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BFH - Entscheidung vom 27.12.2019

X B 6/18

Normen:
FGO § 40 Abs. 2, § 51 Abs. 1 Satz 1, § 79b Abs. 1, 3, § 115 Abs. 2 Nr. 3
ZPO § 43, § 45 Abs. 1
GG Art. 101 Abs. 1 Satz 2
FGO § 40 Abs. 2
ZPO § 45 Abs. 1
GG Art. 101 Abs. 1 S. 2
ZPO § 43
FGO § 51 Abs. 1 S. 1
FGO § 79b Abs. 1
FGO § 79b Abs. 3
FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3

Fundstellen:
AO-StB 2020, 220
BFH/NV 2020, 769

BFH, Beschluss vom 27.12.2019 - Aktenzeichen X B 6/18

DRsp Nr. 2020/7092

Rechte des Klägers im finanzgerichtlichen Verfahren hinsichtlich verfahrenswesentlicher beschlagnahmter Unterlagen Rechtsmissbräuchlichkeit der Ablehnung sämtlicher Mitglieder eines Spruchkörpers wegen Besorgnis der Befangenheit

1. NV: Ein Rechtsstreit ist im Regelfall nicht entscheidungsreif, solange dem Kläger kein Zugang zu verfahrenswesentlichen beschlagnahmten Unterlagen eingeräumt wird, die dieser zur Anfertigung seiner Klagebegründung benötigt. Vor der Zugänglichmachung dieser Unterlagen darf ein FG eine solche Klage daher nicht mangels Geltendmachung einer konkreten Beschwer als unzulässig verwerfen. 2. NV: Eine Frist nach § 79b Abs. 1 FGO darf im Regelfall nicht gesetzt werden, solange es dem Kläger objektiv unmöglich ist, verfahrenswesentliche beschlagnahmte Unterlagen einzusehen bzw. Kopien dieser Unterlagen zu erhalten. 3. NV: Weist ein FG Unterlagen, die ihm erst nach Ablauf einer gesetzten Ausschlussfrist vorgelegt werden, unter Berufung auf § 79b Abs. 3 FGO zurück, muss es sich in seiner Entscheidung ausdrücklich mit erkennbaren Gesichtspunkten befassen, aus denen die Schuldlosigkeit des Beteiligten an der verspäteten Vorlage folgen könnte. 4. NV: Jede Schätzung muss in sich schlüssig, wirtschaftlich vernünftig und möglich sein; ein entsprechendes tatrichterliches Urteil muss Ausführungen zum Vorliegen dieser Voraussetzungen enthalten. 5. NV: Entscheidet der abgelehnte Richter unter Verstoß gegen § 45 Abs. 1 ZPO selbst anstelle seines Vertreters über einen zulässigen Ablehnungsantrag, schlägt diese Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter auf die Endentscheidung durch (Anschluss an Senatsbeschluss vom 16.10.2019 – X B 99/19). 6. NV: Auch wenn sämtliche Mitglieder eines Spruchkörpers abgelehnt werden, ist ein solches Ablehnungsgesuch nur dann rechtsmissbräuchlich und daher unzulässig, wenn es gar nicht oder ausschließlich mit Umständen begründet wird, die unter keinem denkbaren Gesichtspunkt eine Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen können. Dies ist nur dann der Fall, wenn der Ablehnungsantrag sich bereits ohne jedes Eingehen auf den Verfahrensgegenstand als unzulässig darstellt.

Tenor

Auf die Beschwerde des Beschwerdeführers wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 15.11.2017 – 11 K 11164/17 aufgehoben.

Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Normenkette:

FGO § 40 Abs. 2 , § 51 Abs. 1 Satz 1, § 79b Abs. 1 , 3 , § 115 Abs. 2 Nr. 3 ; ZPO § 43 , § 45 Abs. 1 ; GG Art. 101 Abs. 1 Satz 2;

Gründe

I.

Der Beschwerdeführer ist der Insolvenzverwalter über das Vermögen des Insolvenzschuldners (S) und vormaligen Klägers. S erzielte in den Streitjahren 2011 bis 2013 Einkünfte aus Gewerbebetrieb aus insgesamt fünf Einzelunternehmen, u.a. einem Obst- und Gemüsehandel, einem Umzugsunternehmen und einem Spielautomatenbetrieb, für die der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) zuständig ist. Ferner betrieb S ein Bistro im Bezirk eines anderen FA; diese Einkünfte werden vom dortigen Betriebs-FA gesondert festgestellt. Seinen Gewinn ermittelte er in allen Betrieben durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung.

Im Jahr 2016 begann bei S eine Außenprüfung. S übergab dem Prüfer die zu seinen Gewinnermittlungen gehörenden Unterlagen (im Wesentlichen Bankkontoauszüge, Aufzeichnungen über Bareinnahmen und die dazugehörigen Belege; von den Beteiligten als "Buchhaltungsunterlagen" bezeichnet). Während der Außenprüfung wurde ein Steuerstrafverfahren gegen S eingeleitet. Nach Übersendung der Bp-Berichte bat S das FA mehrfach um Herausgabe der Gewinnermittlungsunterlagen, damit er diese überarbeiten und darin enthaltene Fehler korrigieren könne. Das FA lehnte dies ab.

Auf Antrag der Steuerfahndung ordnete das Amtsgericht (AG) am 05.12.2016 die Beschlagnahme der —noch beim FA befindlichen— Gewinnermittlungsunterlagen an.

Ebenfalls im Dezember 2016 ergingen die im vorliegenden Verfahren angefochtenen geänderten Bescheide über Einkommensteuer sowie die Gewerbesteuermessbeträge für die jeweiligen Betriebe für die Streitjahre, in denen das FA erhebliche Erhöhungen der bisherigen Festsetzungen vornahm. Insgesamt hat das FA für die drei Streitjahre aus den angefochtenen Bescheiden Steuernachforderungen von gut 461.000 € zur Insolvenztabelle angemeldet.

Im anschließenden Einspruchsverfahren bat S um treuhänderische Herausgabe der beschlagnahmten Gewinnermittlungsunterlagen an seinen Prozessbevollmächtigten (P). Die Steuerfahndung lehnte dies ab.

Während des Einspruchsverfahrens erließ das Betriebs-FA am 03.02.2017 geänderte Bescheide über die gesonderte Feststellung der Einkünfte aus dem Bistro. Diese Feststellungen setzte das FA in geänderten Einkommensteuerbescheiden vom 24.02.2017 um. Gegen die Feststellungsbescheide legte S keinen Einspruch ein. Er bestritt, diese erhalten zu haben.

Zwischen dem Ergehen der Einspruchsentscheidung und der Erhebung der Klage bat S das AG am 15.05.2017 um Übermittlung der Strafakte und der Gewinnermittlungsunterlagen entweder im Original oder in Kopie. In seiner am 22.05.2017 beim Finanzgericht (FG) eingereichten Klageschrift führte er aus, die vom FA vorgenommenen hohen Hinzuschätzungen seien mit derart kleinen Betrieben nicht zu erwirtschaften. Er wolle seine Gewinnermittlungen überarbeiten, benötige dafür aber die beschlagnahmten Unterlagen. Am 07.07.2017 nahm S beim FG Einsicht in die dort vorhandenen Gerichts- und Steuerakten, bei denen sich die beschlagnahmten Gewinnermittlungsunterlagen allerdings nicht befanden.

Die Steuerfahndung teilte S am 29.06.2017 mit, er könne an Amtsstelle in die beschlagnahmten Unterlagen Einsicht nehmen und kostenpflichtig Kopien anfertigen lassen. Am 18.08.2017 erklärte S gegenüber dem FG, ihm sei von der Steuerfahndung trotz entsprechender Kontaktaufnahme bisher kein konkreter Termin zur Akteneinsicht gewährt worden.

Das FG setzte S mit einem am 01.09.2017 zugestellten Schreiben gemäß § 79b Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung ( FGO ) eine bis zum 29.09.2017 laufende Frist zur Angabe der Tatsachen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung er sich beschwert fühle.

Am 19.09.2017 begründete S Teile seines Klagebegehrens näher und teilte dem FG mit, die Steuerfahndung habe ihm gegenüber am 11.09.2017 telefonisch erklärt, die Gewinnermittlungsunterlagen seien überhaupt erst an diesem Tag vom FA an die Steuerfahndung übermittelt worden und stünden dort nun zur Akteneinsicht bereit. Grund für diese Verzögerung seien allgemeine Engpässe in der Finanzverwaltung. Am 18.09.2017 nahm S bei der Steuerfahndung Einsicht in die umfangreichen Unterlagen; am 19.09.2017 bat er dort —unter ausdrücklicher Zusage der Kostenübernahme— um Zusendung von Kopien dieser Unterlagen. In einem weiteren Schreiben an das FG vom 21.09.2017 beantragte S die Beiziehung der Gewinnermittlungsunterlagen durch das FG. Ferner erklärte er, die —von ihm namentlich bezeichnete— zuständige Mitarbeiterin der Steuerfahndung habe ihm zugesagt, die Kopien würden spätestens bis zum 12.10.2017 übermittelt. Er bat daher um Verlängerung der gesetzten Ausschlussfrist bis zum 31.10.2017. Das FG verlängerte die Frist nicht.

Am 11.10.2017 teilte S dem FG mit, die Steuerfahndung habe am 09.10.2017 zunächst lediglich Kopien der Gewinnermittlungsunterlagen für einen der fünf Betriebe übersandt; die Anfertigung und Übermittlung der Kopien der weiteren erforderlichen Unterlagen verzögere sich weiter. Er bat daher um weitere Fristverlängerung bis zum "31.11.2017". Auch diesem Antrag entsprach das FG nicht, sondern lud für den 15.11.2017 zur mündlichen Verhandlung. Die Ladung wurde P am 27.10.2017 zugestellt.

Noch am 27.10.2017 beantragte S, den Termin zu verlegen. Zum einen werde sich P vom 08.11.2017 bis zum 22.11.2017 im Urlaub befinden; zum anderen sei das Klageverfahren noch nicht entscheidungsreif, weil die entscheidungserheblichen Unterlagen bisher nicht vorlägen. Die Steuerfahndung habe heute mitgeteilt, die restlichen Unterlagen, deren Übermittlung sie S zugesagt habe, hätten wegen des dort herrschenden Personalmangels noch nicht kopiert werden können.

Das FG lehnte den Terminverlegungsantrag am 06.11.2017 ab. Zur Begründung führte es aus, P habe den Urlaub im Zeitpunkt des Zugangs der Ladung noch nicht verbindlich gebucht. Im Übrigen sei nicht dargetan und glaubhaft gemacht worden, warum es unmöglich und unzumutbar sein solle, während eines Urlaubs an der Ostsee einen Termin in Cottbus wahrzunehmen. Auf den darüber hinaus von S vorgetragenen Gesichtspunkt der fehlenden Entscheidungsreife des Verfahrens ging das FG nicht ein.

Am 07.11.2017 beantragte S erneut die Verlegung des Termins und reichte zur Begründung eine für P ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Zeit bis zum 17.11.2017 ein. Diesen Antrag lehnte das FG am 08.11.2017 wegen Prozessverschleppungsabsicht und fehlender Glaubhaftmachung einer Verhandlungsunfähigkeit ab.

In einem weiteren Terminverlegungsantrag vom 14.11.2017 berief sich S nochmals auf die fehlende Entscheidungsreife der Sache. Zur Begründung legte er u.a. ein Schreiben der Steuerfahndung vom 08.11.2017 vor, mit dem mitgeteilt wurde, die noch ausstehenden Kopien seien nun angefertigt worden. Diese würden aber erst nach Eingang der Kopiergebühren abgesandt.

Ebenfalls am 14.11.2017 lehnte S die drei Berufsrichter des beim FG zuständigen Senats wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Das Gericht versuche bewusst verfahrenswidrig, eine Entscheidung herbeizuführen, obwohl es an der Entscheidungsreife fehle und P urlaubs- und krankheitsbedingt nicht bei der mündlichen Verhandlung anwesend sein könne. Die Berichterstatterin habe die beantragte Akteneinsicht nicht bei einer Dienststelle in der Nähe des —weit vom FG entfernt liegenden— Kanzleisitzes des P gewährt, sondern nur beim FG selbst. P habe daher anreisen müssen und einen ganzen Arbeitstag verloren. Schon im vorangehenden Eilverfahren habe das FG trotz fehlender Entscheidungsreife entschieden und ohne jede Begründung ausgeführt, die Schätzung hätte noch höher ausfallen können. Angesichts der bisherigen und gegenüber dem FG dokumentierten Unmöglichkeit, Kopien der beschlagnahmten Unterlagen von der Steuerfahndung zu erhalten, sei das Setzen der Ausschlussfrist nicht sachgerecht gewesen. Auf die Fristverlängerungsanträge des S habe das FG nicht reagiert. All dies zeige, dass der Senat beabsichtige, die Klage im Wege einer unsachgemäßen Verfahrensbeschleunigung ohne die notwendige Überprüfung der Schätzung abzuweisen. Auch wenn der Ablehnungsantrag sich gegen alle Berufsrichter richte, sei er zulässig, da er an die Mitwirkung individuell benannter Richter an bestimmten gerichtlichen Handlungen (z.B. Ablehnung von Terminverlegungsanträgen) anknüpfe. Die unsachgemäße Verfahrensbeschleunigung sei jedem Richter zuzuordnen.

In der mündlichen Verhandlung am 15.11.2017 verwarf das FG —ohne damit die geschäftsplanmäßigen Vertreter der abgelehnten Richter zu befassen— diesen Ablehnungsantrag sowie einen weiteren vor oder in der mündlichen Verhandlung gestellten Ablehnungsantrag als unzulässig, weil die Anträge sich gegen den Senat in seiner Gesamtheit richteten.

Im angefochtenen Urteil lehnte das FG zunächst die Terminverlegungsanträge ab, weil diese "alleine" der Prozessverschleppung gedient hätten. Die Ablehnungsanträge seien nicht nur wegen der Ablehnung des gesamten Senats unzulässig, sondern auch wegen ihrer Zielrichtung, die mündliche Verhandlung zu verhindern. Zudem habe S sein Ablehnungsrecht verloren, weil er sich in der mündlichen Verhandlung zur Sache eingelassen habe.

In der Sache selbst verwarf das FG die Klage als unzulässig. S habe nicht substantiiert geltend gemacht, inwieweit er durch die angefochtenen Bescheide in seinen Rechten verletzt sei. Insbesondere habe er keine konkreten Fehler der Bescheide vorgetragen. Auch innerhalb der ihm nach § 79b Abs. 1 FGO gesetzten Ausschlussfrist habe S keine Tatsachen angegeben, durch die er sich beschwert fühle. Die von ihm vorgelegten Gewinnermittlungsunterlagen seien gemäß § 79b Abs. 3 FGO zurückzuweisen, da die Zulassung dieser Unterlagen die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde. Auch hier sei der Umstand zu berücksichtigen, dass S das Verfahren bewusst verschleppt habe. Die Versäumung der Ausschlussfrist berechtige zur Verwerfung der Klage als unzulässig.

Im Übrigen sei die Klage auch unbegründet. Wegen der Mängel der "Buchführung" bestehe dem Grunde nach eine Schätzungsbefugnis. Dies habe S selbst eingeräumt, indem er angegeben habe, die Gewinnermittlungen überarbeiten zu müssen. Zur Höhe der Schätzung habe S keine substantiierten Einwendungen erhoben. Die Schätzung des FA bewege sich sogar am unteren Rand des möglichen Schätzungsrahmens.

Noch während des Laufs der Beschwerdebegründungsfrist ist das Insolvenzverfahren über das Vermögen des S eröffnet und damit das Beschwerdeverfahren unterbrochen worden. Der Beschwerdeführer hat das Beschwerdeverfahren am 08.08.2019 aufgenommen und begehrt die Zulassung der Revision wegen Verfahrensmängeln.

Das FA hält die Beschwerde für unbegründet.

II.

Die Beschwerde ist begründet. Es liegen vom Beschwerdeführer geltend gemachte Verfahrensmängel vor, auf denen die Entscheidung des FG beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO ).

Sowohl die Hauptbegründung des FG (Verwerfung der Klage als unzulässig; dazu unten 1.) als auch die Hilfsbegründung (Abweisung der Klage als unbegründet; dazu unten 2.) beruht auf Verfahrensmängeln. Darüber hinaus ist das angefochtene Urteil unter Verstoß gegen den Anspruch auf den gesetzlichen Richter ergangen, weil das FG den Ablehnungsantrag gesetzwidrig behandelt hat (unten 3.).

1. Der Beschwerdeführer rügt zu Recht, das FG habe die Klage rechtsfehlerhaft als unzulässig verworfen.

a) Unabhängig vom Vorliegen einer —vom Kläger ausdrücklich gerügten— Überraschungsentscheidung ist ein Verfahrensmangel stets dann gegeben, wenn über eine zulässige Klage durch Prozessurteil entschieden wird (Senatsbeschluss vom 23.05.2016 – X B 174/15, BFH/NV 2016, 1297 , Rz 12). Dieser Mangel ist vom Beschwerdeführer sinngemäß gerügt worden; sein Vorliegen ergibt sich aus den nachstehenden Ausführungen. Der Senat kann es deshalb dahinstehen lassen, ob eine Überraschungsentscheidung vorliegt.

b) Das FG hat seine Auffassung, die Klage sei unzulässig, zunächst darauf gestützt, S habe entgegen § 40 Abs. 2 FGO nicht substantiiert geltend gemacht, durch die angefochtenen Verwaltungsakte in seinen Rechten verletzt zu sein.

aa) Die hierfür zur Begründung vom FG allein angeführte Entscheidung (Beschluss des Bundesfinanzhofs —BFH— vom 22.02.2005 – III S 17/04 (PKH), BFH/NV 2005, 1124 ) ist im Streitfall nicht einschlägig. Zum einen bezieht sie sich auf eine Ausschlussfrist nach § 65 Abs. 2 FGO , die hier aber nicht gesetzt wurde. Außerdem ging es dort um eine Schätzung wegen Nichtabgabe der Steuererklärung, so dass sämtliche Besteuerungsgrundlagen unbekannt waren. Der vorliegende Rechtsstreit betrifft hingegen —für das FG klar erkennbar— die Rechtmäßigkeit einer vom FA vorgenommenen punktuellen Änderung der Besteuerungsgrundlagen (Hinzuschätzung zu den Erlösen und zum Gewinn). S hatte in dem Umfang eine Beschwer dargelegt und eine teilweise Klagebegründung abgegeben, wie dies ihm bzw. P angesichts des ihm zunächst noch nicht eingeräumten Zugriffs auf die beschlagnahmten Unterlagen möglich war.

bb) Im Übrigen war der Rechtsstreit für die vom FG getroffene Unzulässigkeitsentscheidung noch nicht entscheidungsreif.

P hatte dem FG substantiiert dargelegt, dass er die Kopien der umfangreichen beschlagnahmten Unterlagen aufgrund der Überlastung des FA und der Steuerfahndung —also ohne eigenes Verschulden— erst unmittelbar vor dem Termin (bzw. teilweise sogar erst am Terminstag selbst) erhalten hatte. Ferner hatte er nachvollziehbar dargelegt, dass er erst Mitte 2016 die Betreuung des Mandats übernommen hatte und daher die Gewinnermittlungsunterlagen und Belege des S nicht kannte, zur Erstellung einer sachgerechten Klagebegründung aber zwingend auf die Kenntnis dieser Unterlagen angewiesen war. Angesichts der Bedeutung dieser Unterlagen für die Höhe der Schätzung war die fehlende Entscheidungsreife des Rechtsstreits für das FG offensichtlich erkennbar.

Wenn das FG Zweifel an der Darstellung des P zu dessen steten Bemühungen um Erhalt der Kopien gehabt hätte, hätte es sich bei der von P namentlich bezeichneten Mitarbeiterin der Steuerfahndung erkundigen können und müssen, ob das Vorbringen des P zu den der Finanzverwaltung zuzurechnenden Verzögerungen bei der Anfertigung der zur Erstellung der weiteren Klagebegründung erforderlichen Kopien zutrifft.

c) Darüber hinaus hat das FG die Auffassung vertreten, die Klage sei auch deshalb unzulässig, weil S die ihm nach § 79b Abs. 1 FGO gesetzte Frist nicht eingehalten habe. Auch dies erweist sich als unzutreffend. Zum einen war die Fristsetzung rechtswidrig (dazu unten aa), zum anderen lagen die Voraussetzungen für eine Zurückweisung der Unterlagen gemäß § 79b Abs. 3 FGO nicht vor (unten bb).

aa) Die Fristsetzung war formell und materiell rechtswidrig.

(1) In formeller Hinsicht erfordert eine wirksame Fristsetzung u.a. die vollständige Unterschrift unter die entsprechende Verfügung; ein bloßes Namenskürzel (Paraphe) reicht nicht aus (ständige höchstrichterliche Rechtsprechung; vgl. aus jüngerer Zeit nur BFH-Beschluss vom 09.07.2018 – VI B 113/17, BFH/NV 2018, 1153 , Rz 6, m.w.N.). Vorliegend hat die Berichterstatterin unter die Verfügung jedoch nur ein Namenskürzel gesetzt.

(2) In materiell-rechtlicher Hinsicht hätte das FG im damaligen Verfahrensstadium noch keine Ausschlussfrist setzen dürfen, weil es P seinerzeit objektiv unmöglich war, die Gewinnermittlungsunterlagen einzusehen bzw. später —nach Ermöglichung der Einsichtnahme— Kopien der Unterlagen zu erhalten. Das FG hätte unter diesen Umständen abwarten müssen, bis die Steuerfahndung die Kopien der Unterlagen übersendet. Zur Förderung des Verfahrens hätte es allenfalls selbst bei der Steuerfahndung auf eine Beschleunigung der Anfertigung und Übermittlung der Kopien hinwirken können. Die Setzung einer Ausschlussfrist gegen einen Beteiligten, der ohne eigenes Verschulden noch nicht über die zur weiteren Klagebegründung erforderlichen Unterlagen verfügt, ist angesichts des Verlusts grundlegender prozessualer Rechte, der mit einem ergebnislosen Fristablauf verbunden sein kann (vgl. Senatsurteil vom 19.10.2011 – X R 65/09, BFHE 235, 304 , BStBl II 2012, 345 , Rz 111) weder ermessensgerecht noch überhaupt geeignet.

bb) Darüber hinaus lagen —entgegen der Auffassung des FG— im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch die Voraussetzungen des § 79b Abs. 3 FGO für eine Zurückweisung von Vorbringen oder Unterlagen nicht vor.

Nach dieser Vorschrift kann das Gericht Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf einer nach § 79b Abs. 1 oder 2 FGO gesetzten Frist vorgebracht werden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden, wenn ihre Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde, der Beteiligte die Verspätung nicht genügend entschuldigt und er über die Folgen einer Fristversäumnis belehrt worden ist.

Das FG hat zwar ausgeführt, die Erledigung des Rechtsstreits würde sich bei Zulassung der Unterlagen verzögern. Es hat sich aber nicht mit der weiteren —kumulativ zu erfüllenden— Voraussetzung des § 79b Abs. 3 FGO auseinandergesetzt, wonach eine Präklusion bei einer genügenden Entschuldigung der Verspätung nicht in Betracht kommt. Hier hätte das FG angesichts der von S kontinuierlich während des gesamten Klageverfahrens übermittelten Informationen über die Schwierigkeiten, von der Steuerfahndung zunächst Einsicht in die Unterlagen und anschließend entsprechende Kopien zu erhalten, prüfen müssen, inwieweit S schuldlos an der Einhaltung der gesetzten Frist verhindert war, weil die Steuerfahndung die notwendigen Kopien im Zeitpunkt des Ablaufs der Ausschlussfrist noch gar nicht herausgegeben hatte.

Zwar trifft es zu, dass es Aufgabe des S —und nicht des FG— ist, seine eigenen Gewinnermittlungsunterlagen (erneut) aufzubereiten. Hierfür hätte das FG ihm aber einen angemessenen Zeitraum nach dem Erhalt der Kopien einräumen müssen.

2. Auch hinsichtlich der Hilfsbegründung des FG-Urteils liegen die in der Beschwerdebegründung gerügten Verfahrensmängel vor.

a) Der Beschwerdeführer rügt zu Recht, das FG habe den Anspruch des S auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Wie sich aus den obigen Darlegungen (zu 1.b und c) ergibt, war der Rechtsstreit im Zeitpunkt der Urteilsfällung erkennbar nicht entscheidungsreif. Das FG hat S aufgrund seiner Verfahrensgestaltung keine Gelegenheit gegeben, seine Gewinnermittlungsunterlagen erneut aufzubereiten und auf dieser Grundlage zur Höhe der Schätzung vorzutragen.

Soweit das FA in seiner Beschwerdeerwiderung behauptet, S sei im Einspruchsverfahren mehrfach Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden, lässt sich dies aus den dem Senat vorliegenden Akten nicht ersehen. Das FA hat im Beschwerdeverfahren —was aber erforderlich gewesen wäre, um dem Vorbringen des Beschwerdeführers entgegenzutreten— nicht konkret ausgeführt, an welchen Tagen bzw. mit welchen Schriftsätzen S in dem —seitens des FA sehr zügig abgeschlossenen— Einspruchsverfahren solche Gelegenheiten eingeräumt worden sein sollen.

b) Auch die vom Beschwerdeführer erhobene Rüge einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht greift durch. Zu Recht trägt die Beschwerde vor, das FG habe keinerlei Sachaufklärungsmaßnahmen vorgenommen, obwohl sich ihm angesichts der erheblichen Höhe der Schätzung hätte aufdrängen müssen, diese auf ihre Plausibilität zu überprüfen. Jede Schätzung muss in sich schlüssig, wirtschaftlich vernünftig und möglich sein; ein entsprechendes tatrichterliches Urteil muss Ausführungen zum Vorliegen dieser Voraussetzungen enthalten und die hierfür geltenden Begründungsanforderungen erfüllen (BFH-Urteil vom 24.06.1997 – VIII R 9/96, BFHE 183, 358 , BStBl II 1998, 51 , unter 3.). Aufgrund der unterbliebenen Sachaufklärung zu diesen Fragen fehlt es hieran im angefochtenen Urteil völlig.

3. Die weitere Rüge, das FG habe den Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes —GG—) verletzt, indem die mit Schriftsatz vom 14.11.2017 abgelehnten Richter entgegen § 45 Abs. 1 der Zivilprozessordnung ( ZPO ) i.V.m. § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO selbst über den Ablehnungsantrag entschieden haben, ist ebenfalls begründet.

a) Die abgelehnten Richter hätten über den Ablehnungsantrag nicht selbst entscheiden dürfen. Zwar hat das FG für die von ihm angenommene Unzulässigkeit dieses Ablehnungsantrags gleich drei selbständige Gründe angeführt. Keiner dieser Gründe lag jedoch tatsächlich vor.

aa) Kern der vom FG gegebenen Begründung ist, dass der Ablehnungsantrag unzulässig sei, weil er sich gegen den Senat in seiner Gesamtheit richte. Dies trifft nicht zu.

(1) Zwar ist es im Allgemeinen unzulässig, pauschal einen ganzen Spruchkörper abzulehnen, weil ein Ablehnungsgesuch sich grundsätzlich auf bestimmte Richter beziehen muss. Dies gilt jedoch nicht, wenn die Mitglieder eines Spruchkörpers im Hinblick auf konkrete Anhaltspunkte in einer Kollegialentscheidung abgelehnt werden, weil der Betroffene wegen des Beratungsgeheimnisses nicht wissen kann, welcher Richter die Entscheidung mitgetragen hat. In solchen Fällen liegt ein Missbrauch des Ablehnungsrechts nur dann vor, wenn das Gesuch gar nicht oder ausschließlich mit Umständen begründet wird, die unter keinem denkbaren Gesichtspunkt eine Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen können (ausführlich zum Ganzen Senatsbeschluss vom 16.10.2019 – X B 99/19, unter II.1.a, m.w.N.).

Dies ist nur dann der Fall, wenn der Ablehnungsantrag sich bereits ohne jedes Eingehen auf den Verfahrensgegenstand als unzulässig dargestellt hätte. Ist hingegen ein —wenn auch nur geringfügiges— Eingehen auf den Verfahrensgegenstand erforderlich, scheidet eine Verwerfung des Ablehnungsantrags als unzulässig aus. Denn der abgelehnte Richter darf sich über eine bloße formale Prüfung des Ablehnungsantrags hinaus nicht durch Mitwirkung an einer näheren inhaltlichen Prüfung der Ablehnungsgründe entgegen § 45 Abs. 1 ZPO , Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zum Richter in eigener Sache machen (ausführlich zum Ganzen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts —BVerfG— vom 20.07.2007 – 1 BvR 2228/06, Neue Juristische Wochenschrift —NJW— 2007, 3771 , unter II.2.a, ebenfalls zu einem Fall, in dem ein gesamter Senat abgelehnt worden war).

(2) Vorliegend waren die Voraussetzungen, unter denen die abgelehnten Richter ausnahmsweise entgegen der Anordnung in § 45 Abs. 1 ZPO selbst über das Ablehnungsgesuch entscheiden dürfen, nicht erfüllt. S hatte sein Ablehnungsgesuch nicht ausschließlich mit Umständen begründet, die unter keinem denkbaren Gesichtspunkt —d.h. ohne jede Befassung mit der Sache als solcher— eine Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen können.

Im Gegenteil lagen die Tatsachen, auf die S in seinem Antrag vom 14.11.2017 die Besorgnis der Befangenheit gestützt hat, objektiv vor und waren zudem grundsätzlich nicht ungeeignet, auf eine Besorgnis der Befangenheit hinzudeuten. Daher hätte sich das FG —in Gestalt des Vertretersenats— inhaltlich mit dem folgenden Vorbringen des S auseinandersetzen müssen: Das FG habe in verfahrenswidriger Weise versucht, eine Entscheidung herbeizuführen, obwohl der Rechtsstreit nicht entscheidungsreif war. Das Setzen der Frist nach § 79b Abs. 1 FGO sei nicht sachgerecht gewesen; auf die mehrfachen von S —rechtzeitig und begründet— gestellten Anträge auf Verlängerung der Ausschlussfrist habe das FG nicht reagiert. Im vorangegangenen Beschluss der Aussetzung der Vollziehung habe das —mit denselben Berufsrichtern besetzte— FG ohne jede Begründung ausgeführt, die Schätzung hätte noch höher ausfallen können.

bb) Zusätzlich hat das FG ausgeführt, der Ablehnungsantrag sei wegen Rechtsmissbrauchs unzulässig, weil er ersichtlich nur dazu gedient habe, die Durchführung der mündlichen Verhandlung zu verhindern.

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Ablehnungsanträge stets dem Ziel dienen, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Richtern, bei denen eine Besorgnis der Befangenheit besteht, zu verhindern. Allein der Umstand, dass dieser Zweck mit einem Ablehnungsantrag verfolgt wird, kann daher nicht zu seiner Unzulässigkeit führen. Hinzu kommt im Streitfall, dass der Rechtsstreit seinerzeit eindeutig —und für das FG erkennbar— nicht entscheidungsreif war, so dass es für das FG objektiv keinen Grund für die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung gab.

cc) Schließlich hat das FG die Auffassung vertreten, S habe gemäß § 43 ZPO sein Ablehnungsrecht verloren, weil er sich in die Verhandlung zur Sache eingelassen und Anträge gestellt habe.

§ 43 ZPO präkludiert nach seinem klaren Wortlaut indes nur solche Ablehnungsanträge, die gestellt werden, nachdem sich ein Beteiligter in eine Verhandlung eingelassen oder Anträge gestellt hat, ohne zuvor den ihm bereits bekannten Ablehnungsgrund geltend zu machen. Hier hatte S den Ablehnungsantrag aber bereits einen Tag vor der mündlichen Verhandlung gestellt.

Zudem ist aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung klar ersichtlich, dass zunächst das FG die Ablehnungsanträge verworfen hat und S sich erst danach zur Sache eingelassen hat.

b) Der Besetzungsmangel der Entscheidung über den Ablehnungsantrag schlägt auf die Endentscheidung durch.

Nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG ist in Fällen unzulässiger Selbstentscheidung über ein Ablehnungsgesuch stets davon auszugehen, dass auch die dem Ablehnungsgesuch folgenden Sachentscheidungen mit dem Makel des Verstoßes gegen den gesetzlichen Richter behaftet sind. Denn auch wenn die Zurückweisung eines Ablehnungsgesuchs nach der maßgeblichen Prozessordnung (hier § 128 Abs. 2 FGO ) unanfechtbar ist und bisher nicht feststeht, dass bei einem der abgelehnten Richter tatsächlich die Besorgnis der Befangenheit gegeben war, folgt aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zugleich, dass niemand vor einem Richter stehen muss, über dessen Ablehnung unter Verstoß gegen die Gewährleistung des gesetzlichen Richters entschieden worden ist (ausführlich BVerfG-Beschluss vom 11.03.2013 – 1 BvR 2853/11, NJW 2013, 1665 , Rz 38 ff., sowie Senatsbeschluss vom 16.10.2019 – X B 99/19, unter II.1.b).

c) Da der Ablehnungsantrag vom FG bisher nicht ordnungsgemäß behandelt worden ist, wird über ihn noch in dem gesetzlich hierfür vorgesehenen Verfahren zu entscheiden sein.

4. Der Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Für das weitere Verfahren weist der Senat —ohne Bindungswirkung für das FG— darauf hin, dass S den Zugang der Gewinnfeststellungsbescheide für das Bistro bestritten und damit deren Wirksamkeit in Abrede gestellt hatte. Vor diesem Hintergrund wird das FG sich im zweiten Rechtsgang —anders als bisher— jedenfalls nicht ohne inhaltliche Befassung mit dem Bestreiten des Zugangs auf die vermeintliche Bestandskraft der Grundlagenbescheide berufen können.

5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO .

6. Von einer weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ab.

Vorinstanz: FG Berlin-Brandenburg, vom 15.11.2017 - Vorinstanzaktenzeichen 11 K 11164/17
Fundstellen
AO-StB 2020, 220
BFH/NV 2020, 769