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BGH - Entscheidung vom 16.05.2019

V ZB 145/16

Normen:
AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1 und S. 3-5

BGH, Beschluss vom 16.05.2019 - Aktenzeichen V ZB 145/16

DRsp Nr. 2019/11753

Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung eines Ausländers; Abschiebung eines Ausländers nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft i.R.d. Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens

Ein Ausländer, gegen den ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, darf grundsätzlich nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft abgeschoben werden. Ein Haftantrag zur Sicherung der Abschiebung muss Ausführungen dazu, ob das erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft vorliegt, dann enthalten, wenn sich aus dem Antrag selbst oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne weiteres ergibt, dass ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig ist.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss des Landgerichts Landshut - 6. Zivilkammer - vom 22. September 2016 aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Landshut den Betroffenen für die Zeit vom 7. bis 30. März 2016 in seinen Rechten verletzt hat. Im Übrigen wird die Sache zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Normenkette:

AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1 und S. 3-5;

Gründe

I.

Dem Betroffenen, einem tunesischen Staatsangehörigen, wurde nach einem erfolglosen Asylverfahren im Jahr 2015 die Abschiebung angedroht. Bei seiner erneuten Einreise am 7. Januar 2016 wurde er festgenommen. Ihm wurde erneut die Abschiebung angedroht. Nachdem er sich zunächst in Abschiebungshaft befunden hatte, verbüßte er vom 21. Januar bis 7. März 2016 eine Ersatzfreiheitsstrafe. Am 1. März 2016 bestätigten die tunesischen Behörden die Staatsangehörigkeit und erklärten sich bereit, ein Passersatzpapier auszustellen.

Am 7. März 2016 hat das Amtsgericht Abschiebungshaft im Anschluss an die Verbüßung der Ersatzfreiheitsstrafe bis spätestens 7. April 2016 angeordnet. Ein Abschiebungsversuch am 18. März 2016 scheiterte am Widerstand des Betroffenen. Nach der am 7. April 2016 erfolgten Abschiebung nach Tunesien hat das Landgericht die nunmehr auf Feststellung der Rechtswidrigkeit gerichtete Beschwerde am 22. September 2016 zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde will der Betroffene weiterhin die Rechtswidrigkeit seiner Inhaftierung feststellen lassen. Die beteiligte Behörde beantragt die Zurückweisung des Rechtsmittels.

II.

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

1. Der Vollzug der Haft bis zum 30. März 2017 hat den Betroffenen in seinen Rechten verletzt.

a) Allerdings ist der Haftantrag - entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde - zulässig. Ausführungen dazu, ob das nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft vorliegt, muss der Haftantrag nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung dann enthalten, wenn sich aus dem Antrag selbst oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne weiteres ergibt, dass ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig ist (vgl. Senat, Beschluss vom 13. September 2018 - V ZB 145/17, juris Rn. 15). Daran gemessen ist der Haftantrag nicht zu beanstanden. Wie die Rechtsbeschwerde selbst erkennt, geht weder aus dem Haftantrag noch aus den beigefügten Unterlagen hervor, dass Ermittlungsverfahren anhängig waren.

b) Ohne Erfolg bleibt auch die Rüge der Rechtsbeschwerde, im Hinblick auf die Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaften Würzburg und Düsseldorf habe das Einvernehmen gemäß § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG gefehlt.

aa) Ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, darf nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG - von den Ausnahmen gemäß § 72 Abs. 4 Sätze 3 bis 5 AufenthG abgesehen - nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft abgeschoben werden. Fehlt dieses Einvernehmen, scheidet die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung eines Ausländers aus. Dabei ist es für die - im Rechtsbeschwerdeverfahren nur auf entsprechende Rüge zu berücksichtigende - Verletzung der genannten Rechtsnorm unerheblich, aus welchen Gründen das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft fehlt. Da es eine Haftvoraussetzung darstellt, kommt es insoweit allein auf die objektive Rechtslage an. Sind mehrere Ermittlungsverfahren anhängig, müssen alle beteiligten Staatsanwaltschaften zustimmen (vgl. Senat, Beschluss vom 19. Juli 2018 - V ZB 179/15, InfAuslR 2018, 415 Rn. 7 mwN).

bb) Daran gemessen kann das Verfahren der Staatsanwaltschaft Würzburg wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte die Haftanordnung vom 7. März 2016 nicht rechtswidrig werden lassen; denn es bezieht sich auf den zeitlich späteren erfolglosen Abschiebungsversuch am 18. März 2016. Auch im Hinblick auf das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Düsseldorf wegen Körperverletzung bedurfte es des Einvernehmens nicht. Dieses Verfahren ist nämlich vor Erlass der Haftanordnung durch rechtskräftigen Strafbefehl vom 29. Oktober 2015 abgeschlossen worden; nach rechtskräftigem Abschluss eines Strafverfahrens bedarf es des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft nicht mehr (vgl. Senat, Beschluss vom 12. März 2015 - V ZB 197/14, FGPrax 2015, 181 ).

c) Erfolg hat jedoch die Rüge der Rechtsbeschwerde, im Hinblick auf das von dem Amtsgericht Borna geführte Strafverfahren wegen Diebstahls habe das Einvernehmen bei Erlass der Haftanordnung noch nicht vorgelegen. Insoweit stellt das Beschwerdegericht fest, dass die Staatsanwaltschaft Leipzig, Zweigstelle Grimma, der Abschiebung erst am 30. März 2016 zugestimmt hat. Dieser Verfahrensfehler ist hierdurch - allerdings nur mit Wirkung für die Zukunft - geheilt worden. Dasselbe gilt für die Anklage der Staatsanwaltschaft Leipzig vom 17. November 2015 wegen zweier Diebstähle. Das am 30. März 2016 erteilte Einvernehmen erfasst auch dieses Verfahren, weil die Anklage von der Staatsanwältin verfasst worden ist, die das Einvernehmen mit der Abschiebung erklärt hat. Insoweit ist dem Betroffenen über seinen Verfahrensbevollmächtigten rechtliches Gehör gewährt worden; einer persönlichen Anhörung bedurfte es nicht (vgl. Senat, Beschluss vom 13. September 2018 - V ZB 231/17, FGPrax 2019, 41 Rn. 6 mwN).

2. Für die Zeit ab dem 31. März 2016 kann die angefochtene Entscheidung deshalb keinen Bestand haben, weil der Haftrichter und das Beschwerdegericht in der Sache nicht - wie nach § 26 FamFG geboten - anhand der Ausländerakte geprüft haben, ob § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG einer Abschiebung des Betroffenen deshalb entgegenstand, weil noch weitere Ermittlungsverfahren anhängig waren (vgl. Senat, Beschluss vom 13. September 2018 - V ZB 231/17, FGPrax 2019, 41 Rn. 5 mwN). Diese Prüfung hätte - wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt - ergeben, dass am 23. August 2015 ein weiterer Strafbefehlsantrag der Staatsanwaltschaft Düsseldorf ( 60 Js 5328/15, vgl. Ausländerakte Bl. 162) wegen Besitzes von Betäubungsmitteln gestellt worden war. Bislang ist nicht geprüft worden, ob insoweit das (ggf. generelle) Einvernehmen vorlag bzw. ob das Strafverfahren bei der Haftanordnung bereits abgeschlossen war.

3. Im Übrigen ist der Beschluss aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden; von einer näheren Begründung wird abgesehen (§ 74 Abs. 7 FamFG ).

III.

Für die Zeit bis zum 30. März 2016 kann der Senat selbst entscheiden (§ 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG ). Im Übrigen ist der angefochtene Beschluss aufzuheben (§ 74 Abs. 5 FamFG ). Die Sache ist insoweit an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG ). Dieses wird aufzuklären haben, ob das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft Düsseldorf mit der Abschiebung des Betroffenen im Hinblick auf das Verfahren 60 Js 5328/15 vorlag. Die gebotene Gewährung des rechtlichen Gehörs zu den von dem Beschwerdegericht zu treffenden Feststellungen kann dadurch erfolgen, dass dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt wird (Senat, Beschluss vom 13. September 2018 - V ZB 231/17, FGPrax 2019, 41 Rn. 6 mwN).

Vorinstanz: AG Landshut, vom 07.03.2016 - Vorinstanzaktenzeichen XIV 6/16
Vorinstanz: LG Landshut, vom 22.09.2016 - Vorinstanzaktenzeichen 64 T 695/16