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BGH - Entscheidung vom 29.05.2019

AK 24/19

Normen:
StPO § 112 Abs. 1 S. 1
StPO § 112 Abs. 2 Nr. 2
StGB § 129a Abs. 1 Nr. 1-2
StGB § 129b Abs. 1 S. 2-3

BGH, Beschluss vom 29.05.2019 - Aktenzeichen AK 24/19

DRsp Nr. 2019/9300

Anordnung der Untersuchungshaft und ihrer Fortdauer über sechs Monate hinaus wegen des dringenden Tatverdachts der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer ausländischen terroristischen Vereinigung (hier: IS)

Hat der Angeschuldigte im Falle seiner Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen und stehen dem daraus resultierenden Fluchtanreiz keine hinreichenden fluchthindernden Umstände (zu bejahen bei einem illegal in das Bundesgebiet Eingereisten) entgegen, so besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr.

Tenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht München übertragen.

Normenkette:

StPO § 112 Abs. 1 S. 1; StPO § 112 Abs. 2 Nr. 2 ; StGB § 129a Abs. 1 Nr. 1 -2; StGB § 129b Abs. 1 S. 2-3;

Gründe

I.

Der Angeschuldigte wurde am 8. Juni 2018 zunächst in anderer Sache festgenommen (Amtsgericht München, Haftbefehl vom 9. Juni 2018 - ER XXX GS 326/18) und befand sich bis zur Aufhebung des dortigen Haftbefehls am 7. November 2018 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Seither befindet sich der Angeschuldigte aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts München vom 11. Juli 2018 (OGs 88/18) ohne Unterbrechung für das vorliegende Verfahren in Untersuchungshaft.

Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeschuldigte habe sich innerhalb des Zeitraums von Ende März 2015 bis zum Frühjahr 2018 als Mitglied an der außereuropäischen terroristischen Vereinigung "Islamischer Staat" (IS) beteiligt, deren Zwecke und Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB ), Totschlag (§ 212 StGB ) und Kriegsverbrechen (§§ 8 , 9 , 10 , 11 oder 12 VStGB ) sowie Straftaten gegen die persönliche Freiheit in den Fällen des § 239a StGB oder des § 239b StGB zu begehen (§ 129a Abs. 1 Nr. 1 und 2, § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2 StGB ).

Unter dem 11. April 2019 hat die Generalstaatsanwaltschaft München wegen der im Haftbefehl vorgeworfenen Tat - und darüber hinaus wegen einer weiteren tatmehrheitlichen mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer ausländischen terrorristischen Vereinigung (IS) in Tateinheit mit Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat - Anklage zum Oberlandesgericht München erhoben. Das Oberlandesgericht München hat die Akten auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft München gemäß § 122 Abs. 1 und 7, § 121 Abs. 1 und 4 StPO mit Beschluss vom 17. April 2019 ( 9 St 3/19 (0)) vorgelegt. Über den Antrag, den Haftbefehl an die Anklagevorwürfe anzupassen, ist bisher nicht entschieden; Gegenstand der Haftprüfung durch den Senat ist daher nur der vorgelegte Haftbefehl (vgl. KK-Schultheis, StPO , 7. Aufl., § 121 Rn. 24 mwN).

II.

Die Voraussetzungen der Anordnung der Untersuchungshaft und ihrer Fortdauer über sechs Monate hinaus liegen vor.

1. Nach dem bisherigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

a) Der IS ist eine Organisation mit militant-fundamentalistischer islamischer Ausrichtung, die es sich ursprünglich zum Ziel gesetzt hatte, einen das Gebiet des heutigen Irak und die historische Region "ash-Sham" - die heutigen Staaten Syrien, Libanon und Jordanien sowie Palästina - umfassenden und auf ihrer Ideologie gründenden "Gottesstaat" zu errichten und dazu die schiitisch dominierte Regierung im Irak und das Regime des syrischen Präsidenten Assad zu stürzen. Zivile Opfer nahm und nimmt sie bei ihrem fortgesetzten Kampf in Kauf, weil sie jeden, der sich ihren Ansprüchen entgegenstellt, als "Feind des Islam" begreift; die Tötung solcher "Feinde" oder ihre Einschüchterung durch Gewaltakte sieht die Vereinigung als legitimes Mittel des Kampfes an.

Die Führung der Vereinigung, die sich mit der Ausrufung des "Kalifats" im Juni 2014 aus "Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien" in "Islamischer Staat" umbenannte und damit von der regionalen Selbstbeschränkung auf ein "Großsyrien" Abstand nahm, hat der "Emir" Abu Bakr al-Baghdadi inne, der von seinem Sprecher zum "Kalifen" erklärt wurde, dem die Muslime weltweit Gehorsam zu leisten hätten. Ihm unterstehen ein Stellvertreter sowie "Minister" als Verantwortliche für einzelne Bereiche, so ein "Kriegsminister" und ein "Propagandaminister". Zur Führungsebene gehören außerdem beratende "Shura-Räte". Veröffentlichungen werden in der Medienabteilung "Al-Furqan" produziert und über die Medienstelle "al-I'tisam" verbreitet, die dazu einen eigenen Twitterkanal und ein Internetforum nutzt. Das auch von den Kampfeinheiten verwendete Symbol der Vereinigung besteht aus dem "Prophetensiegel", einem weißen Oval mit der Inschrift "Allah - Rasul - Muhammad" auf schwarzem Grund, überschrieben mit dem islamischen Glaubensbekenntnis. Die Vereinigung verfügt über mehrere Tausend Kämpfer, die dem "Kriegsminister" unterstellt und in lokale Kampfeinheiten mit jeweils einem Kommandeur gegliedert sind.

Die von ihr besetzten Gebiete teilte die Vereinigung in Gouvernements ein und installierte einen Geheimdienstapparat; diese Maßnahmen zielten auf die Schaffung totalitärer staatlicher Strukturen. Angehörige der syrischen Armee, aber auch von in Gegnerschaft zum IS stehenden Oppositionsgruppen, ausländische Journalisten und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen sowie Zivilisten, die den Herrschaftsanspruch des IS in Frage stellen, sahen sich Verhaftung, Folter und Hinrichtung ausgesetzt. Filmaufnahmen von besonders grausamen Tötungen wurden mehrfach vom IS zu Zwecken der Einschüchterung veröffentlicht. Darüber hinaus begeht der IS immer wieder Massaker an Teilen der Zivilbevölkerung und außerhalb seines Machtbereichs Terroranschläge. So hat er auch für Anschläge in Europa, etwa in Paris, Brüssel, Nizza und Berlin die Verantwortung übernommen.

b) Der Angeschuldigte kannte zumindest die grundlegenden Strukturen der terroristischen Vereinigung IS sowie ihre Ziele und Stärke; er wusste auch von den Terroranschlägen des IS auf Ziele in westlichen Ländern. Während seines ersten langjährigen Aufenthaltes in München entwickelte er in den Jahren 2014/2015 radikal-islamistische Vorstellungen; er lehnte die Werte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ab, sah den bewaffneten Jihad als legitimes Mittel zur Durchsetzung islamistischer Interessen an und sympathisierte mit dem IS. Zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt Ende März/Anfang April 2015 reiste der Angeschuldigte, der zu der Zeit in Deutschland lebte, über die Türkei in den Irak. Unmittelbar anschließend schloss er sich in Mossul dem IS an und durchlief unter dessen Anleitung und Kontrolle eine paramilitärische Ausbildung sowie eine Schulung in arabischer Sprache. Eingegliedert in die Strukturen des IS, der in Mossul einen Emir für das Krankentransportwesen einsetzte, arbeitete der Angeschuldigte in der Folgezeit für einen Lohn von 100 Dollar im Monat als Krankentransportfahrer für ein vom IS betriebenes Krankenhaus. Bis zum Frühjahr 2018 lebte er in dem vom IS kontrollierten Gebiet, bis er zwischen dem 24. Mai und dem 8. Juni 2018 auf dem Landweg in die Türkei reiste und ab Istanbul auf dem Luftweg nach Deutschland zurückkehrte.

2. Der dringende Tatverdacht (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO ) ergibt sich aus Folgendem:

a) Hinsichtlich der außereuropäischen terroristischen Vereinigung IS beruht er für den hier relevanten Zeitraum - senatsbekannt - auf islamwissenschaftlichen Gutachten sowie auf diversen Behördenerklärungen der Nachrichtendienste und polizeilichen Auswertungsberichten (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Februar 2018 - StB 29/17, juris Rn. 22).

b) Hinsichtlich der vorgeworfenen Handlungen folgt der dringende Tatverdacht aus den in dem Haftbefehl angeführten Beweismitteln, insbesondere den Angaben des Angeschuldigten und seiner Lebensgefährtin. Er hat außerhalb einer förmlichen Vernehmung nach Belehrung über sein Schweigerecht gegenüber dem Zeugen KHK G. eingeräumt, beim IS gewesen zu sein und dort zunächst eine Ausbildung durchlaufen zu haben. Er habe allerdings nicht gekämpft und als Krankentransportfahrer nur helfen wollen. Der IS hätte die Leute nur als "Kanonenfutter" einsetzen wollen, deshalb sei er dort "abgehauen".

Darüber hinaus gründet der Tatverdacht auf den in der Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft München angeführten Beweismitteln, auf die ergänzend Bezug genommen wird.

3. Danach hat sich der Angeschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit als Mitglied an einer ausländischen terroristischen Vereinigung beteiligt (§ 129a Abs. 1 Nr. 1 und 2, § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2 StGB ).

Deutsches Strafrecht ist anwendbar (vgl. im Einzelnen BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2016 - AK 52/16, juris Rn. 33 ff.).

Die nach § 129b Abs. 1 Sätze 2 und 3 StGB erforderliche Ermächtigung hinsichtlich der terroristischen Vereinigung IS liegt vor.

4. Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ). Der Angeschuldigte hat im Falle seiner Verurteilung mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen. Dem daraus resultierenden Fluchtanreiz stehen keine hinreichenden fluchthindernden Umstände entgegen. Der Angeschuldigte ist - gemeinsam mit seiner Ehefrau nach islamischem Recht und der gemeinsamen Tochter, die in einer Flüchtlingsunterkunft in R. leben, wo ein weiteres gemeinsames Kind geboren wurde - illegal in das Bundesgebiet eingereist, ohne festen Wohnsitz und verfügt in Deutschland weder über eine Aufenthaltsberechtigung noch über persönliche oder soziale Bindungen. Er benutzte verschiedene Aliasnamen und verfügte bei seiner Festnahme über falsche Personaldokumente und echte amtliche Dokumente, die auf fremde Namen ausgestellt wurden. Unter Vorlage eines auf " A. " ausgestellten Passes buchte er das Hotelzimmer in München, in dem er sich zuletzt unter Täuschung über seine Identität aufhielt. In Anbetracht dessen ist zu erwarten, dass sich der Angeschuldigte, sollte er in Freiheit gelangen, dem weiteren Strafverfahren durch Flucht entziehen wird.

Zudem besteht die Gefahr, dass die Ahndung der Tat ohne die weitere Inhaftierung des Angeschuldigten vereitelt werden könnte, so dass die Fortdauer der Untersuchungshaft auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung der Vorschrift (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO , 62. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) daneben auf den Haftgrund der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO ) zu stützen ist.

Eine mit Auflagen nach § 116 StPO verbundene Außervollzugsetzung des Haftbefehls ist unter den gegebenen Umständen nicht geeignet, den Zweck der Untersuchungshaft in gleicher Weise zu erfüllen.

5. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft gemäß § 121 Abs. 1 StPO liegen vor. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil bislang noch nicht zugelassen.

Insbesondere gestalteten sich die erforderlichen Zeugenvernehmungen aufwändig, da der Aufenthalt des in den Kosovo abgeschobenen Zeugen F. , dessen Aussage zentrale Bedeutung beigemessen wird, im Rechtshilfewege ermittelt werden musste; schließlich konnte der Zeuge im Dezember 2018 in Serbien in Anwesenheit eines deutschen Polizeibeamten vernommen werden. Die Vernehmung ergab Hinweise auf weitere Zeugen, deren Vernehmungen bis Mitte Januar 2019 durchgeführt wurden. Das Rechtshilfeersuchen wurde mit Zuleitung vom 6. Februar 2019 beantwortet; am 15. Februar 2019 konnten die polizeilichen Ermittlungen abgeschlossen werden. Sodann wurde dem Verteidiger Akteneinsicht gewährt und eine Stellungnahmefrist eingeräumt. Am 16. April 2019 hat die Generalstaatsanwaltschaft München die unter dem 11. April 2019 erstellte Anklage zum 9. Strafsenat des Oberlandesgerichts München erhoben. Dessen Vorsitzender hat am folgenden Tag die Zustellung und Übersetzung der Anklage angeordnet und eine angemessene Stellungnahmefrist von zwei Wochen nach Zustellung der übersetzten Anklageschrift, die bis zum 10. Mai 2019 fertiggestellt werden soll, eingeräumt.

Vor diesem Hintergrund ist das Verfahren auch nach der Beschwerdeentscheidung des Senats weiterhin mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden.