Kontakt : 0221 / 93 70 18 - 0
Wir durchsuchen unsere Datenbank

BGH - Entscheidung vom 18.09.2019

3 StR 337/19

Normen:
StGB § 20
StGB § 21
StGB § 63 S. 1
StGB § 212 Abs. 1
StGB § 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5

Fundstellen:
NStZ-RR 2020, 8
StV 2021, 240

BGH, Beschluss vom 18.09.2019 - Aktenzeichen 3 StR 337/19

DRsp Nr. 2019/16901

Anordnung der Unterbringung eines Betroffenen in einem psychiatrischen Krankenhaus bei Vorliegen eines länger dauernden Zustands der Beeinträchtigung seiner geistigen und seelischen Gesundheit; Aufhebung der Steuerungsfähigkeit infolge der in dem hochgradigen Affekt begründeten tiefgreifenden Bewusstseinsstörung bei Tatbegehung (hier: versuchter Totschlag)

Die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB setzt voraus, dass beim Betroffenen ein länger dauernder Zustand vorliegt, in dem seine geistige oder seelische Gesundheit beeinträchtigt ist. Ein vorübergehender Defekt genügt nicht. Es fehlt daher an einer Anordnungsvoraussetzung des § 63 StGB , wenn - nicht krankhafte - psychische Auffälligkeiten lediglich in bestimmten Konfliktsituationen die Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit bewirken.

Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 6. März 2019 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Normenkette:

StGB § 20 ; StGB § 21 ; StGB § 63 S. 1; StGB § 212 Abs. 1 ; StGB § 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 ;

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten von den Vorwürfen des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie der gefährlichen Körperverletzung freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision wendet sich der Angeklagte ausschließlich gegen den Maßregelausspruch. Das Rechtsmittel hat Erfolg. Die vom Angeklagten erklärte Rechtsmittelbeschränkung erweist sich allerdings als unwirksam, so dass das freisprechende Erkenntnis ebenfalls aufzuheben ist.

I.

1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen war der Angeklagte, der im Jahr 2014 von Nordafrika nach Europa flüchtete, einige Zeit zuvor auf einer libyschen Farm als Landarbeiter tätig gewesen. Diese war im Jahr 2013 von bewaffneten Männern überfallen worden. Die Angreifer hatten den Angeklagten gequält, ihm jeweils einen Messerstich in die Hüfte sowie in das Gesäß versetzt und ihn später in Fesseln blutend zurückgelassen. Seit diesem Überfall leidet der Angeklagte an einer posttraumatischen Belastungsstörung; es entwickelte sich in der Folgezeit eine depressive Symptomatik.

Am frühen Morgen des 29. Juli 2018 befand sich der alkoholisierte Angeklagte mit Freunden auf dem Nachhauseweg aus der Lüneburger Innenstadt. Zwischen zwei seiner Freunde, A. und Al. , sowie einer Passantin und ihrem Lebensgefährten, M. , kam es zu einer zunächst verbalen, dann körperlichen Auseinandersetzung. In deren Verlauf versetzte M. dem A. einen kräftigen Faustschlag in das Gesicht, so dass dieser rücklings zu Boden ging und reglos liegen blieb; anschließend schlug M. noch zwei weitere Male mit der Faust auf A. ein. Beim Angeklagten, der zunächst noch versucht hatte zu schlichten, führte dieser Anblick "zu einer abrupten Reaktivierung der bei ... dem Überfall in Libyen ... erlebten Todesängste im Sinne einer Retraumatisierung". Infolgedessen geriet er in den Zustand eines hochgradigen Affekts, der "ihn nur noch nach archaischen Handlungsmustern reagieren ließ".

Von einem wenige Meter entfernten Steinhaufen holte der Angeklagte einen etwa drei Kilogramm schweren Ziegelstein. Er warf diesen Stein, nachdem Al. den M. zu Boden gebracht hatte, mit natürlichem Tötungsvorsatz zweimal wuchtig aus kurzer Distanz in Richtung dessen Kopfes. Während der erste Wurf sein Ziel nur streifte, traf der zweite das mit dem Hinterkopf auf einem Kiesbett liegende Opfer frontal im Gesichtsbereich. Kurz darauf warf der Angeklagte eine Hälfte des zwischenzeitlich entzweigebrochenen Steins mit natürlichem Körperverletzungsvorsatz in Richtung des Kopfes des ungefähr zwei Meter entfernt stehenden, gerade in einer Diskussion befindlichen Freundes des M. , des Nebenklägers, der die Kraft des Aufpralls noch mindern konnte, indem er zum Schutz eine Hand nach oben riss.

M. erlitt ein Schädelhirntrauma und Gesichtsschädelfrakturen, während der Nebenkläger eine Platzwunde am Kopf und eine Risswunde am Finger davontrug.

2. Das - sachverständig beratene - Schwurgericht hat den Angeklagten freigesprochen, weil es sich nicht hat überzeugen können, dass er die Taten, die es als versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (§ 212 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2, 5, §§ 22 , 23 Abs. 1 , § 52 StGB ) und als gefährliche Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB ) beurteilt hat, schuldhaft beging. Bei Tatbegehung sei seine Steuerungsfähigkeit infolge der in dem hochgradigen Affekt begründeten tiefgreifenden Bewusstseinsstörung - nicht ausschließbar - gemäß § 20 StGB aufgehoben gewesen.

Die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB hat das Schwurgericht im Wesentlichen wie folgt begründet: Der Angeklagte habe die rechtswidrigen Taten mit natürlichem Vorsatz im - sicher feststehenden - Zustand zumindest erheblich verminderter Schuldfähigkeit nach § 21 StGB begangen. Denn der hochgradige Affekt habe die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten mindestens in starkem Maß beeinträchtigt. Dieser "Gefühlssturm" sei auf die bislang unbehandelte posttraumatische Belastungsstörung zurückzuführen, die eine dauerhafte psychische Störung darstelle. In Situationen, die der Angeklagte als existenzbedrohend für sich oder andere ansehe, sei die Wahrscheinlichkeit für eine erneute Retraumatisierung mit der Folge eines weiteren massiven Gewaltausbruchs im Zustand zumindest erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit infolge seiner "psychischen Vulnerabilität" sehr hoch. Da solche Situationen "im Alltag immer wieder möglich" seien, sei er für die Allgemeinheit gefährlich.

II.

Sowohl der Maßregelausspruch als auch der Freispruch haben keinen Bestand.

1. Die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 Satz 1 StGB ) unterliegt der Aufhebung, weil sie sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht standhält. Das Landgericht hat beim Angeklagten nicht den - rechtlich notwendigen - länger dauernden Zustand festgestellt, der ein Eingangsmerkmal des § 20 StGB erfüllt. Im Einzelnen:

a) Die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB setzt voraus, dass beim Betroffenen ein länger dauernder Zustand vorliegt, in dem seine geistige oder seelische Gesundheit beeinträchtigt ist. Ein vorübergehender Defekt genügt nicht (s. BGH, Urteil vom 29. September 2015 - 1 StR 287/15, NJW 2016, 341 Rn. 11 mwN).

Zwar ist es nicht erforderlich, dass der Zustand der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit (§§ 20 , 21 StGB ) anhaltend im Sinne einer ununterbrochenen Befindlichkeit vorliegt (s. BGH, Beschlüsse vom 23. Januar 2008 - 2 StR 426/07, NStZ-RR 2008, 141 , 142; vom 21. November 2012 - 4 StR 257/12, juris Rn. 7). Das ergibt sich schon daraus, dass es für die Frage der aufgehobenen oder verminderten Schuldfähigkeit stets auf den Einfluss des psychischen Defekts auf die Handlungsmöglichkeiten des Täters in der konkreten Tatsituation ankommt (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 5. September 2017 - 3 StR 362/17, juris Rn. 11 mwN). Im Fall einer Persönlichkeitsstörung, die als "schwere andere seelische Abartigkeit" zu bewerten ist, reicht es vielmehr aus, dass sie auf längere Dauer besteht und ihre Aktualisierung, welche die Schuldfähigkeit erheblich einschränkt, schon durch alltägliche Ereignisse bewirkt wird (s. BGH, Beschlüsse vom 23. Januar 2008 - 2 StR 426/07, aaO, S. 141 f.; vom 14. Januar 2009 - 2 StR 565/08, NStZ-RR 2009, 136 ). Jedoch fehlt es an einer Anordnungsvoraussetzung des § 63 StGB , wenn - nicht krankhafte - psychische Auffälligkeiten die Voraussetzungen einer "schweren anderen seelischen Abartigkeit" nicht erreichen, sondern lediglich in bestimmten Konfliktsituationen bei besonderer psychischer Belastung erfüllen und die Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit bewirken (s. BGH, Beschluss vom 26. Juli 2005 - 5 StR 230/05, NStZ 2006, 154 , 155; ferner BGH, Beschluss vom 21. November 2012 - 4 StR 257/12, juris Rn. 7; MüKoStGB/van Gemmeren, 3. Aufl., § 63 Rn. 31; Schönke/Schröder/Kinzig, StGB , 30. Aufl., § 63 Rn. 14; zum Zusammenwirken mit Alkohol vgl. BGH, Beschluss vom 1. April 2014 - 2 StR 602/13, juris Rn. 5; Urteil vom 29. September 2015 - 1 StR 287/15, NJW 2016, 341 Rn. 11).

b) Nach diesen Maßstäben hätte das Landgericht die Maßregel des § 63 StGB nur anordnen dürfen, wenn es einen länger dauernden psychischen Defekt festgestellt hätte, der ein Eingangsmerkmal des § 20 StGB verwirklicht. Abhängig von den Umständen des Einzelfalls kommt zwar in Betracht, dass eine chronifizierte posttraumatische Belastungsstörung im Zusammenwirken mit anderen Faktoren, etwa einer schweren Depression, zu einer massiven Persönlichkeitsveränderung führt, welche die gesamte Lebensführung des Betroffenen nachhaltig beeinträchtigt, und somit als "schwere andere seelische Abartigkeit" zu bewerten ist (s. BGH, Urteil vom 9. Januar 2008 - 5 StR 387/07, bei Pfister NStZ-RR 2008, 167 ; ferner BeckOK StGB/Eschelbach, § 20 Rn. 50.2). Das Urteil verhält sich hierzu indes nicht. Vielmehr hat das Landgericht allein den vorübergehenden hochgradigen Affekt, in dem sich der Angeklagte bei Begehung der Taten befand, einem Eingangsmerkmal des § 20 StGB - nämlich der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung - zugeordnet.

c) Es kann daher dahinstehen, ob das Landgericht ohne Erörterungsmangel eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dergestalt angenommen hat, dass künftig ein alltägliches Ereignis eine erneute Retraumatisierung des Angeklagten bewirkt, die einen weiteren massiven Gewaltausbruch im Zustand zumindest erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit zur Folge hat. Dagegen könnte sprechen, dass nach den Urteilsfeststellungen das den Taten vorgelagerte Geschehen (Faustschläge gegen den reglos auf dem Boden liegenden und vom Angeklagten für tot gehaltenen Freund) für sich gesehen außergewöhnlich erscheint; zudem war der Angeklagte zunächst um Deeskalation bemüht.

2. Infolge der Aufhebung des Maßregelausspruchs kann auch der Freispruch nicht bestehen bleiben.

a) Das Schlechterstellungsverbot des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO steht der Aufhebung des Freispruchs nicht entgegen. Denn durch das Gesetz zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt vom 16. Juli 2007 (BGBl. I S. 1327 ff.) wurde der frühere Rechtszustand dahin geändert, dass es gemäß § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO nunmehr möglich ist, in einer neuen Hauptverhandlung anstelle der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus den Täter schuldig zu sprechen und eine Strafe zu verhängen. Daraus folgt, dass auf die Revision des Angeklagten ein mit der Maßregelanordnung ergangenes freisprechendes Erkenntnis ebenfalls aufgehoben werden kann.

Die Aufhebung (auch) des Freispruchs entspricht hier dem Ziel des Gesetzgebers, durch die Neuregelung zu vermeiden, dass nach einer erfolgreichen Revision des Angeklagten gegen die alleinige Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wegen nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit gemäß § 20 StGB die Taten ohne strafrechtliche Sanktion bleiben, wenn sich in der neuen Hauptverhandlung herausstellt, dass der Angeklagte bei Begehung der Taten schuldfähig war.

b) Die Beschränkung der Revision des Angeklagten auf den Maßregelausspruch ist - jedenfalls deshalb - unwirksam, weil zwischen den Feststellungen und Bewertungen zur nicht ausschließbaren Schuldunfähigkeit bei Begehung der Taten nach § 20 StGB und denjenigen zum länger dauernden Zustand im Sinne des § 63 StGB ein untrennbarer Zusammenhang besteht. Die Wirksamkeit einer vom Angeklagten erklärten isolierten Anfechtung der Maßregelanordnung lässt sich - gemäß den obigen Ausführungen - nicht (mehr) mit der Erwägung rechtfertigen, dass aufgrund des Verbots der Schlechterstellung unabhängig von der Bewertung der Schuldfrage in jedem Fall wieder auf Freispruch erkannt werden müsste (s. BGH, Beschluss vom 21. Mai 2013 - 2 StR 29/13, NStZ-RR 2014, 54 ; LR/Franke, StPO , 26. Aufl., § 344 Rn. 52a).

Auf der Grundlage der Urteilsfeststellungen gründet sich der untrennbare Zusammenhang zwischen der posttraumatischen Belastungsstörung als länger dauerndem Zustand und dem die Steuerungsfähigkeit beeinträchtigenden vorübergehenden hochgradigen Affekt auf zweierlei: Zum einen hatte die massive affektive Erregung ihre Ursache gerade in jener bereits seit dem Jahr 2013 fortbestehenden psychischen Störung. Zum anderen lässt sich deren Schwere nicht unabhängig von den - bereits eingetretenen - Auswirkungen beurteilen.

Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts ist der vorliegende Fall anders zu beurteilen als derjenige, der dem Urteil des 4. Strafsenats vom 28. März 2019 in der Sache 4 StR 530/18 zugrunde lag. Dort hatte die Staatsanwaltschaft den Freispruch des Angeklagten unbeanstandet gelassen und sich gegen die Nichtanordnung seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gewandt, indem sie allein die Fehlerhaftigkeit der Prognoseentscheidung gerügt hatte; das dortige Erstgericht hatte nämlich die Gefährlichkeit des Angeklagten verneint (s. juris, Rn. 8, 10).

c) Nach alledem wird es im vorliegenden Verfahren nicht darauf ankommen, ob die Vorschrift des § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO nach ihrem Wortlaut und dem gesetzgeberischen Willen gegebenenfalls auch dann anwendbar sein könnte, wenn ein Freispruch in Rechtskraft erwachsen ist, und insoweit deren Durchbrechung rechtfertigen könnte.

3. Der Senat hat die gesamten Feststellungen aufgehoben (s. § 353 Abs. 2 StPO ), um dem neuen Tatgericht stimmige Entscheidungen zu den Taten und den hieran anknüpfenden Rechtsfolgen zu ermöglichen.

III.

Infolgedessen bedarf die Sache neuer Verhandlung und Entscheidung, wobei es sich empfehlen könnte, einen anderen Sachverständigen hinzuzuziehen (§ 246a Abs. 1 , 3 StPO ).

Sollte das nunmehr zur Entscheidung berufene Schwurgericht wiederum zu der Überzeugung gelangen, dass der Angeklagte eine rechtswidrige Tat des versuchten Totschlags beging, und daran eine ihn belastende Rechtsfolge knüpfen wollen, wird es Gelegenheit haben, sich mit einem etwaigen Rücktritt (§ 24 Abs. 1 StGB ) zu befassen.

Vorinstanz: LG Lüneburg, vom 06.03.2019
Fundstellen
NStZ-RR 2020, 8
StV 2021, 240