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BFH - Entscheidung vom 11.06.2019

X R 24/18

Normen:
EStG § 22 Nr. 5 Satz 1 und 13, § 34 Abs. 2 Nr. 4, § 93 Abs. 3
EStG § 22 Nr. 5 S. 1 und S. 13
EStG § 34 Abs. 2 Nr. 4
EStG § 93 Abs. 3

Fundstellen:
BFH/NV 2019, 1337

BFH, Urteil vom 11.06.2019 - Aktenzeichen X R 24/18

DRsp Nr. 2019/15447

Voraussetzungen der Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf die Kapitalisierung von Altersbezügen

1. NV: Die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf Vergütungen für mehrjährige Tätigkeiten erfordert zusätzlich die Außerordentlichkeit dieser Einkünfte. Hierfür ist im Falle der Kapitalisierung von Altersbezügen entscheidend, dass eine solche Zusammenballung der Einkünfte in dem betreffenden Lebens-, Wirtschafts- und Regelungsbereich nicht dem typischen Ablauf entspricht. Ob darüber hinaus in dem konkreten Vertrag die Möglichkeit einer Kapitalabfindung bereits von Anfang an vorgesehen war oder nicht, hat demgegenüber nur indizielle Bedeutung. 2. NV: Die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf Kapitalabfindungen von Kleinbetragsrenten aus Altersvorsorgeverträgen kann in der Zeit vor dem Inkrafttreten des § 22 Nr. 5 Satz 13 EStG nicht allein mit der Begründung bejaht werden, der ursprüngliche Altersvorsorgevertrag habe eine solche Kapitalisierungsmöglichkeit nicht vorgesehen.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Nürnberg vom 11.07.2018 – 5 K 1130/17 aufgehoben.

Die Sache wird an das Finanzgericht Nürnberg zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.

Normenkette:

EStG § 22 Nr. 5 Satz 1 und 13, § 34 Abs. 2 Nr. 4 , § 93 Abs. 3 ;

Gründe

I.

Der im Jahr 1949 geborene Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) schloss im Jahr 2003 mit einem Anbieter einen zertifizierten Altersvorsorgevertrag. Entsprechend § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 des Altersvorsorge-Zertifizierungsgesetzes in der seinerzeit geltenden Fassung sah der Vertrag vor, dass die Auszahlung ausschließlich in Form einer lebenslangen monatlichen Leibrente oder eines Auszahlungsplans mit monatlichen Teilraten und anschließender lebenslanger Teilkapitalverrentung möglich sein sollte.

Im März 2015 unterbreitete der Anbieter dem —zu diesem Zeitpunkt 65–jährigen— Kläger die Möglichkeit einer förderunschädlichen Kapitalabfindung, da die Monatsrente sich auf lediglich 21 € belaufen würde. Dies war möglich geworden, weil —zeitlich nach dem Vertragsschluss— durch das Alterseinkünftegesetz vom 5. Juli 2004 (BGBl I 2004, 1427 ) mit Wirkung zum 1. Januar 2005 in § 93 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes ( EStG ) eine Regelung geschaffen worden war, wonach die Kapitalabfindung einer Kleinbetragsrente zu Beginn der Auszahlungsphase als unschädliche Verwendung anzusehen ist.

Der Kläger stimmte dem zu und erhielt im Streitjahr 2015 eine Einmalzahlung, die der Anbieter in der von ihm übermittelten Rentenbezugsmitteilung wie folgt aufgegliedert hat:

-

7.018,59 €: geförderte Beträge nach § 22 Nr. 5 Satz 1 EStG

-

./. 24,34 €: negative Zinsen nach § 22 Nr. 5 Satz 2 Buchst. c EStG

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) besteuerte die Kapitalabfindung in den Einkommensteuerbescheiden für das Streitjahr —zuletzt im Bescheid vom 22. Mai 2017— in Höhe von 7.018 € als "Leistung aus einem Altersvorsorgevertrag" gemäß § 22 Nr. 5 Satz 1 EStG in vollem Umfang. Ferner setzte er gemäß § 22 Nr. 5 Satz 2 Buchst. c EStG aus den Zinsen Einkünfte von ./. 24 € an. Der Kläger begehrte demgegenüber die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes, da es sich um außerordentliche Einkünfte aus einer mehrjährigen Tätigkeit (§ 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG ) handele.

Nachdem der Einspruch in diesem Punkt erfolglos geblieben war, gab das Finanzgericht (FG) der Klage statt (Entscheidungen der Finanzgerichte —EFG— 2019, 50 ). Zur Begründung führte es aus, außerordentliche Einkünfte seien gegeben, wenn die Zusammenballung nicht dem vertragsgemäßen oder typischen Ablauf der jeweiligen Einkunftserzielung entspreche. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) genüge es, wenn nur eine der beiden Alternativen erfüllt sei. Vorliegend sei die Kapitalabfindung nicht vertragsgemäß gewesen, da sie im ursprünglichen Altersvorsorgevertrag nicht vorgesehen gewesen sei. Die nachträgliche Vereinbarung der Kapitalabfindung ändere daran nichts.

Es handele sich auch um einen atypischen Ablauf. Für die Basisversorgung seien ausschließlich laufende Rentenzahlungen typisch. Ein Kapitalwahlrecht wäre auch im Bereich der steuerlich geförderten zusätzlichen Altersvorsorge bis 2004 zulageschädlich gewesen, so dass dies im Zeitpunkt des Vertragsschlusses atypisch gewesen sei. Allein der Umstand, dass die Anbieter versucht haben dürften, möglichst viele Kunden zur Annahme von Abfindungen für Kleinbetragsrenten zu bewegen, bewirke nicht, dass ein solcher Ablauf als typisch anzusehen sei. Denn die Kapitalabfindung habe nicht im Belieben der Anbieter gestanden, sondern in jedem Einzelfall die Zustimmung der Kunden vorausgesetzt. Dieses Verhalten habe dem bis 2004 im Gesetz verankerten Leitbild einer lebenslangen Ergänzung zur Basisversorgung widersprochen. Die ab dem 1. Januar 2018 geltende Neuregelung des § 22 Nr. 5 Satz 13 EStG lasse nicht den Rückschluss zu, dass § 34 Abs. 1 EStG in den Vorjahren nicht anzuwenden gewesen sei.

Mit seiner Revision vertritt das FA weiterhin die Auffassung, die Kapitalabfindung sei nicht als außerordentlich anzusehen. Sie sei zum einen vertragsgemäß gewesen, da die Parteien den ursprünglichen Vertrag einvernehmlich geändert hätten. Nach dem BFH-Urteil vom 20. September 2016 – X R 23/15 (BFHE 255, 209 , BStBl II 2017, 347 , Rz 24) sei eine bereits im ursprünglichen Vertrag vorgesehene Kapitalabfindung auch dann vertragsgemäß, wenn die Ausübung des Kapitalwahlrechts ein Zusammenwirken beider Vertragsparteien voraussetze. Es sei kein Grund ersichtlich, weshalb etwas anderes gelten sollte, wenn die Parteien nachträglich dahingehend zusammenwirkten, dass sie den Vertrag einvernehmlich änderten.

Darüber hinaus sei die Abfindung auch nicht atypisch, da die Abgeltung einer Kleinbetragsrente wegen der unverhältnismäßig hohen Verwaltungskosten den Normalfall darstelle. Der BFH habe in seinem Urteil vom 23. Oktober 2013 – X R 3/12 (BFHE 243, 287 , BStBl II 2014, 58 ) den ermäßigten Steuersatz zwar für eine Kapitalabfindung gewährt, bei der es sich um eine eng begrenzte und auslaufende Ausnahmeregelung gehandelt habe. Dies habe sich aber auf die Basisversorgung (berufsständisches Versorgungswerk) bezogen. Die steuerlich geförderte zusätzliche Altersvorsorge gehöre indes nicht zur Basisversorgung, sondern zur zweiten Schicht der Altersvorsorge. Hier sei eine Kapitalabfindung nicht atypisch, da entsprechende Vereinbarungen seit 2005 möglich seien.

Das FA beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er schließt sich dem FG an.

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ––FGO—).

1. Zu Recht hat das FG die Kapitalabfindung als Leistung aus einem Altersvorsorgevertrag gemäß § 22 Nr. 5 Satz 1 EStG in vollem Umfang als einkommensteuerpflichtig angesehen. Da dies zwischen den Beteiligten im Revisionsverfahren zu Recht nicht streitig ist, sieht der Senat insoweit von weiteren Ausführungen ab.

2. Hinsichtlich der Frage, ob die Voraussetzungen für die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes (§ 34 Abs. 1 EStG ) auf die Kapitalabfindung vorliegen, ist der Rechtsstreit nicht entscheidungsreif. § 22 Nr. 5 Satz 13 EStG ist im Streitjahr noch nicht anwendbar und hat für die früheren Zeiträume keine entscheidende Bedeutung (dazu unten a). Auch liegen die Voraussetzungen des § 34 Abs. 2 Nr. 2 EStG nicht vor (unten b). Die tatsächlichen Feststellungen des FG zu den Voraussetzungen des § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG reichen aber nicht aus (unten c), so dass der Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückverwiesen werden muss.

a) Erst mit Wirkung ab dem 1. Januar 2018 (vgl. Art. 17 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 9 Nr. 5 Buchst. b des Betriebsrentenstärkungsgesetzes vom 17. August 2017, BGBl I 2017, 3214 ) ist dem § 22 Nr. 5 EStG ein Satz 13 angefügt worden, wonach für Leistungen aus Altersvorsorgeverträgen nach § 93 Abs. 3 EStG die in § 34 Abs. 1 EStG geregelte Steuersatzermäßigung entsprechend anzuwenden ist. Im Streitjahr 2015 konnte diese Rechtsfolge der Besteuerung der Kapitalabfindung nicht zugrunde gelegt werden.

Die spätere ausdrückliche gesetzliche Regelung kann für die rechtliche Beurteilung früherer Zeiträume nicht von entscheidender Bedeutung sein. Zwar heißt es in der Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Betriebsrentenstärkungsgesetz vom 22. Februar 2017 (BTDrucks 18/11286, 63), vor dem Inkrafttreten des § 22 Nr. 5 Satz 13 EStG sei die Gewährung des ermäßigten Steuersatzes nicht in Betracht gekommen, da eine Kapitalabfindung stets auf einer vertraglichen Vereinbarung zwischen dem Anbieter und dem Steuerpflichtigen beruhe. Auch wenn einer solchen Äußerung eines —späteren— Gesetzgebers mitunter eine gewisse Indizwirkung für die in früheren Jahren geltende Rechtslage beigemessen werden mag, ist durch die Auslegung der im Streitjahr 2015 geltenden gesetzlichen Regelungen zu ermitteln, ob § 34 Abs. 1 EStG seinerzeit auf Kapitalauszahlungen nach § 93 Abs. 3 EStG anwendbar war oder nicht (vgl. dazu die nachfolgenden Ausführungen unter b und c).

b) Nach § 34 Abs. 2 Nr. 2 EStG kommen als außerordentliche Einkünfte u.a. Entschädigungen i.S. des § 24 Nr. 1 EStG in Betracht. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen im Streitfall nicht vor. Die Kapitalisierung eines Anspruchs auf laufende Zahlungen stellt grundsätzlich keine Entschädigung dar (vgl. BFH-Urteile vom 21. September 1993 – III R 53/89, BFHE 172, 349 , unter II.1., und vom 14. Januar 2004 – X R 37/02, BFHE 205, 96 , BStBl II 2004, 493 , unter II.1.c). Darüber hinaus setzt die Annahme einer Entschädigung in Fällen, in denen die entsprechende Zahlung auf einer einvernehmlichen Vertragsänderung beruht, voraus, dass der Steuerpflichtige dabei unter rechtlichem, wirtschaftlichem oder tatsächlichem Druck gehandelt hat (vgl. BFH-Urteil vom 24. Juni 2009 – IV R 94/06, BFHE 225, 398 , unter II.2.a). Dafür ist vorliegend nichts ersichtlich. All dies ist zwischen den Beteiligten zu Recht nicht streitig.

c) Ob die Kapitalabfindung als Vergütung für mehrjährige Tätigkeiten (§ 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG ) anzusehen ist, kann anhand der Feststellungen des FG hingegen nicht abschließend beurteilt werden.

aa) Der Senat hat in einem Parallelverfahren mit Urteil vom 11. Juni 2019 – X R 7/18 (www.bundesfinanzhof.de, Datum der Veröffentlichung 22. August 2019, unter II.2.c bb) entschieden, dass in Fällen wie dem vorliegenden zwar grundsätzlich von einer Vergütung für mehrjährige Tätigkeiten auszugehen ist, die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes aber zusätzlich die "Außerordentlichkeit" dieser Einkünfte erfordert und dies in den Fällen, in denen es um die Begünstigung einer Einmalzahlung nach § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG geht, voraussetzt, dass eine solche Einmalzahlung —hier: die Kapitalisierung laufender Ansprüche auf Altersbezüge— für den betreffenden Lebens-, Wirtschafts- und Regelungsbereich atypisch ist. Ob darüber hinaus in dem konkreten Vertrag die Möglichkeit einer Kapitalabfindung bereits von Anfang an vorgesehen war oder nicht, stellt sich danach als ein Indiz dar, das allenfalls gewisse Rückschlüsse darauf zulassen mag, ob eine Kapitalabfindung im betreffenden Lebens- oder Wirtschaftsbereich typisch oder atypisch ist, aber nicht von allein entscheidender Bedeutung ist.

bb) Nach diesen Maßstäben kann allein der vom FG festgestellte Umstand, dass die Möglichkeit der Kapitalisierung einer Kleinbetragsrente im Altersvorsorgevertrag ursprünglich nicht vorgesehen war, die Anwendung des § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG nicht eröffnen. Vielmehr ist entscheidend, ob die Kapitalisierung laufender Rentenansprüche im Bereich der Altersvorsorgeverträge (§§ 82 ff. EStG ) als atypisch anzusehen ist. Auch diese Frage hat das FG zwar bejaht, allerdings keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, die seine Würdigung tragen könnten. Für das Verfahren im zweiten Rechtsgang nimmt der Senat auf die Hinweise in seinem Urteil vom 11. Juni 2019 – X R 7/18, unter II.2.c cc Bezug.

Ergänzend ist anzumerken, dass die Annahme eines nicht mehr atypischen Geschehensablaufs —anders als das FG meint— nicht dadurch ausgeschlossen würde, dass die Initiative zu der erforderlichen Vertragsänderung in vielen Fällen von den Anbietern ausgegangen sein mag. Entscheidend ist, ob es nur in atypischen Einzelfällen zu einer auf eine Kapitalisierung gerichteten Vertragsänderung gekommen ist, nicht aber, auf wessen Initiative eine solche Vertragsänderung zurückgeht.

Ebenso kann man —entgegen dem FG— für die Beurteilung von Kapitalabfindungen aus Altersvorsorgeverträgen (zusätzliche Altersversorgung und Teil der zweiten Schicht des Drei-Schichten-Modells) nichts daraus ableiten, dass Kapitalabfindungen im Bereich der Basisversorgung grundsätzlich als atypisch anzusehen sind.

3. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO .

Vorinstanz: FG Nürnberg, vom 11.07.2018 - Vorinstanzaktenzeichen 5 K 1130/17
Fundstellen
BFH/NV 2019, 1337