; NJW 2019, 2012 Rn. 19; WM 2007, 2297 , 2298). Jedenfalls an Letzterem fehlt es hier.

a) Das Beschwerdegericht geht zwar von einer nur „geringen Suizidgefahr“ aus. Es sieht diese aber weder als vorgespiegelt noch als so vage an, dass von einer Verwirklichung ernsthaft nicht auszugehen sei (vgl. hierzu Senat, Beschluss vom 7. Oktober 2010 - V ZB 82/10, NJW-RR 2011, 421 Rn. 24). Denn es weist darauf hin, dass einer erneuten konkreten Aktualisierung der Suizidgefahr durch das bestehende „Setting“ aus Anbindung an den Therapeuten und medikamentöser Behandlung begegnet werden könne.

b) Konnte die ernsthafte Gefahr einer Selbsttötung der Schuldnerin nicht ausgeschlossen werden, musste das Beschwerdegericht - ungeachtet des ebenfalls schutzwürdigen Interesses der Gläubiger an der Fortsetzung des Verfahrens - dafür Sorge tragen, dass sich die mit der Fortsetzung des Verfahrens verbundene Lebens- oder Gesundheitsgefahr nicht realisierte (vgl. BVerfG, WM 2007, 2297 , 2298). Dieser Verpflichtung war es nicht schon durch das bestehende „Setting“ enthoben; denn es ist offen, ob dieses im Ernstfall funktioniert hätte. Ebenso wie der Verweis auf die für den Lebensschutz primär zuständigen Behörden und Gerichte verfassungsrechtlich nur tragfähig ist, wenn das Vollstreckungsgericht dafür Sorge getragen hat, dass diese Stellen rechtzeitig tätig werden (vgl. BVerfG, NJW 2019, 2012 Rn. 20; Beschluss vom 5. November 2007 - 1 BvR 2246/07, juris Rn. 17 ff.; Beschluss vom 27. Juni 2005 - 1 BvR 224/05, juris Rn. 21 ff.), darf das Vollstreckungsgericht die Einstellung des Verfahrens im Hinblick auf die Möglichkeit ambulanter Maßnahmen zur Bewältigung der Suizidgefahr nur ablehnen, wenn es die Vornahme dieser Maßnahmen sicherstellt.

c) Dieser aus Art. 2 Abs. 2 GG folgenden Schutzpflicht ist das Beschwerdegericht nicht gerecht geworden. Es hat weder festgestellt noch Sorge dafür getragen, dass die therapeutische und medikamentöse Behandlung der Schuldnerin im Zeitpunkt der endgültigen Entscheidung über den Zuschlag gesichert ist. Das Beschwerdegericht durfte auch nicht darauf vertrauen, dass das „Setting“ bei einer akuten Krisensituation besteht und wirksam wird. Denn es beruhte erkennbar auf der freiwilligen Mitwirkung der Schuldnerin und ihrer Einsicht, der Hilfe zu bedürfen. Bei einer Zuspitzung der Lage, wie sie das Beschwerdegericht nicht ausschließen konnte, ist der Suizidgefährdete aber typischerweise unfähig, Hilfe zu organisieren. Es ist daher erforderlich, dass die Durchführung ambulanter Maßnahmen, die das Vollstreckungsgericht für geeignet hält, der konkreten Suizidgefahr zu begegnen, auch und gerade dann sichergestellt ist, wenn der Suizidgefährdete die Konfliktsituation selbst nicht mehr angemessen bewältigen kann.

IV.

1. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO ). Das Beschwerdegericht wird neue Feststellungen zu der aktuellen Situation der Schuldnerin zu treffen haben. Sollte diese unverändert geblieben sein, darf das Beschwerdegericht die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nur dann ablehnen, wenn es sicherstellt, dass das „Setting“ aus ambulanter und therapeutischer Behandlung besteht und funktioniert.

2. Da aus dem Zuschlagsbeschluss schon vor dem Eintritt der Rechtskraft vollstreckt werden kann und die Aufhebung der Entscheidung des Beschwerdegerichts dem Zuschlagsbeschluss die Vollstreckbarkeit nicht nimmt, ist dessen Vollziehung bis zur erneuten Entscheidung des Beschwerdegerichts gemäß § 575 Abs. 5 , § 570 Abs. 3 ZPO auszusetzen (vgl. Senat, Beschluss vom 16. März 2017 - V ZB 150/16, NZM 2017, 454 Rn. 16; Beschluss vom 28. Januar 2016 - V ZB 115/15, NJW-RR 2016, 336 Rn. 20; Beschluss vom 21. Juli 2011 - V ZB 48/10, NJW-RR 2011, 1452 Rn. 17).

3. Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren bestimmt sich für die Rechtsanwaltsgebühren nach § 26 Nr. 2 und Nr. 3 RVG . Gerichtskosten sind im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht angefallen.

Vorinstanz: AG Kiel, vom 24.08.2017 - Vorinstanzaktenzeichen 22 K 50/15
Vorinstanz: LG Kiel, vom 07.01.2019 - Vorinstanzaktenzeichen 13 T 101/17
Fundstellen
FamRZ 2020, 439